lautstark. 09.12.2022

New Work: Macht euch auf den Weg!

EntlastungWissenschaft und Forschung

Vom Ursprung bis zur heutigen Entwicklung

Was willst du wirklich, wirklich tun? Eine Frage, mit der sich Arbeitnehmende immer häufiger beschäftigen. Sie ist das Fundament der New-Work-Bewegung, wie wir sie heute als Organisationskonzept kennen. Vom Begründer und Philosophen Frithjof Bergmann bis zum aktuellen Wandel hin zu einer (Arbeits-)Kultur, die diesen Namen tatsächlich verdient.

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  • Ausgabe: lautstark. 06/2022 | New Work in Schule: Wie willst du arbeiten?
  • Autor*in: Sherin Krüger
  • Funktion: freie Journalistin
Min.

Vor knapp 20 Jahren veröffentlicht Frithjof Bergmann seine Vision „Neue Arbeit, neue Kultur“ als Buch. Darin plädiert er für eine radikale Veränderung unseres Denk- und Wertesystems und konkretisiert ein Drei-Säulen-Modell von Arbeit: Selbstversorgung, klassische Erwerbsarbeit und Arbeit, die wir wirklich, wirklich wollen. Mit der Neuauflage über zehn Jahre später wird er gefragter Keynote Speaker und Interviewpartner. New Work ist in Deutschland angekommen.

Corona-Pandemie treibt Megatrend New Work voran

Dabei hatte der Philosoph und Anthropologe mit einem Team aus Gewerkschaft, Wissenschaft, Politik und Wirtschaft das erste „Zentrum für Neue Arbeit“ als Alternative zu Massenentlassungen bereits in den frühen 1980er-Jahren in den USA begründet. Und seine Idee, die Arbeit so zu transformieren, dass sie freie, selbstbestimmte, menschliche Wesen hervorbringt, ist noch einmal älter. Das passt, denn laut des Frankfurter Zukunftsinstituts entwickeln sich Megatrends über Jahrzehnte, bis sie Einzug in den Mainstream finden. New Work ist so ein Megatrend, sagen die dort Forschenden. Heute, im Jahr 2022, einer der zentralen zwölf und durch die Corona-Pandemie befeuert wie kein anderer.

Weiche Faktoren wie Sinnhaftigkeit, Selbstbestimmung und Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben sind an die Stelle von Macht, Geld und Karriere getreten. Leistung in diesem Sinne spielt bei den heranwachsenden Generationen keine Hauptrolle mehr. Wir befinden uns in einer Zeit des Übergangs von der Wachstums- zur Postwachstumsgesellschaft. Da liegt es nahe, dass sich auch die Arbeitswelt neu erfinden muss, damit Menschen ökologische und gesellschaftliche Herausforderungen überhaupt meistern können. Organisationen seien auf der einen Seite gezwungen, schneller und radikaler auf Veränderungen zu reagieren – nicht zuletzt durch die vielen aktuellen Krisen. Arbeitnehmende stellen auf der anderen Seite neue Ansprüche. Sie fordern Gestaltungsmöglichkeiten, Remote Work und Work-Life-Blending, das mehr als die allgemein bekannte Balance, Arbeitnehmer*innen die Flexibilität gibt, ihren Arbeitstag dem Privatleben anzupassen.

Arbeite, wo und wann du willst: agil, partizipativ, sinnstiftend

Wenn sich eine Organisation nicht gerade in der Neugründung befindet, sich ein Team von Grund auf formt und dadurch notwendigerweise von Beginn an ausstattet, sind komplexe Transformationsprozesse nötig. Frithjof Bergmann gingen viele der Versuche zu seinen Lebzeiten nicht weit genug. Diese Buntmalerei sei nicht das, was er als die Neue Arbeit verstehe, obwohl er Konzerne wie Google auf ihrem Weg zu Neuer Arbeit beraten hatte. „Es ist nicht nur eine Worthülse mit ein paar schicken, hippen Bildern“, sagte Dr. Josephine Hofmann vom Fraunhofer Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO) im Podcast-Interview bei „Wissen Weekly“. New Work sei definitiv ein ernstzunehmender Entwicklungstrend, der eine betriebliche Rationalität hat. Um das zu belegen, untersuchten sie und ihr Team von Mitte 2017 bis Mitte 2018 deutschlandweit Zukunftsmodelle von Arbeit und fanden ganz unterschiedliche Ansätze von New Work in traditionellen Kleinbetrieben und Konzernen, bei gesetzlichen Krankenkassen oder Innovationsagenturen. 

