lautstark. 09.12.2022

Arme im Krisenmodus

Prekäre BeschäftigungGehalt

Pandemie, Energiekrise, Inflation

Angesichts multipler Krisen hat sich Armut in Deutschland vermehrt und gewandelt. Das Risiko, arm zu sein in einem reichen Land, ist größer denn je. Wie können wir verhindern, dass die Krise die Kluft zwischen Armen und Reichen weiter vertieft?

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  • Ausgabe: lautstark. 06/2022 | New Work in Schule: Wie willst du arbeiten?
  • Autor*in: Prof. Dr. Christoph Butterwegge
  • Funktion: Politikwissenschaftler
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Prof. Dr. Christoph Butterwegge

Politikwissenschaftler

Seit dem Frühjahr 2020 haben sich die Lebensbedingungen von Millionen Menschen in Deutschland zum Teil drastisch verschlechtert, weil sich die Krisenphänomene häuften und verschärften. Mit der Corona-Pandemie und dem ersten bundesweiten Lockdown setzten inflationäre Tendenzen ein, die sich mit dem Ukraine-Krieg und den westlichen Sanktionen gegenüber Russland als Reaktion darauf verschärften und ihren Höhepunkt vielleicht noch gar nicht erreicht haben.

Von den immensen Preissteigerungen betroffen sind hauptsächlich einkommensarme und armutsgefährdete Personengruppen, weil ihnen im Unterschied zu wohlhabenden Bevölkerungskreisen finanzielle Rücklagen fehlen. Lebensmitteltafeln, Pfandleihhäuser und Schuldner*innenberatungsstellen sind dem Ansturm kaum noch gewachsen. Längst breitet sich die Angst vor einem sozialen Abstieg oder Absturz auch in weiten Teilen der Mittelschicht aus. Aufgrund der Energiepreisexplosion, der anhaltenden Inflation und der sich abzeichnenden Rezession sind folgende Trends festzustellen:

Das Armutsrisiko in Deutschland steigt

Als von relativer (Einkommens-)Armut betroffen oder bedroht gilt für die EU-Mitgliedstaaten laut einer EU-Konvention, wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung hat. Diese sogenannte Armutsrisikoschwelle lag 2021 hierzulande bei monatlich 1.148 Euro für Alleinstehende. Im zweiten Pandemiejahr wurde mit 16,6 Prozent der Bevölkerung oder 13,8 Millionen Betroffenen ein neuer Höchststand erreicht. Ein deutlich höheres Armutsrisiko wiesen Erwerbslose mit 48,8 Prozent, Alleinerziehende mit 41,6 Prozent und Nichtdeutsche mit 35,3 Prozent auf. Kinder, Jugendliche und Heranwachsende waren stark betroffen, während das Armutsrisiko der Senior*innen seit geraumer Zeit am stärksten zunimmt. Zu befürchten ist, dass die Zahl der Armutsgefährdeten oder -betroffenen aufgrund krisenbedingter Einkommensverluste in naher Zukunft weiter steigt. 

Mehr Menschen droht der Verlust der Wohnung

Aufgrund der Energiepreisexplosion und anhaltender Mietsteigerungen dürfte die Zahl der Wohnungskündigungen, Räumungsklagen und Zwangsräumungen erheblich zunehmen. Steigen wird daher vermutlich auch die Zahl der Wohnungslosen, welche man für das Jahr 2020 auf 256.000, und die Zahl der Obdachlosen, welche man für das Jahr 2020 auf 45.000 schätzt. Falls relative Armut verstärkt in absolute, existenzielle oder extreme Armut umschlägt, werden Not und Elend deutlicher im Stadtbild sichtbar. Dazu gehören schon heute Menschen, die betteln, Flaschen sammeln oder Straßenzeitungen verkaufen.

