lautstark. 01.12.2020

Hochschulkarriere: Viele Baustellen warten auf Lösungen

Prekäre BeschäftigungHochschullehreWissenschaft und Forschung

Gerechtere Wege in die Wissenschaft

Wer eine Karriere in der Wissenschaft anstrebt, sieht sich mit zahlreichen prekären Beschäftigungsbedingungen konfrontiert. Luzia Vorspel von der Ruhr-Universität Bochum bringt die Ungerechtigkeitenauf den Punkt und fordert Lösungen.

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  • Ausgabe: lautstark. 07/2020 | Im Einsatz für Gerechtigkeit
  • im Interview: Dr. Luzia Vorspel
  • Funktion: Literaturwissenschaftlerin
  • Interview von: Denise Heidenreich
  • Funktion: freie Journalistin
Min.

Wissenschaftliche Laufbahnen sind geprägt von prekären Beschäftigungsbedingungen. Für wie gerecht hältst du die Karrierewege an den Hochschulen NRWs?

Luzia Vorspel: Obwohl Forschung und Lehre gesamtgesellschaftliche Aufgaben sind, ist die Möglichkeit der Teilhabe an diesen Aufgaben für große gesellschaftliche Gruppen wie Frauen, Menschen mit Behinderungen, First-Generation-Studierenden und Personen aus Haushalten mit geringem Einkommen begrenzt. Inzwischen weiß man auch, dass die Forschung an den Interessen der Exkludierten vorbeigeht.

Wo siehst du die größten Baustellen, an denen gearbeitet werden müsste? Und mit welchen Lösungen?

Luzia Vorspel: Es gibt einige Stellen, an denen angesetzt werden muss: So sind beispielsweise aktuell etwa 90 Prozent des nichtprofessoralen wissenschaftlichen Personals befristet beschäftigt. Diese Marge ist deutlich zu reduzieren. Es gilt, die circa 45.000 wissenschaftlichen Hilfskraftstellen nach einem Bachelor- oder Masterabschluss zugunsten von tarifgebundenen Wissenschaftler*innenstellen abzuschaffen sowie einen Tarifvertrag für die etwa 400.000 studentischen Beschäftigten zu erkämpfen.

Die etwa 100.000 Lehrbeauftragten sichern an den Universitäten etwa 20 Prozent, an den Fachhochschulen 25 bis 50 Prozent der Lehre. Lehraufträge sollten nur noch an Personen vergeben werden, die ein Einkommen aus einem sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis nachweisen können. An der eigenen Hochschulen sollten Lehraufträge nur dann vergeben werden, wenn gleichzeitig ein Vollzeitarbeitsverhältnis besteht: Das Modell Zwangsteilzeit plus zusätzliche Lehraufträge ist seitens der Hochschulen sehr beliebt, bleibt aber faktisch eine Form von Schwarzarbeit. Denn nur für einen Teil der Arbeit wird in diesem Fall die Sozialversicherung bezahlt.

Wo gibt es weiteres Potenzial für „gerechte“ Änderungen?

Luzia Vorspel: Beim Beamtenstatus. Dieser kann momentan nicht abgeschafft werden, doch sollten wenigstens seine Privilegien gestrichen werden: Das Nettogehalt der Angestellten muss an das der Beamt*innen angepasst werden, und zwar so, dass ein gleiches Rentenniveau erreicht werden kann. Alle Bevölkerungsgruppen müssen sich an der Krankenversicherung im gleichen Maße beteiligen.

Statt für Promotionen und Habilitationen Stipendien zu vergeben, müssen genügend sozialversicherungspflichtige Stellen geschaffen werden. Nach dem Studium, dessen Jahre im Hinblick auf die Rente wenig einbringen, sollten nicht noch drei bis vier weitere Jahre ohne Rentenversicherung an der Hochschule verbracht werden. Zudem gehen viele Hochschulen in letzter Zeit dazu über, Stipendien statt Stellen aus eigenen Mitteln zu schaffen, um die Sozialversicherungskosten zu sparen.Vielen Wissenschaftler*innen wird in Abhängigkeit vom Arbeitsmarkt und vom Geschlecht nur eine Teilzeitstelle angeboten, obwohl sie eine volle Stelle haben wollen.

Und wie sieht es in Sachen Geschlechtergerechtigkeit und Inklusion aus?

Luzia Vorspel: Die Zahlen sprechen für sich: 25 Prozent der Professuren und 40 Prozent der wissenschaftlichen Mitarbeiter*innenstellen werden von Frauen besetzt. Noch deutlicher zeigt sich das bei den Vergütungen: je schlechter das Gehalt, desto höher der Frauenanteil. So ist der Frauenanteil bei den wissenschaftlichen Hilfskräften höher als bei den tarifgebundenen Stellen, hier bei den Zwangsteilzeitstellen höher als bei den Vollzeitstellen. Am niedrigsten ist der Frauenanteil bei den Beamt*innenstellen. Selbstredend sind bei den Assistenzkräften in den Sekretariaten kaum Männer vertreten.

Beschäftigte mit nicht sichtbaren Behinderungen sind wohl beraten, ihre Behinderungen nicht zu melden, so lange sie einen befristeten Vertrag haben. Selbst die vielen aktuellen Sanierungen und Neubauten an nordrheinwestfälischen Hochschulen werden nicht genutzt, um barrierefreie Gebäude zu errichten. Auch sind die wenigsten der Millionen von Webseiten der Hochschulen barrierefrei.

Welche Schritte müssen gegangen werden, um die Entwicklungen zu gerechteren Karrierewegen weiter voranzubringen?

Luzia Vorspel: Wir brauchen eine umfassende Arbeitszeiterfassung entsprechend dem EU-Gerichtsurteil aus dem Jahre 2019, damit die vielen unbezahlten Arbeitsstunden – insbesondere von Teilzeitbeschäftigten – erfasst und reduziert werden. Das würde auch zu höheren Zeitumfängen der Teilzeitbeschäftigten führen, da es für die Hochschulen nicht mehr so attraktiv wäre, mehrere Personen auf einer Stelle zu beschäftigen.

Mit dem Templiner-Manifest, das vor ;zehn Jahren veröffentlicht wurde, wurden die Zustände an den Hochschulen in die Öffentlichkeit getragen. Die Forderungen sind bekannt. Der DGB und die in den Hochschulen organisierenden Einzelgewerkschaften müssen nun den Hochschulbereich als Bereich mit mindestens 800.000 Beschäftigten, von denen die meisten prekär beschäftigt sind, als ihr Aufgabengebiet begreifen.Dafür sind auch Stellen und Gelder für Gewerkschaftssekretär*innen für den Hochschulbereich bereitzustellen, da die ehrenamtliche Arbeit aufgrund der Befristungen noch keine Kontinuität entwickeln kann. In den Tarifauseinandersetzungen und bei den Anhörungen zu Gesetzen sind die Belange der Beschäftigten im Hochschulbereich mitzudenken.

Inwiefern kann der Vertrag über gute Beschäftigungsbedingungen zu mehr Gerechtigkeit bei der Hochschulkarriere führen?

Luzia Vorspel: Papier ist geduldig. Der Vertrag kann nur zu mehr Gerechtigkeit führen, wenn die Hochschulleitungen diesen ernst nehmen. Anders als bei Tarifverträgen muss man sich an die Vereinbarungen nicht halten. Hier gilt es, den Verpflichtungscharakter zu stärken und die Einhaltung zu kontrollieren.