Für ihre Fallstudien definierte das Fraunhofer IAO folgende Stoßrichtungen: 

  • Arbeite wo und wann du willst: örtliche und zeitliche Flexibilisierung von Arbeit
  • Jenseits der Organigramme und Silos: agile und projektbasierte Organisationsformen
  • Meine Arbeit stiftet mir und anderen Sinn: Wertebasierung von und Sinnstiftung durch Arbeit
  • Jenseits der Hierarchie: veränderte Führungsstrukturen, partizipative Entscheidungsmechanismen und Formen der Selbstorganisation

Ähnlich formulieren auch die Kolleg*innen vom Zukunftsinstitut in Frankfurt die Thesen des Megatrends. Es ist also irgendwie für alle etwas dabei. Um nicht doch der Buntmalerei zu verfallen, gibt die immer größer werdende New-Work-Community eine Menge Impulse.

Die Organisation als lebender Organismus

Einer davon scheint denkbar leicht: Macht euch heute auf den Weg! Das Credo motiviert, etwas anzustoßen – unabhängig von Ausrichtung und Struktur einer Organisation oder der hierarchischen Position der treibenden Kraft. Die Organisation müsse dabei als lebender Organismus gesehen werden, fordert Frederic Laloux 2015 in seinem Buch „Reinventing Organizations“. Er gilt als Vordenker einer neuen Arbeitskultur, die die Zusammenarbeit in Organisationen auf eine neue Ebene hebt. Er untersuchte zukunftsweisende, evolutionäre Organisationen und arbeitete drei wichtige Durchbrüche heraus: Selbstführung, Ganzheit und evolutionärer Sinn. 

Für die Organisation im Sinne eines lebendigen Wesens stehen Grundprinzipien und eine nicht vordefinierte Antwort auf die Fragen „Was brauchen wir? Was nützt uns am meisten?“ im Vordergrund. Die Organisation könne daraufhin feststellen, ob ein organisationales Betriebssystem wie die Holokratie für sie passt oder ob sie selbst auf die Suche begibt und verschiedene Praktiken ausprobiert. Frederic Laloux ist überzeugt, dass der vielleicht naive Gedanke „Hey, wenn ich hier etwas anstoße und damit überzeuge, machen alle mit“ einen unglaublichen Wert hat, erzählt er im Interview-Podcast „On the Way to New Work“. Gleichzeitig räumt er ein, dass Alleingänge oft verpuffen, wenn die Person die Stelle nicht mehr besetzt oder die Organisation verlässt. Der nächste Impuls ist also ganz klar: Transformationsprozess begleiten und dranbleiben!

Dranbleiben! Transformationsprozesse richtig gestalten

Inspiriert von Reinventing Organizations hatte die Kulturanthropologin und Social Business Gründerin Joana Breidenbach ihre eigene Unternehmung umkrempeln wollen. Sie wollte ihre Führungsposition aufgeben und im betterplace lab am eigenen Leibe erforschen, wie kulturelle Dynamiken – darunter Dezentralisierung, Agilität und Kollaboration – wirken. „Wenn wir äußere Veränderungen mit inneren Transformationsprozessen verbinden, können wir neue Arbeitsformen erfolgreich umsetzen [...]“, schreibt Joana Breidenbach zusammen mit Co-Autorin Bettina Rollow in „New Work needs Inner Work“. New Work darf nicht als Ziel am Anfang einer Transformation ausgegeben werden, sondern ist als fortwährender Prozess der Umgestaltung und Reflexion zu verstehen.

Sie befürworten, eine ganzheitliche Transformation und Organisationskultur immer von den Mitarbeiter*innen aus zu denken. Für beide besteht ein dynamisches Gleichgewicht zwischen Struktur im Außen und Struktur im Inneren: Wenn beispielsweise eine Abteilungsleitung in einer Behörde eine Vorschrift abschafft, achtet sie darauf, dass ihre Mitarbeiter*innen sich sicher und kompetent genug fühlen, um den neuen Entscheidungsfreiraum zu nutzen. Brauchen sie Unterstützung, bemüht sich die Leitung, die nötigen Kompetenzen zu stärken, tritt regelmäßig mit einzelnen in den Dialog und reflektiert mit ihrem Team. New Work fördert und fordert in der Transformation, und dabei im Besonderen in der digitalen, „ein großes Maß an Veränderungsfähigkeit, die gleichsam zur wichtigsten Metakompetenz wird – individuell wie organisationsbezogen“. So lautet eine der zentralen Erkenntnisse aus den Fallstudien der IAO.