Energiearmut kann neue Normalität werden

Gleichzeitig wächst die statistisch nicht erfasste und auch nur schwer erfassbare, weil eher verborgene Armut solcher Menschen, deren Einkommen zwar klar über der Armutsrisikoschwelle liegt, aber wegen steigender Ausgaben trotzdem nicht mehr ausreicht, um die Lebenshaltungskosten zu decken. Energiearmut, von der man spricht, wenn die Kosten für Haushaltsenergie mehr als zehn Prozent des Nettoeinkommens verschlingen, kann zur neuen Normalität werden. Zu befürchten ist, dass sich Wohn-, Energie- und Ernährungsarmut zu der sozialen Frage schlechthin entwickeln.

Man könnte den Solidaritätszuschlag für die Energiekrise sowie die Inflation umwidmen – und ihn verdoppeln.

Umverteilen statt Entlastungspakete schnüren!

Offenbar ist das kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, in dem wir leben, nicht mehr in der Lage, ohne schwere Friktionen, existenzielle Krisen und gesundheitliche Risiken zu funktionieren. Dass sich die Probleme in letzter Zeit häufen, ist höchstwahrscheinlich kein Zufall, sondern eher systembedingt. Sozialschutz- und Entlastungspakete, die in immer kürzerer Abfolge geschnürt werden, bleiben letztlich Flickwerk, sofern man nichts an den bestehenden Wirtschaftsstrukturen, Eigentumsverhältnissen und Verteilungsmechanismen ändert. Zwar können Liquiditätshilfen und Entlastungspakete zur Bewältigung akuter Notlagen während einer Wirtschaftskrise, einer Pandemie oder einer Inflation beitragen, sie können aber nicht für immer verhindern, dass finanzschwache Bevölkerungsgruppen in Schwierigkeiten geraten. Deshalb müsste an den Wurzeln der Probleme angesetzt werden, wenn sich die sozioökonomische Ungleichheit verringern und niemand mehr in Existenznot geraten soll.

Für die Vermögenden wäre eine Abgabe denkbar, beispielsweise in Höhe von zehn Prozent gestreckt auf fünf Jahre – also zwei Prozent pro Jahr.

Passgenaue Maßnahmen statt wirkungsloser Einmalzahlungen!

Einkommensstarke und vermögende Menschen sollten mehr finanzielle Verantwortung übernehmen, ohne ihren Lebensstandard einschränken zu müssen. Man könnte den Solidaritätszuschlag für die Energiekrise sowie die Inflation umwidmen – und ihn verdoppeln. Aktuell beträgt er 5,5 Prozent der Einkommenssteuerschuld. Nur zehn Prozent der Bevölkerung bezahlen ihn noch und nur 1,3 Millionen Menschen in voller Höhe. Für Singles wird er ab einem zu versteuernden Jahreseinkommen von 62.128 Euro fällig, in voller Höhe ab einem zu versteuernden Jahreseinkommen von 96.820 Euro. Für die Vermögenden wäre eine Abgabe denkbar, beispielsweise in Höhe von zehn Prozent gestreckt auf fünf Jahre – also zwei Prozent pro Jahr. Betroffen wären Vermögen ab einer Million Euro.

Falsch, weil nicht passgenau, sind hingegen pauschale Einmalzahlungen: Spitzenverdiener*innen brauchen sie nicht und für Bedürftige reichen sie nicht.

Bei den weiteren Freibeträgen könnte man analog zur Erbschaft- und Schenkungsteuer für Ehepartner *innen 500.000 Euro und pro Kind 400.000 Euro vorsehen. Zusammen mit den Freibeträgen für Partner*innen und beispielsweise zwei Kinder würde die Vermögensabgabe also ab einem Vermögen von 2,3 Millionen Euro greifen. Unberücksichtigt bliebe selbst genutztes Wohneigentum bis zu 200 Quadratmetern. Mit den zusätzlichen Steuereinnahmen ließe sich beispielsweise ein Gaspreisdeckel für den Grundbedarf finanzieren. Falsch, weil nicht passgenau, sind hingegen pauschale Einmalzahlungen: Spitzenverdiener*innen brauchen sie nicht und für Bedürftige reichen sie nicht. Wenn man die gesamte Bevölkerung in einer Krisensituation wie der gegenwärtigen finanziell unterstützt, wird es für den Staat nicht bloß extrem teuer, sondern es vertieft sich auch die Kluft zwischen Arm und Reich weiter.