lautstark. 09.12.2022

KI: Allianz zwischen Technologie und Lehrkraft

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Warum ein Algorithmus nicht jede*n ersetzen kann

Professor Dr. Thomas Strasser ist Experte unter anderem für technologieunterstütztes Lehren und Lernen sowie Lehrer*innenfortbildner. Er erklärt, warum Künstliche Intelligenz (KI) Lehrer*innen in Schulen nicht so schnell ersetzen wird, wie sich Pädagog*innen KI zunutze machen können und was es mit Digitalität in Beruf und Alltag auf sich hat.

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  • Ausgabe: lautstark. 06/2022 | New Work in Schule: Wie willst du arbeiten?
  • Autor*in: Thomas Strasser
  • Funktion: Professor für technologieunterstütztes Lehren und Lernen an der Pädagogischen Hochschule Wien
Min.

Alles geht höher, schneller und weiter mit der Digitalisierung, dabei wäre es vorab so wichtig zwischen, den Begriffen Digitalisierung und Digitalität zu trennen: Digitalisierung meint vorrangig den technischen Fortschritt durch Technologie, während Digitalität primär kulturelle und soziale Praktiken, Interaktionen und den digitalen Lebensstil meint. Es geht also nicht zwingend darum, die Maschine ersetze den Menschen. Diese Angst besteht, weil es viele unreflektierte Wahrnehmungen über die Digitalisierung gibt – gefördert unter anderem durch die Boulevardpresse. So diffus bestimmte Argumente in einem medienpädagogischen Kontext auch sein mögen, sie müssen für den Bereich Lehren und Lernen auch aus einer schulentwicklerischen Sicht ernst genommen werden, benötigen aber eine klarere semantische Grenzziehung. Digitalität ist ein wuchtiges, ja fast nicht greifbares Thema, weil es eben aufgrund der kulturphänomenologischen und gesellschaftlichen Vielseitigkeit so viel impliziert.

Potenziale nutzen: Wie kann KI sinnvoll im Unterricht eingesetzt werden?

Eine Frage, die Lehrkräfte im Kontext von Digitalität beziehungsweise Digitalisierung seit geraumer Zeit beschäftigt, ist: Wann oder wie wird Künstliche Intelligenz (KI) die Lehrkraft ersetzen? Vorab: Künstliche Intelligenz, kurz KI, hat nichts mit Robotern zu tun. Sie meint hauptsächlich den Ansatz, menschliches Lernen und Denken auf Computer, Apps oder andere Technologien zu übertragen, eine Technologie so intelligent zu machen, dass diese auch autonom handeln, denken und entscheiden kann. Es gilt, die unterschiedlichen Facetten und Domänen dieser Technologie – auch für den Bereich Schule – abzustecken. 

Beispiele für KI sind Spracherkennungsanwendungen, Saugroboter oder auch intelligente Sprachlern-Apps. Alles, was antizipier- und berechenbar ist, kann die KI erledigen, und das mittlerweile ziemlich gut. Beispiele für den Unterricht sind Quizprogramme, die einzusetzende Lücken automatisch mit weiterführendem Feedback kontrollieren oder Übersetzungsprogramme. Des Weiteren können von KI automatisch generierte Erklärvideos den Lernerfolg von Schüler*innen steigern.

Und genau hier sehe ich die Potenziale von KI: Wenn es darum geht, die Lehrkraft bei automatisierten Prozessen, wie beispielsweise dem Korrigieren von kognitiv-taxativen Aufgaben, zu entlasten, kann die Technologie mehr Zeit und Raum für die originärste aller Pädagog*innenaufgaben schaffen: den sozialen Diskurs, die wertschätzende Interaktion mit den Schüler*innen. Und genau hier muss im schulentwicklerischen Diskurs angesetzt werden: KI kann beim intelligenten, personalisierten und adaptiven Üben unterstützen, aber den kulturspezifischen Diskurs mit dem persönlichen Kernwissen über die jeweilige Klasse und deren individuelle Schüler*innen wird der Algorithmus nicht leisten können.

Trends verstehen: Ist eine klare Grenze zwischen Arbeit und Leben möglich?

Zahlreiche empirische Befundlagen unterstreichen diese Annahme, vor allem, wenn es um die Korrelation zwischen Lernerfolg und Lehrer*in-Schüler*in-Verhältnis geht. Dieser motivationale Anker kann wohl kaum von einem smarten Silicon-Valley-Programmierer gesetzt werden. Dennoch muss es im Sinne einer nachhaltigen Unterrichtsgestaltung bei Lehrkräften darum gehen, diese Einschätzung vieler Expert*innen aktiv zu reflektieren und zu fragen, wie der Einsatz von digitalen Tools für den eigenen Unterricht sinnvoll und weniger kräftezehrend fungieren kann.

