lautstark. 01.12.2020

Im Einsatz für Kinderrechte

Soziale ArbeitKinder- und Jugendhilfe

Sozialarbeit im Jugendamt

Vernachlässigung, psychische Misshandlung, sexueller Missbrauch: Wenn Rebecca Schneider* in eine Familie kommt, stehen schwere Vorwürfe im Raum. Die Sozialarbeiterin ist beim Jugendamt einer Ruhrgebietsstadt angestellt. Sie ergründet, wo und wie Eltern das Wohl ihrer Kinder gefährden – und verhilft Jungen und Mädchen zu ihrem Recht auf eine gewaltfreie Erziehung. Gesetze geben ihr dabei Orientierung und Sicherheit, manchmal empfindet sie aber auch Ungerechtigkeit.

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  • Ausgabe: lautstark. 07/2020 | Im Einsatz für Gerechtigkeit
  • Autor*in: Anne Petersohn
  • Funktion: freie Journalistin
Min.

Am Anfang steht ein Hinweis. Nachbarn beschweren sich beim Jugendamt über Geschrei aus der oberen Etage. Oder eine Lehrkraft berichtet von unerklärlichen blauen Flecken. „Ich berate mit dem Team darüber, ob ein Hinweis gewichtig ist, und gehe dann in die Recherche“, sagt Rebecca Schneider. Die 42-Jährige fragt bei der Polizei nach Einsätzen, die auf Probleme hindeuten. Sie besucht die Familie zu Hause, führt Gespräche in der Kita oder Schule. „Es geht darum, nach und nach ein Bild von der Situation zu bekommen – wie bei einem Puzzle. Oft fehlen eindeutige Fakten, mit denen sich beispielsweise die Gewalt an Kindern oder eine Vernachlässigung nachweisen lassen.“

Gesetzlicher Rahmen bringt Sicherheit für die Arbeit

„Unglaublich komplex und herausfordernd“ sei der Weg zu einer fachlichen Einsch.tzung. Findet sich eine Erklärung für die gemeldeten Probleme? Steckt beispielsweise ein Nachbarschaftsstreit hinter den Beschwerden beim Jugendamt, oder die Überforderung eines alleinerziehenden Elternteils? Komm die Familie vielleicht besser zurecht, wenn sie Unterstützung von außen erhält? Oder ist das Kindeswohl gefährdet? Rebecca Schneider sagt: „Ich nehme nicht einfach Kinder aus ihrer Familie. Mit der Zeit entwickelt man ein fachliches Bauchgefühl dafür, was angemessen ist.“ Doch auch gesetzliche Vorgaben geben ihr Sicherheit: „Mir ist bewusst, dass ich nur in einem abgesteckten Rahmen handeln kann. Wenn ich den Entzug der elterlichen Sorge beantrage, kann ich das nur tun, weil ein Kind psychisch oder physisch verletzt wurde oder eine Schädigung droht.“

Über einen solchen Antrag entscheidet ein Familiengericht. Dort berichtet die Sozialarbeiterin, was sie beobachtet hat. „Den Jurist*innen sind Gutachten oft lieber als meine Empfehlungen, auch wenn ich die Familien über Wochen und Monate begleite“, sagt Rebecca Schneider. Trotzdem funktioniere die Zusammenarbeit gut. „Ich bin froh, Entscheidungen nicht alleine treff en zu müssen.“ 

Für Rebecca Schneider ist der Kinderschutz mehr als ein Job. „Mein Herz h.ngt daran.“ Nach Umwegen über Lehramtsstudium und Bürojob kam sie vor neun Jahren zum Jugendamt. „Ich habe im Praktikum gemerkt: Das ist es.“ Inzwischen leitet sie ein Team, hilft Kolleg*innen beim Berufsstart. Außerdem engagiert sie sich in einem Arbeitskreis für den Kinderschutz und sie hat schon Fortbildungen für Erzieher*innen zu diesem Thema durchgeführt. „Mir ist wichtig, dass wir uns weiterentwickeln und aus Fehlern lernen.“

Knappe Ressourcen und hoher bürokratischer Aufwand

Dass Fehler passierten, sei unvermeidbar, nicht zuletzt wegen knapper Ressourcen. „Jede und jeder von uns betreut im Schnitt 80 Familien. Da ist die Arbeit nicht immer so qualitativ leistbar, wie es sein sollte.“ Hinzu kommt der hohe bürokratische Aufwand: Die Sozialarbeiterin muss Rechnungen prüfen oder Bescheide verschicken – „lauter Aufgaben für die wirtschaftliche Abteilung“. Das gehe zulasten der Kinder. „Sie merken, wenn man keine Zeit hat. Es ist schwer, Vertrauen aufzubauen und mit ihnen ins Gespräch zu kommen.“ Vor Gericht hätten dann oft vor allem die Aussagen der Erwachsenen Gewicht.

Genau an dieser Stelle empfindet Rebecca Schneider ihren Job als ungerecht. „Eltern bekommen viele Chancen, und ich wei. als Mutter, dass das gut ist. Der Staat sollte nicht leichtfertig die Erziehung übernehmen können.“ Und doch gibt es F.lle, die sie wütend machen. „Wenn eine Mutter ihren Sohn fast zu Tode prügelt und dann nicht oder nur kurz ins Gefängnis muss, finde ich das kaum nachvollziehbar.“

Mehr Zeit für die Arbeit mit den Familien statt neuer Gesetze

Statt neuer Gesetze brauche es Veränderungen auf anderen Ebenen, meint Rebecca Schneider. Was sie sich wünscht? Mehr Selbstvertrauen ihrer Berufsgruppe in die eigene Fachlichkeit. Weniger Bürokratie und somit mehr Zeit für die Arbeit mit den Familien. Und vor allem: einen besseren Blick auf die Kinder. Denn deren Leid lasse sich eben nicht in Fakten messen. „Seelische Verletzungen sieht man vielleicht nicht immer auf Anhieb – aber sie können ein Leben zerstören.“

*Name von der Redaktion geändert