lautstark. 06.12.2021

Religion: Ein Schulfach im Wandel

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Religionsunterricht verändert sich

Religion, Ethik, Islamkunde: Mit immer mehr Glaubensgemeinschaften in Deutschland und zugleich immer mehr konfessionsfreien Menschen hat sich auch der Unterricht an Schulen verändert – und wird sich weiter wandeln.

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  • Ausgabe: lautstark. 07/2021 | Bildung, Religion, Politik: Eine Frage des Glaubens?
  • Autor*in: Nadine Emmerich
  • Funktion: freie Journalistin
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Immer weniger Schüler*innen besuchen laut einer bundesweiten Umfrage des Evangelischen Pressedienstes (epd) den evangelischen oder katholischen Religionsunterricht. In Nordrhein- Westfalen nahmen demnach im Schuljahr 2019/2020 mehr als ein Viertel (26,2 Prozent) der Mädchen und Jungen am evangelischen oder evangelisch konfessionell-kooperativen Religionsunterricht teil, ein gutes Drittel (34 Prozent) am katholischen oder katholisch konfessionell-kooperativen Religionsunterricht. Zehn Jahre zuvor habe der Anteil noch bei 28,7 beziehungsweise 37,3 Prozent gelegen, meldete der epd im April 2021.

Religionsunterricht: ja oder nein?

Zum einen sind immer mehr Schüler*innen konfessionsfrei, zum anderen kommen sie aus immer mehr Glaubensgemeinschaften. In acht Bundesländern seien Ende 2019 weniger als die Hälfte der Bevölkerung Mitglieder der Amtskirchen gewesen, sagt der Leiter der Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland, Carsten Frerk. In NRW sei der Anteil der katholischen und evangelischen Schüler*innen von 2001 bis 2019 von 77 auf 57 Prozent gesunken, der Anteil der islamischen und konfessionsfreien Schüler*innen zugleich von knapp 19 auf 36 Prozent gestiegen. „Es stellt sich die Frage, ob Religionsunterricht, wie er im Grundgesetz verankert ist, noch zeitgemäß ist.“

Die evangelische Religionspädagogin Mirjam Zimmermann, Professorin an der Universität Siegen, beantwortet die Frage nach der Notwendigkeit des Religionsunterrichts naturgemäß mit Ja. „Kinder haben ein Recht auf Religion und religiöse Bildung, das in Familien oft nicht abgedeckt wird“, sagt sie. Die Heranwachsenden hätten theologische Fragen und müssten in diesem Teil ihrer Identitätsentwicklung abgeholt werden. Wissenschaftlichen Beobachtungen zufolge könne religiöse Erziehung auch die Resilienz fördern. Zudem sei christliches Grundwissen erforderlich, um Kunst und Kultur zu verstehen. Kaum ein anderes Fach leite darüber hinaus so sehr zu gesellschaftlich-kritischer Reflexion an wie der Religionsunterricht. Und schließlich müssten auch Fragen nach dem Woher, Wohin und Wozu des menschlichen Lebens in der Schule ihren Platz haben.

Carsten Frerk sieht das anders: „Wir brauchen keinen Religionsunterricht. Ob jemand religiös ist oder nicht, ist eine private Entscheidung, das muss auch für Schule gelten.“ Der Autor kirchenkritischer Werke verweist auf eine Umfrage des Meinungsforschungsinstitutes YouGov aus dem Jahr 2016, der zufolge 69 Prozent der Deutschen statt Religionsunterricht einen gemeinsamen Werteunterricht wünschten. Er plädiert für das Berliner Modell: In der Hauptstadt ist die Teilnahme am Religions- und Weltanschauungsunterricht freiwillig. Für die Klassen 7 bis 10 ist Ethik seit dem Schuljahr 2006/2007 ordentliches Lehrfach, in dem es unter anderem um philosophische und moralische Fragen geht.

Fach mit komplizierter Organisation

Auch in anderen Ländern gibt es eigene Regelungen, etwa den als Hamburger Modell bekannten interreligiösen Religionsunterricht oder das Fach Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde (LER) in Brandenburg. In Niedersachsen werde diskutiert, ob und wie christlicher Religionsunterricht (CRU) den klassisch-konfessionellen ablösen könne, sagt Mirjam Zimmermann. Es gebe viele nicht getaufte Schüler*innen, deren Eltern sich dennoch eine christliche Bildung ihrer Kinder wünschten.

Insgesamt ist Religion mit Blick auf seine Organisation das wohl komplizierteste Fach geworden. In NRW wird Religionsunterricht in acht Bekenntnissen angeboten: evangelisch, katholisch, syrisch-orthodox, orthodox, jüdisch, islamisch, im Rahmen eines Schulversuchs außerdem alevitisch nach den Grundsätzen der Mennonitischen Brüdergemeinden im Land. Der jeweilige Unterricht wird in Abstimmung mit der Kirche beziehungsweise Religionsgemeinschaft und von Lehrer*innen oder kirchlichen Lehrkräften erteilt. Die Aufsicht liegt beim Schulministerium und der Schulaufsicht sowie bei Kirchen beziehungsweise Religionsgemeinschaften.

Steigende Nachfrage für konfessionell-kooperativen Religionsunterricht

Zudem gibt es seit dem Schuljahr 2018/2019 konfessionell-kooperativen Religionsunterricht (kokoRU). Denn an vielen Schulen wird die Mindestanzahl der Schüler*innen für die Einrichtung eines konfessionellen Religionsunterrichts, die in NRW bei zwölf liegt, nicht mehr erreicht. Ein Vorteil der gemischt-konfessionellen Lerngruppen ist: Religiöse Vielfalt ist automatisch Teil des Unterrichts. Laut Schulministerium steigt die Nachfrage. Zum Start boten 184 Schulen konfessionell-kooperativen Religionsunterricht an, ein Schuljahr später waren es mit 356 fast doppelt so viele.

