lautstark. 06.12.2021

Christlicher Fundamentalismus

Politische BildungFrauen

Erzkonservativ und europaweit vernetzt

Wenn von religiösen Fundamentalist*innen die Rede ist, denken vermutlich die wenigsten an das Christentum. Doch es gibt sie nicht nur in den USA, die Extremkatholischen und Evangelikalen. Auch in Deutschland nehmen sie mit ihrem ultrakonservativen Wertesystem Einfluss auf Politik und Bildung. Soziologe und Publizist Andreas Kemper erklärt die Zusammenhänge.

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  • Ausgabe: lautstark. 07/2021 | Bildung, Religion, Politik: Eine Frage des Glaubens?
  • im Interview: Andreas Kemper
  • Funktion: Soziologe und Autor
  • Interview von: Simone Theyßen-Speich
  • Funktion: Diplom-Journalistin
Min.

Fundamentalismus wird oft in Bezug auf militante Gruppen in islamischen Staaten verwendet. Haben wir in Deutschland ein Problem mit christlichem Fundamentalismus?

Andreas Kemper: Es kommt darauf an, wie man das Wort Problem versteht. Wir haben sicherlich kein Problem mit Terrorismus von christlichen Fundamentalist*innen – anders als teilweise in den USA. Wenn man sich aber anschaut, wie rechtsextreme Terroranschläge von den Täter*innen begründet werden, gibt es da durchaus christliche Bezüge. Das hat nichts mit den aktuellen Landeskirchen zu tun, aber die Begründungen von Terroranschlägen lassen teilweise aufhorchen. Auch europaweit, wenn etwa der Attentäter Anders Behring Breivik sich bei seinen Morden in Oslo und auf der Insel Utøya in Norwegen als Kreuzritter für die christlichen Werte verstanden hat. Aber unterschwellig gibt es auch in Deutschland Probleme, etwa wenn Abtreibungskliniken belagert werden. Und es gibt nach wie vor viel Widerstand gegen emanzipatorischen Fortschritt.

Dann stimmt der Eindruck, dass christliche Fundamentalist*innen in Deutschland weniger offensiv auftreten als etwa in den USA?

Andreas Kemper: Sprengstoffanschläge oder Ähnliches, die es in den USA gibt, haben wir hier nicht. Aber die ideologischen Grundlagen sind die gleichen. Wenn man sich die Sprache anschaut, ist sie teilweise sehr hasserfüllt und fanatisch. Fundamentalist*innen glauben, die Wahrheit gepachtet zu haben. Wer dagegenspricht, ist des Satans.

Hat christlicher Fundamentalismus Einfluss auf unser Bildungssystem?

Andreas Kemper: Ja natürlich! Zum einen gibt es immer noch christlich-fundamentalistische Schulen. Im extremkatholischen Bereich reicht das von der Piusbruderschaft bis zum „Opus Dei“. Es gibt auch evangelikale Schulen, in denen der Bildungsauftrag in der Hand von christlichen Fundamentalist*innen ist. Die gibt es nicht nur in Nordrhein-Westfalen und Deutschland. Das Netzwerk existiert teilweise europaweit. So gibt es etwa in Spanien eine Universität des „Opus Dei“.

Und außerhalb der Schule?

Andreas Kemper: Neben dem direkten Einfluss auf junge Menschen in den Schulen gibt es außerschulische Einmischungsversuche etwa bei Demonstrationen wie der „Demo für alle“ in Stuttgart. Sie hat ihren Ursprung in Frankreich, die Demo richtete sich dort gegen das Adoptionsrecht für Schwule und Lesben – teils ultrakatholisch, teils rechts organisiert. Die Stuttgarter „Demo für alle“ richtete sich beispielsweise auch gegen einen emanzipatorischen Bildungsplan in Baden-Württemberg. Das hat sich tatsächlich ausgewirkt, die politischen Pläne wurden entschärft. Die „Demo für alle“ hat sich dann nach Hessen verlagert, wo in Wiesbaden gegen entsprechende Pläne demonstriert wurde. Die Akteur*innen veranstalten Tagungen und schicken den „Bus der Meinungsfreiheit“ durch Deutschland. Dieser wird mitfinanziert aus Spanien von der rechts-katholischen Stiftung „CitizenGo“. Die Organisation ist gegen die Ehe für alle und für das Verbot von Abtreibungen. Sie ist europaweit vernetzt und finanziert auch in Deutschland entsprechende Tagungen.

Bei welchen Bildungsthemen sind christliche Fundamentalist*innen in der Vergangenheit aufgetreten?

