lautstark. 06.12.2021

Kirche heute: Wachstumsorte für Menschlichkeit

Friedenspolitik

Warum wir Kirche heute brauchen

Die Corona-Pandemie hat den Kirchen deutlich gezeigt, dass sie in Politik und Gesellschaft nicht mehr unbedingt als systemrelevant angesehen werden. Bau- und Möbelmärkte durften öffnen, Kirchen blieben geschlossen. Öffentliche Proteste dagegen gab es nicht. Können wir auch in Zukunft auf die Kirche verzichten?

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  • Ausgabe: lautstark. 07/2021 | Bildung, Religion, Politik: Eine Frage des Glaubens?
  • Autor*in: Hans-Martin Lübking
  • Funktion: Pfarrer und Religionspädagoge
Min.

Weltweit ist das Christentum die am stärksten wachsende Religion. In Deutschland sieht es aber anders aus. Nach einer Prognose des Freiburger Instituts Forschungszentrum Generationenverträge werden sich die Mitgliederzahlen der beiden großen Volkskirchen bis 2060 halbieren. Die Zahl der evangelischen Christ*innen wird demnach auf etwa 10,5 Millionen, die Zahl der katholischen Christ*innen auf etwa 11,5 Millionen sinken.

Trend zur Entsolidarisierung erreicht die Kirchen

Hauptgründe sind der demografische Wandel – es gibt fast doppelt so viele Todesfälle wie Taufen – und die anhaltend hohe Zahl der Kirchenaustritte. Im Jahr 2020 sind 440.000 Menschen aus der Kirche ausgetreten. Finanzielle Gründe spielen dabei eine große. Rolle, aber es geht um mehr: Menschen verlassen die Kirchen, weil sie mit dem Glauben nichts mehr anfangen können, weil ihnen die Kirchen gleichgültig geworden sind, weil Religion, wie Umfragen zeigen, zu einem unwichtigen Lebensbereich geworden ist. Je reicher und pluraler eine Gesellschaft ist, desto mehr Alternativen gibt es zu dem, was Kirche tut.

Religionssoziologische Studien zeigen, dass die meisten Ausgetretenen die Kirchen nicht verlassen, weil sie mit der Arbeit der Kirchen unzufrieden sind. Eine Ausnahme bilden die Missbrauchsskandale in der katholischen Kirche. Meist aber kennen die Austretenden die konkrete Arbeit der Kirchen gar nicht. In einem gewissen Widerspruch dazu möchte eine Mehrheit aber durchaus, dass es weiterhin Kirchen gibt. Das diakonische Engagement und die Bildungsarbeit der Kirchen werden hoch geschätzt, und 75 Prozent der Westdeutschen sagen, dass das Christentum das Fundament unserer Kultur darstellt. Aber mit der eigenen Lebensführung hat das nichts zu tun. Der Religionssoziologe Detlef Pollack folgert: „Kirche kann machen, was sie will, sie erreicht die Menschen nicht mehr.“ Zweifellos ist die Kirche damit ebenso von den Entsolidarisierungstendenzen betroffen wie Gewerkschaften und Parteien.

Wenn die Kirchen gehen, verliert die Gesellschaft

Noch gehören rund 51 Prozent der Bevölkerung in Deutschland den beiden großen Kirchen an, aber in den nächsten Jahrzehnten werden die Christ*innen hierzulande zur Minderheit werden. Viele Menschen werden dann nicht mehr wissen, was es mit den Zehn Geboten auf sich hat und warum Ostern und Weihnachten gefeiert werden. Viele Kirchen werden umgewidmet oder abgerissen werden, und an die Stelle von Caritas und Diakonie werden immer mehr private Unternehmen treten. Noch sind die Kirchen die größten Träger freier Bildungseinrichtungen in Deutschland, noch unterhalten sie mehr als die Hälfte aller Kindertagesstätten, noch arbeiten fast zwei Millionen Menschen haupt- und ehrenamtlich in Diakonie und Caritas, noch setzen die Kirchen etwa 20 Prozent ihrer Finanzen für kulturelle Tätigkeiten ein, noch gibt es Seelsorger*innen in Krankenhäusern und Altenheimen, im Justizvollzug und bei der Bundeswehr. Noch leisten die Kirchen einen großen Teil der Flüchtlingsarbeit, führen in der Gesellschaft weitgehend den interreligiösen Dialog und organisieren an vielen Orten die Hospizarbeit. Und noch unterhalten die evangelische und die katholische Kirche etwa 50.000 größere oder kleinere Kirchen im Land, von denen drei Viertel unter Denkmalschutz stehen. Ob die Kirchen das in 20 Jahren noch aufrechterhalten können, ist höchst unsicher.

