lautstark. 06.12.2021

Jüdisches Leben: Vielseitig, bunt und facettenreich

AntidiskriminierungAntirassismus

Jüdischsein heute

Was wir über das Judentum wissen, stammt allzu oft nur aus Geschichtsbüchern. Aber wie sieht jüdisches Leben heute aus? Was bedeutet Jüdischsein für junge Menschen? Wir haben Anna Ben-Shlomo gefragt.

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  • Ausgabe: lautstark. 07/2021 | Bildung, Religion, Politik: Eine Frage des Glaubens?
  • im Interview: Anna Ben-Shlomo
  • Funktion: Antidiskriminierungsberaterin und Referentin mit dem Schwerpunkt Antisemitismus bei ADIRA
  • Interview von: Anja Heifel-Rohden
  • Funktion: Redakteurin im NDS Verlag
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Was bedeutet es speziell für junge Menschen, jüdisch zu sein? Unterscheidet sich ihr Jüdischsein von dem ihrer Eltern- oder Großelterngeneration?

Anna Ben-Shlomo: Ich finde es sehr wichtig, Pauschalisierungen keinen Raum zu geben. Ich möchte und kann auch nicht für alle jungen jüdischen Menschen in Deutschland oder NRW sprechen. Wir alle sind individuell und wir alle haben unsere Geschichte und Perspektive auf das eigene Leben.

Für mich persönlich bedeutet Jüdischsein, Teil einer großen Gemeinschaft zu sein. Jüdische Traditionen haben in meiner Familie lange Zeit keine präsente Rolle eingenommen. Es gab hin und wieder mal Kerzen zünden am Schabbat oder auch Mazza essen an Pessach, und obwohl ich ein Bewusstsein für das Jüdischsein meiner Familie hatte, sah ich damals keinen Zusammenhang zwischen den Bräuchen und dem Judentum. Es wurde kaum bis gar nicht über solche Dinge gesprochen – sie wurden einfach gemacht.

Viele Dinge über das Judentum habe ich nicht zu Hause gelernt, sondern zum Beispiel im jüdischen Jugendzentrum. Außerdem habe ich nach meinem Abitur ein Jahr in Israel verbracht und gesehen, wie vielseitig jüdisches Leben sein kann. Aus diesen und anderen Erfahrungen hat sich für mich ein ganz eigenes Judentum entwickelt.

Ich lebe mein persönliches Judentum sehr offen aus. Jüdische Traditionen sind Teil meines Lebens. Gleichzeitig ist es mir wichtig, selbstbewusst über mein persönliches Leben als Jüdin und in Deutschland aufgewachsene Migrantin zu sprechen, damit Menschen um mich herum verstehen: Mein Leben ist so gewöhnlich und unspektakulär wie deins. Deswegen engagiere ich mich zum Beispiel im Begegnungsprojekt „Meet a Jew“.

Welche Rolle spielen Diskriminierung und Verfolgung für die jüdische Identität? Und wie sehr bestimmen Antisemitismus-Erfahrungen den Alltag jüdischer Menschen in Deutschland?

Anna Ben-Shlomo: In meinem Leben nehmen Diskriminierungen eine präsente Rolle ein. Seit ich in Deutschland lebe, werde ich ständig aufgrund meines Aussehens als Migrantin gelesen. Es spielt keine Rolle, wie lange ich hier schon lebe, dass ich das Abitur und meinen Bachelor hier gemacht habe oder dass ich mich ehrenamtlich engagiere. Immer wieder kommt die Frage: „Wo kommst du her?“ Oder die Feststellung: „Du siehst nicht so aus, als ob du von hier bist.“ Mittlerweile arbeite ich als Antidiskriminierungsberaterin und Referentin mit dem Schwerpunkt Antisemitismus bei „ADIRA“ und beschäftige mich mit Diskriminierungen aus einer professionellen Perspektive.

Hinzu kommt natürlich das Thema Antisemitismus. Für viele Jüdinnen und Juden ist das ein alltagsprägendes Phänomen. Alle haben aber einen unterschiedlichen Umgang mit diesem Thema. Antisemitismus bestimmt nicht meinen Alltag. Ich wache morgens auf und denke nicht sofort an Antisemitismus, sondern an den leckeren und nötigen Kaffee, den ich gleich trinken werde. Aber vielleicht hatte ich auch einfach bisher Glück, dass meine Erfahrungen mich nicht dazu gebracht haben, meinen Alltag vom Antisemitismus bestimmen zu lassen.

Wenn Schüler*innen sich heute in der Schule mit dem Judentum beschäftigen: Was sollten sie deiner Meinung nach unbedingt erfahren?

Anna Ben-Shlomo: Oftmals verbinden die Menschen das Judentum mit Begriffen wie Vergangenheit, Tod, Shoah oder Leid. Das ist zwar ein schmerzhafter Teil unserer kollektiven jüdischen Geschichte, aber Menschen sollten auch die anderen Seiten des Judentums kennen.

Es gibt nicht das eine Judentum, denn es ist vielseitig, bunt und facettenreich. Es gibt unterschiedliche religiöse Ausrichtungen, diverse Familientraditionen und alle interpretieren den jüdischen Glauben und die jüdische Kultur auf ihre eigene Art und Weise. Wir feiern dieses Jahr 1.700 jüdisches Leben in Deutschland, weil wir schon so lange hier sind und seither schlechte, aber auch sehr gute Zeiten hier erlebt haben.

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