lautstark. 06.12.2021

Durchblick im kirchlichen Arbeitsrecht

Sozial- und ErziehungsdienstMitbestimmungStreikBetriebsrat

Auswirkungen der Sonderrolle für Arbeitnehmer*innen

Für Beschäftigte der beiden christlichen Kirchen und ihrer Wohlfahrtsverbände gelten im Arbeitsrecht zusätzliche kirchliche Regeln. Welche Auswirkungen ergeben sich daraus für die individuellen Rechte der Arbeitnehmenden, die betriebliche Mitbestimmung und den Weg, wie Löhne und Arbeitsbedingungen geregelt werden?

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  • Ausgabe: lautstark. 07/2021 | Bildung, Religion, Politik: Eine Frage des Glaubens?
  • Autor*in: Mario Gembus
  • Funktion: Gewerkschaftssekretär in der ver.di-Bundesverwaltung für Soziale Dienste, Wohlfahrt und Kirchen
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Dürfen kirchliche Arbeitgeber besondere Anforderungen an Beschäftigte stellen?

Kirchliche Einrichtungen dürfen unter anderem nicht mehr pauschal die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Konfession verlangen, wenn sie zum Beispiel jemanden einstellen. Als Religionsgesellschaften können die Kirchen sie zwar grundsätzlich weiterhin verlangen, doch muss diese Anforderung dann wesentlich, rechtmäßig und gerechtfertigt in Bezug auf die konkret auszuübende Tätigkeit sein. Das ist höchstrichterlich festgestellt worden sowie beispielsweise die Unzulässigkeit einer Kündigung in einem katholischen Krankenhaus wegen einer Wiederheirat. Es ist demnach an der jeweiligen beruflichen Tätigkeit zu bewerten und durch staatliche Gerichte überprüfbar, ob besondere Loyalitätsanforderungen zulässig sind. Diese Rechtsprechungen sind wichtige Erfolge für die Rechte von Beschäftigten, dennoch stellen sie Einzelfallentscheidungen dar. Nach wie vor kann beispielsweise ein Kirchenaustritt zu einer außerordentlichen Kündigung führen und im Einzelfall wird zu prüfen sein, ob sie zulässig war. 

Was können Arbeitnehmer*innen tun, wenn sie beispielsweise gekündigt werden, weil sie sich scheiden lassen oder aus der Kirche austreten?

Grundsätzlich gilt: Auch wenn sich die Rechtsprechung zugunsten der Beschäftigten verändert hat, können „Verstöße“ gegen die besonderen Loyalitätspflichten stets zu arbeitsrechtlichen Konsequenzen führen. Es ist im Einzelfall zu prüfen, ob das zulässig ist oder nicht. Diese besonderen Pflichten unterzeichnen alle Beschäftigten mit ihrem Arbeitsvertrag und akzeptieren damit auch das Recht des Arbeitgebers, gegebenenfalls sogar außerordentlich zu kündigen. Beschäftigte sollten sich deshalb rechtlich beraten lassen, wenn bestimmte private Veränderungen zu erwarten oder bereits geschehen sind und der Arbeitgeber arbeitsrechtliche Konsequenzen androht oder vollzieht. Mitglieder können sich bei ihrer Gewerkschaft beraten und auch im Rahmen der Rechtsschutzrichtlinien vertreten lassen, wenn beispielsweise eine Kündigungsschutzklage notwendig werden sollte. Eine Beratung sollte auch in Anspruch genommen werden, wenn sich Beschäftigte bewerben und aufgrund ihrer Konfessionsfreiheit oder „falscher“ Konfession nicht zum Gespräch eingeladen oder abgelehnt werden.

Haben Tarifverträge Geltung für kirchliche Betriebe?