Andreas Kemper: Es gab vor einigen Jahren noch den Versuch, den Biologieunterricht zu beeinflussen. Die damalige hessische Kultusministerin Karin Wolff von der CDU hat sich damals dafür ausgesprochen, die christliche Schöpfungslehre im Biologieunterricht zu behandeln. Sie wollte den Kreationismus gegenüber der Evolutionstheorie nicht benachteiligen, beide Ansätze sollten ihrer Meinung nach gleichberechtigt sein. Diese Vorstöße, wissenschaftliche Erkenntnisse zu missachten, kennt man auch bei den Themen Klimawandel und Corona.

Aktuell gibt es Kampagnen, die Auftritte von „SCHLAU“ zu verhindern, einem Netzwerk von Schwulen und Lesben, die an Schulen aufklären und Bildungs- und Antidiskriminierungsworkshops geben. Ein weiteres Beispiel ist der „Elternverein NRW“, der sich schon in den 1970er-Jahren gegen den weiteren Ausbau der Gesamtschulen ausgesprochen hat. Er hat 2018 eine Konferenz in München veranstaltet, um die Sexualpädagogik der christlichen Fundamentalist*innen zu präsentieren. Der „katholische Adel“ ist in dem Verein stark vertreten. Die Hälfte der Organisationen, die sich gegen Abtreibung wenden, gehört zu diesem Adel, den es offiziell nicht mehr gibt, der aber weiterhin viel Einfluss hat.

Was setzen Sie mit Ihrer Arbeit christlichem Fundamentalismus entgegen? Was kann man tun, wenn Evangelikale private Grundschulen gründen, wenn christliche Freikirchen Träger von Bildungseinrichtungen werden oder Lobbyarbeit gegen Sexualkundeunterricht in Baden-Württemberg stattfindet?

Andreas Kemper: Diese Dinge finden meistens vor Ort statt. Ich selbst bekomme viele Anfragen, um Zusammenhänge zu erklären. Wissen zu vermitteln über die komplexen chritslich fundamentalistischen Netzwerke, über ihre Positionen und ihre politischen Verstrickungen ist eine wichtige Grundlagenarbeit. So können die Akteur*innen vor Ort einschätzen, mit wem sie es zu tun haben. Denn vor Ort treten Gruppen oft radikaler auf, als sie sich offiziell nach außen geben. Da schreiben sie sich vermeintliche Meinungsfreiheit auf die Fahnen.

Wir haben 2017 zusammen mit der „Heinrich-Böll-Stiftung“ ein Wiki zum Netzwerk des Antifeminismus gemacht, also einen enzyklopädischen Internetauftritt. Darin haben wir unter anderem die Vernetzung der Evangelikalen erklärt, aber es gab heftige Angriffe, sodass die „Heinrich-Böll-Stiftung“ den Auftritt schnell aus dem Netz genommen hat. Mittlerweile wissen wir, dass es ein extremistisches europäisches Netzwerk des Antifeminismus gibt: die „Agenda Europe“. Sie stellt sich unter anderem gegen Abtreibung und versucht Sprache zu verändern, indem sie beispielsweise von Sodomie statt von Homosexualität spricht. Wir sammeln jetzt antifeministische Zitate von Menschen und tragen sie in einem Atlas zusammen, um sie zu veröffentlichen.

Welche Erfolge können schon verzeichnet werden?

Andreas Kemper: Der Feminismus und die Schwulen- und Lesbenbewegung gewinnen seit Jahren an Land. Die Kreationist*innen machen weniger eigene Kampagnen als eher Abwehrkämpfe. Noch vor kurzer Zeit haben diese Leute die „Homo-Heilung“ propagiert, die Homosexualität als „krank“ bezeichnet. Das ist seit einiger Zeit zum Glück verboten. Das sind Kämpfe, die beispielsweise im Europaparlament stattfinden.

Inwieweit steht christlicher Fundamentalismus in Verbindung mit rechtem Gedankengut? Wo gibt es Verbindungen mit der AfD?

Andreas Kemper: Es gibt die Christen in der AfD und den ultrarechten Adelskreis um Beatrix von Storch. Ebenso gibt es Ultrakatholik*innen, die sich gegen den Papst stellen, weil er ihnen nicht katholisch genug ist, und extreme Evangelikale. Die sind alle europaweit vernetzt. Von evangelikalen Gruppierungen in den USA kommen jedes Jahr Millionen nach Europa, um die Bildungsarbeit des christlichen Fundamentalismus zu unterstützen. Auch von oligarchischen Netzwerken aus Russland gibt es solche Unterstützung.

Im „Diskursatlas Antifeminismus“ wollen wir herausarbeiten, mit welcher Sprache sie sprechen, welche Embleme sie verwenden. Faschistische Gruppen sprechen oft dieselbe Sprache wie extremkatholische oder evangelikale Kreise. Es sind immer wieder die gleichen Schlagworte. Da geht es um „Kampf gegen Homo-Lobby“, „Genderwahn“, „Frühsexualisierung“ und den Einsatz für die „Keimzelle Familie“.