Das neue Verständnis von Führung in der Selbstorganisation

betterplace lab arbeitet heute selbstorganisiert. Bei einem zehnköpfigen Team mag das noch einfach sein. Das funktioniert aber doch niemals für größere Organisationen. Oder doch? Die Mutigen beweisen das Gegenteil und gerade in Deutschland mit einem starken Mittelstand, familiengeführten Betrieben und Non-Profits bewegt sich einiges: Die Bäckerei Leonardt mit 30 Mitarbeiter*innen arbeitet mit einem selbstorganisierten Schichtsystem (IAO-Fallstudien 2018). Iseki ist ein Landmaschinenhersteller mit 230 Mitarbeitenden, bei dem der Enkel des Gründers seine Vision einer Organisation neuen Typs verwirklicht hat und jede*r die Chance bekommt, Verantwortung zu übernehmen (Case Study aus „Neue Narrative“, Ausgabe 01). Der niederländische mobile Pflegedienst Buurtzorg mit fast 15.000 Mitarbeitenden gilt als Musterbeispiel in der New-Work-Welt und hat sogar Einzug in die Wissenschaft gehalten: Die Universität Münster untersucht bis Ende 2022, inwiefern das Modell der selbstorganisierten kleinen Teams in definierten Nachbarschaften dem drohenden Pflegenotstand in Deutschland entgegenwirken kann.

Alle Beispiele haben gemein, dass sie Organisationsentwicklung und Führung neu denken, auf starre hierarchische Strukturen und Kontrolle verzichten. Führung und Entscheidungskompetenzen werden meist auf mehrere Personen verteilt und Selbstführung ist für jede einzelne ein Thema. Alle zusammen verständigen sich auf grundlegende Werte sowie ein gemeinsames Ziel. Der Erfolg und wissenschaftliche Erkenntnisse geben ihnen Recht.

Und wenn mir New Work nur More Work beschert?

Erfüllung in der Arbeit oder gar Spaß daran? Partizipation oder gar die Viertagewoche? Es wird gern behauptet, das alles ginge mit Effizienz, Leistung oder Innovation nicht zusammen. Das Gegenteil ist der Fall: Die Selbstbestimmungstheorie ist eine allgemeine Theorie des menschlichen Wohlbefindens. Sie definiert drei menschliche Grundbedürfnisse: Verbundenheit, Autonomie und Kompetenz. „Angewendet auf den Arbeitskontext“, sagt Arbeits- und Organisationspsychologin Professorin Dr. Laura Venz im Podcast-Interview bei „Wissen Weekly“, „bedeutet das, dass Arbeit, die es schafft, diese drei Grundbedürfnisse zu befriedigen, auch gesunde Arbeit ist.“ Gesundes Arbeiten ist dabei mehr als nicht krankmachendes Arbeiten. New Work bietet viele Möglichkeiten auf die individuellen Bedürfnisse von Arbeitnehmenden einzugehen, mit ganz unterschiedlichen Ansätzen.

Nichtsdestotrotz bergen neue Arbeitsmodelle auch neue Stressoren: Berufliches und Privates gehen zu sehr ineinander über, ständige Erreichbarkeit verhindert notwendige Erholung oder Selbstorganisation und steigende Verantwortung erzeugen höheren Druck. In der Arbeitspsychologie spricht man vom Autonomie-Paradox, wenn beispielsweise Flexibilität in die falsche Richtung läuft. Laura Venz empfiehlt, sich selbst gut zu kennen und Grundannahmen wie „Arbeit am Abend ist schlecht“ zu hinterfragen.

Es endet damit, dass jeder Mensch selbst auf die Reise gehen und lernen muss, was für sie*ihn passt. Und um im Sinne des New-Work-Begründers Frithjof Bergmann zu enden: Wir haben reichlich geschrieben über die Neue Arbeit. Lasst uns jetzt mit praktischen Schritten beginnen und herausfinden, was wir wirklich, wirklich wollen.*

*aus dem Interview-Podcast „On the Way to New Work“, Episode 100