Detlef Pollack spricht von Trauer: „Hier geht etwas verloren, was unserer Gesellschaft guttun würde und was die gesellschaftliche Entwicklung in Westeuropa stark geprägt hat. [...] Es erfüllt mich schon mit Traurigkeit, dass diese große Institution, diese große Tradition von vielen nicht mehr wertgeschätzt wird.“ Seine Wertung wird eindrucksvoll von jüngeren Jugendstudien wie „Jung - aktiv - evangelisch in NRW!“ bestätigt: „Junge Erwachsene mit kirchlichem Hintergrund engagieren sich in allen gesellschaftlichen Bereichen stärker als die Gesamtheit ihrer Altersgruppe.“ Es sind nicht die Dümmsten und Konservativsten, die sich in der Kirche engagieren.

Kontaktflächen zur Gesellschaft vertiefen

Die Zunahme der Konfessionslosigkeit lässt sich kaum umkehren, der Prozess der Entkirchlichung wird sich fortsetzen. Die Kirchen haben es aber selbst in der Hand, ob sie als Minderheit bedeutungslos werden oder für suchende und sozial engagierte Zeitgenoss*innen interessant sind. Für die katholische Kirche sind dafür nach den Missbrauchsskandalen jedoch grundlegende innere Reformen nötig.

In jedem Fall dürfen die Kirchen keine Bunkermentalität entwickeln und sich nicht aus der Mitverantwortung für die Gesellschaft verabschieden. Allein mit der Pflege binnenkirchlicher Aktivitäten werden sie kein zukunftsorientiertes Profil entfalten. Sie müssen eher auf eine Vertiefung ihrer Kontaktflächen zur Gesellschaft Wert legen: in der Bildungsarbeit, Diakonie und Sozialarbeit, Kultur und Musik, Flüchtlingsarbeit und Entwicklungshilfe.Zugleich dürfen die Kirchen dem Mitgliederschwund nicht einfach schulterzuckend zusehen. Nichts ist dringender, als in die religiöse Sozialisation von Kindern zu investieren. Für die Kirchenbindung der allermeisten Menschen sind die Einflüsse in der eigenen Familie entscheidend.

Die Kirchen müssen sich aber auch mehr um ihre Mitglieder kümmern. Die Mitgliederkommunikation in den Kirchen ist miserabel und nicht mehr zeitgemäß! Kein Wunder, dass außer den Hochverbundenen nur wenige wissen, was die Kirchen wirklich tun und was in der Gemeinde läuft. Wertschätzende Beziehungen sind die Basis aller Veränderungsprozesse.

Klares Bekenntnis zum Markenkern

Schließlich müssen sich die Kirchen mehr um ihr öffentliches Image kümmern. Niemand identifiziert sich mit einer Institution, über die negativ gesprochen wird. Etwa 75 Prozent der öffentlichen Berichterstattung über die Kirche beziehen sich auf die katholische: auf Missbrauchsvorwürfe, Verlautbarungen des Papstes und der Bischöfe. Als evangelischer Christ habe ich den Eindruck: Das quietschende Rad kriegt immer das meiste Öl. Vor allem die evangelische Kirche braucht dringend eine bessere und eigenständigere Öffentlichkeitsarbeit.

In ihren Worten und in ihrem Handeln müssen die Kirchen inhaltlich herausfordernder werden: klarer, schneller, überraschender – weniger harmlos und auch mal kreativ provozierend. Dazu gehört auch: Die Kirchen, besonders die evangelische, müssen sich trauen, wieder mehr von Gott zu reden, aber weder dogmatisch abgeklärt noch in spirituellen Floskeln, sondern verständlich, befreiend und lebenszugewandt. Sodass auch moderne Zeitgenoss*innen merken, dass es nicht unvernünftig ist, an Gott zu glauben. Das ist der unverwechselbare Markenkern der Kirchen.

Die Kirchen sind Wachstumsorte für das, worauf eine Gesellschaft angewiesen ist, wenn sie menschlich bleiben will: für Nächstenliebe und Barmherzigkeit, für Ruhe und Erinnerung, für Trost und Dankbarkeit. Die Kirchen sind damit vielleicht nicht systemrelevant, aber sie bleiben existenzrelevant.