Ja, es gibt Tarifverträge, die für kirchliche Betriebe gelten. Allerdings werden für die meisten kirchlichen Einrichtungen Löhne und Arbeitsbedingungen auf einem kircheneigenen Weg geregelt. Er schließt unter anderem das Streikrecht für die Arbeitnehmer*innen aus, weshalb Gewerkschaften in der Regel daran nicht mitarbeiten. Für kirchliche Beschäftigte kommen in diesem Fall Arbeitsvertragsrichtlinien (AVR) statt Tarifverträge zur Anwendung, wenn und soweit sie im Arbeitsvertrag vereinbart worden sind.

Auch wenn mehrheitlich nicht Tarifverträge, sondern AVR für kirchliche Beschäftigte Anwendung finden, so kommt der kirchliche Weg nicht ohne Tarifverträge aus. Denn die Tarifergebnisse, die im öffentlichen Dienst in zum Teil schwierigen Auseinandersetzungen erstreikt werden mussten, werden letztlich entweder auch im kirchlichen Weg umgesetzt oder bilden die Vergleichsreferenz, auf deren Grundlage die eigenen Bedingungen geregelt werden. Insofern ist es solidarisch und wichtig, dass kirchliche Beschäftigte auch Mitglied der Gewerkschaft sind, selbst wenn noch nicht unmittelbar ein Tarifvertrag für sie gilt.

Dürfen Beschäftigte in kirchlichen Einrichtungen streiken?

Ja, denn die gewerkschaftlichen Rechte gelten grundsätzlich uneingeschränkt auch für Beschäftigte in kirchlichen Einrichtungen. Dazu zählt unter anderem, sich in der Gewerkschaft zu organisieren, andere Kolleg*innen für eine Mitgliedschaft zu werben oder selbst im Betrieb aktiv zu sein. Das ist höchstrichterlich festgestellt worden. Sofern die Gewerkschaft zum Streik aufruft, ist wie in konfessionsfreien Betrieben eine Streikteilnahme möglich und zulässig. Eine Einschränkung des Streikrechts ist nur dann möglicherweise denkbar, wenn Gewerkschaften an der kirchlichen Arbeitsrechtssetzung mitwirken. Freie Gewerkschaften tun das in der Regel nicht. Nur so bleibt die Möglichkeit erhalten, Tarifverhandlungen mit dem Arbeitgeber auf Augenhöhe zu führen.

Was regelt der sogenannte Dritte Weg?

Die Kirchen unterscheiden drei Wege zur Regelung von Arbeitsbedingungen. Der so genannte Erste Weg ist der individuelle, frei verhandelte Abschluss eines Arbeitsvertrags zwischen Arbeitnehmer*in und Arbeitgeber. Arbeitnehmer*innen sind in aller Regel in der schlechteren Verhandlungsposition. Besser ist es, mit dem Arbeitgeber Augenhöhe herzustellen bei den Verhandlungen über Löhne und Arbeitsbedingungen. Das geht am besten, wenn Arbeitnehmer*innen in der Gewerkschaft organisiert sind, weil sie dann kollektiv mit dem Arbeitgeber Tarifverträge verhandeln (Zweiter Weg).

Die Kirchen nehmen für sich in Anspruch, einen so genannten Dritten Weg geschaffen zu haben. Er sieht die Regelung von Lohn- und Arbeitsbedingungen in arbeitsrechtlichen Kommissionen vor. Sie sind paritätisch mit Arbeitnehmer*innen und Arbeitgebern besetzt und schließen per Kirchenrecht den Streik aus. Finden die beiden Seiten keine Einigung, entscheidet eine Zwangsschlichtung über ein Ergebnis. Das Kommissionenmodell sieht die Mitarbeit von Gewerkschaften zwar vor, allerdings ist der kirchlich verordnete Streikverzicht nicht akzeptabel, weshalb sie in der Regel nicht mitwirken. Im Ergebnis dieses Weges entstehen Arbeitsvertragsrichtlinien (AVR), die nicht unmittelbar und zwingend wie ein Tarifvertrag, sondern erst durch die einzelvertragliche Inbezugnahme gelten. Arbeitgeber können also auch im Arbeitsvertrag davon abweichen, dafür gibt es immer wieder Beispiele wie gekürzte Jahressonderzahlungen. Im Grunde ist der kirchliche Weg also eine aufwendig gestaltete Variante des so genannten Ersten Weges.