Mirjam Zimmermann untersuchte in einer Studie erste Erfahrungen mit dem kokoRU und bilanziert: Grundsätzlich werde das Projekt von allen Beteiligten als sehr positiv evaluiert. Die Differenzen zwischen den Konfessionen werden kleiner wahrgenommen als die Gemeinsamkeiten, die Klassengemeinschaft könne teils weitesgehend beibehalten werden. Der kokoRU beende zudem den „Wildwuchs“: Religionsunterricht im Klassenverband gibt es vielerorts schon längst – aber ohne rechtliche Grundlage und einen mit den Kirchen abgestimmten Lehrplan.

Die an der Studie teilnehmenden Lehrkräfte wurden gefragt, welche Form des Religionsunterrichts sie bevorzugten. 81 Prozent wählten den kokoRU auf Platz 1 beziehungsweise 2, mit Abstand dahinter landete der interreligiöse Religionsunterricht (18 Prozent), der alle religiös gebundenen Schüler*innen einer Klasse umfasst. Es folgten der konfessionelle Religionsunterricht (12 Prozent) und ein religionskundlicher Unterricht (10 Prozent). Bei den Eltern kamen die beiden letztgenannten Unterrichtsformen mit 51 Prozent auf Platz 1 und 2, Schulleitungen bevorzugten mit 72 Prozent und Schüler*innen mit 54 Prozent den Religionsunterricht im Klassenverband. „Die Diskussion über die Öffnung hinsichtlich der Konfessionen und Religionen ist noch nicht zu Ende“, prognostiziert die Expertin.

In einer früheren Studie untersuchte sie, warum sich in NRW so viele Schüler*innen vom Religionsunterricht abmeldeten. Es stellte sich heraus, dass diese das Gefühl hatten, die Themen hätten nichts mit ihrem Leben zu tun. „Es liegt also in der Verantwortung der Lehrkraft, theologische Inhalte mit der Realität der Kinder und Jugendlichen in Verbindung zu bringen.“

Sie selbst ist dem Konzept des Theologisierens mit Kindern und Jugendlichen verpflichtet. Dabei arbeitet sie gern mit Kinder- und Jugendliteratur, konkret mit Geschichten, aus denen heraus sich religiöse Fragen stellen – etwa Bücher über Krankheit oder sich radikalisierende Jugendliche. Wichtig ist der Fachdidaktikerin zufolge dabei immer, Positionalität mit Reflexion zu verbinden: „Ich stehe hier als evangelische Christin – wir bringen aber auch andere Positionen ein, und wir reden darüber.“

Hindernisse bei Ein- und Durchführung von Ethik und Islamkunde in NRW

Darüber hinaus wurde in NRW mit dem 2020 vorgestellten Masterplan Grundschule die Einführung des Fachs Ethik geplant: Konfessionslose Schüler*innen, die keinen Religionsunterricht besuchen, sollten ab dem Schuljahr 2021/2022 am Ethikunterricht teilnehmen. Die GEW NRW begrüßt das neue Fach zwar, forderte jedoch wegen der Pandemiesituation und des Lehrkräftemangels gemeinsam mit dem Verband Bildung und Erziehung (VBE) und dem Grundschulverband (GSV) per Petition eine Verschiebung aller geplanten neuen Kernlehrpläne für die Primarstufe um ein Jahr. „Die Arbeitsbelastung an Grundschulen ist derzeit schon ohne ein neues Fach immens hoch“, betont Frauke Rütter, Referentin für den Schulbereich in der GEW NRW. Das Ministerium für Schule und Bildung (MSB) setzte die neuen Lehrpläne inzwischen zwar in Kraft, datierte ihre Umsetzung aber auf das Schuljahr 2022/2023.

In einer Stellungnahme bewerteten die GEW und der DGB NRW schließlich den Lehrplan Ethik für Grundschulen überwiegend positiv. Sie halten aber eine wissenschaftlich begleitete Erprobung des Faches vor einer flächendeckenden Einführung für sinnvoll. Zudem stelle sich die Frage, woher angesichts des Personalmangels die Lehrkräfte für den Ethikunterricht kommen sollten, so Frauke Rütter.

Ähnlich sei es laut der GEW-Expertin mit dem Islamischen Religionsunterricht (IRU). Zwar würden seit dem Wintersemester 2012/2013 an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster Lehrkräfte für das Fach ausgebildet. Die Kapazitäten reichten aber angesichts des steigenden Bedarfs vermutlich nicht aus. Im Schuljahr 2020/2021 nahmen rund 21.000 Schüler*innen am IRU teil, 189 Lehrkräfte hatten eine Lehrerlaubnis.

Die GEW hatte die Einführung des IRU immer befürwortet, die Anfänge waren jedoch kompliziert: Da es im Islam nicht wie in der evangelischen oder katholischen Kirche eine eindeutige Vertretung der Religionsgemeinschaft gibt, war es schwierig, Lehrpläne zu erarbeiten und Lehrerlaubnisse zu erteilen. Seit Mai 2021 gibt es eine neue Kommission, die gemeinsam mit dem Land den Unterricht gestaltet. Ihr gehören sechs islamische Organisationen an, die laut Prüfung die Voraussetzungen wie Unabhängigkeit vom Staat erfüllen. Vertreten ist auch die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion (DITIB), der immer wieder Nähe zur türkischen Regierung vorgeworfen wird. Die Teilnahme von DITIB kann bei Vertragsverstößen indes beendet werden. Frauke Rütter betont: „Ich gehe davon aus, dass das MSB seine Verantwortung wahrnimmt und das regelmäßig genau überprüft.“