Warum wird beim kirchlichen Mitbestimmungsrecht von einem Recht zweiter Klasse gesprochen?

Für kirchliche Einrichtungen gelten weder das Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) noch die Personalvertretungsgesetze. Sie sind 1952 bei der Verabschiedung des BetrVG ausgenommen worden. Die Kirchen haben eigene, kirchliche Mitbestimmungsgesetze geschaffen, die dem BetrVG nur strukturell ähnlich sind. Vor allem in Bezug auf das Verfahren sind sie überbürokratisiert, regeln unter anderem schlechtere Durchsetzungsmöglichkeiten bei Regelungsstreitigkeiten zwischen Mitarbeitervertretung und Arbeitgeber und sehen schlechtere Ansprüche für die Interessenvertretungen in Bezug auf notwendige Schulungen und Freistellungen vor. Zudem ist die staatliche Arbeitsgerichtsbarkeit für Mitarbeiter*innenvertretungen nicht zugänglich. Stattdessen müssen sie vor kirchliche Arbeitsgerichte ziehen. Hinzu kommt, dass Gewerkschaften in diesen kirchlichen Mitbestimmungsgesetzen – anders als im BetrVG – keine eigenen Rechte haben. Die Kirchen halten Gewerkschaften gezielt strukturell heraus.

Welche Rolle spielen kirchliche Einrichtungen auf dem Arbeitsmarkt?

Die beiden christlichen Kirchen und ihre Wohlfahrtsunternehmen unter den Dächern der Diakonie oder der Caritas sind nach dem öffentlichen Dienst die größten Arbeitgeber in Deutschland. Sie beschäftigten rund 1,8 Millionen Arbeitnehmer*innen, die weit überwiegend ihre Arbeit im Gesundheits-, Sozial- und Bildungswesen leisten. Für sie gelten im Arbeitsrecht zusätzliche kirchliche Regeln. Ein Arbeitsverhältnis mit einem kirchlichen Träger kann deshalb erhebliche Auswirkungen auf die persönliche Lebensführung von Beschäftigten haben und auch die Einschränkung gewerkschaftlicher Grundrechte bedeuten.  Das ist insbesondere in diakonischen und caritativen Betrieben nicht mehr zeitgemäß. Denn deren Leistungen werden nicht aus Kirchensteuermitteln, sondern unser aller Sozialversicherungsabgaben und staatlichen Steuermitteln finanziert Das betrifft zum Beispiel Krankenhäuser, Altenhilfe, Behindertenhilfe, Jugendhilfe, Kitas und Schulen.

Woher stammt die arbeitsrechtliche Sonderrolle der Kirchen und ihrer Wohlfahrtsunternehmen?

Kirchen sind Religionsgesellschaften und genießen einen Sonderstatus im Grundgesetz, der sich nicht ausschließlich auf das Arbeitsrecht, sondern ihre Rechte als Religionsgesellschaften insgesamt bezieht. So heißt es in Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 3 WRV, dass sie das Recht haben, ihre Angelegenheiten selbst zu ordnen und zu verwalten und zwar in den Schranken des für alle geltenden Rechts. Dieses Recht gibt ihnen die Möglichkeit eigene Regeln zu erlassen. Dazu zählen im Arbeitsrecht zum Beispiel eigene Mitbestimmungsgesetze oder so genannte Arbeitsrechtsregelungsgesetze, die die Grundlage für ihren Weg bilden, Löhne und Arbeitsbedingungen ohne Gewerkschaften und unter Ausschluss des Streikrechts zu regeln. Diese Kirchengesetze dürfen staatliches Recht allerdings nicht aushebeln, deshalb gelten unter anderem gesetzliche Höchstarbeitszeiten, Mindestlöhne oder Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall. auch für kirchlich Beschäftigte. Dazu zählt auch, dass diese oder andere Ansprüche, beispielsweise aus dem Arbeitsvertrag, vor einem Arbeitsgericht einklagbar sind.