Das Problem der digitalen Wucht und Schnelligkeit ist ein sehr komplexes und kann nicht mit generischen Geheimrezepten gelöst werden. Ferner ist der Themenkomplex mentale Gesundheit und die Frage nach einem gesunden Maß an Arbeit ein viel zu diffiziles, sodass ich mir hier mit meiner Expertise als Mediendidaktiker und -pädagoge keine Einschätzung anmaße. Jedoch ist der oftmals konstatierte und empfohlene Ansatz einer Work-Life-Balance oder des Digital Detox nicht der richtige, weil eben digitale Medien durch ihre Omnipräsenz keine klare Grenzziehung zwischen Arbeit und Leben ermöglichen.

Microlearning Tools: Wie können Apps und Co. den Unterricht bereichern?

Der erste Schritt, einer möglichen Überforderung durch Digitalität entgegenzuwirken, ist das Erkennen und Akzeptieren, dass digitale Medien so für das eigene berufliche Tun verortet werden, dass sie komplementierend agieren und Selbstorganisation bedingen. Diese didaktische Allianz aus Lehrkraft und Technologie benötigt konkrete Konzepte und Unterstützung. Und das sogenannte Mindset ist ein Themenkomplex, der die personalentwicklerische Seite der Schulentwicklung berücksichtigt. 

Ein Weg, digitale Tools abseits der Infrastrukturdebatte einzusetzen, könnte sein, dass Lehrkräfte sogenannte Microlearning-Tools wie Edu-Apps nutzen. Und eines vorweg: Ich plädiere nicht für die Toolifizierungen des Unterrichts, aber Apps, Memes, soziale Netzwerke, Reels, Challenges etc. sind mehr als Komparsen im großen Digi-Kino. Das muss mein Ausgangspunkt in der Haltung als Lehrkraft sein. Es handelt sich um in der Handhabe intuitive Werkzeuge, die generell die Fachlichkeit und pädagogische Dynamik des Unterrichts umrahmen oder sogar aufwerten können. Dabei geht es nicht um bunte Gadgets, sondern um mehrkanalige, ko-kreative Kollaboration im Unterricht.

Fachwissen und Didaktisierungskompetenz sind die Schlüssel

Aus unterrichtsentwicklerischer Sicht spricht nichts mehr dagegen, solche Werkzeuge einzusetzen, sie zu didaktisieren, dazu unterstützen mittlerweile 10.000 Fachkolleg*innen in diversen Communitys und Foren. Es gibt Dutzende fundierte Empfehlungen für DSGVO-konforme Anwendungen wie Microlearning-Tools oder Edu-Apps von Fachkolleg*innen – beispielsweise aus dem Twitterlehrerzimmer #twlz. 
Der Ruf nach mehr gezielten Fort- und Weiterbildungen im Bereich der Digitalität ertönt bereits seit Jahrzehnten, aber auch wenn mittlerweile schöne, begleitend beforschte Fortbildungsformate angeboten werden, liegt das Problem auf der systemischen Ebene, weil vielerorts Lehrkräfte immer mehr mit der administrativen Wucht des Schulalltags zu kämpfen haben.

Deshalb braucht es entweder den Ansatz, das Schul- und Lehrer*innenausbildungssystem komplett neu zu konzipieren– was komplett unrealistisch ist – oder eine Politik der kleinen Schritte: Durch den Einsatz bestimmter Werkzeuge, gepaart mit dem richtigen Mindset sowie Erkenntnissen aus der Schulentwicklung, können auch Etappenziele im Bereich Unterricht und nachhaltige Digitalität erzielt werden. Es geht nicht um das Abfeuern kurzlebiger App-Feuerwerke, sondern um das aktive Integrieren lernförderlicher Prozesse im eigenen Unterricht durch eine Kultur der Digitalität. Fachwissen und Didaktisierungskompetenz sind und bleiben die Schlüssel zu nachhaltigen Unterrichtsszenarien im Blended-Learning-Kontext.

Warum die Haltung der Lehrperson so wichtig ist

Ich gebe meinen Studierenden beispielsweise mit einer mehrkanaligen digitalen Anwendung ein Video-Feedback zu ihrer Arbeit. Es gibt Anwendungen, die Feedback per Video, Audio, Text, Bild und Hyperlink ermöglichen. Das ausführliche, gesprochene Video-Feedback kann mit weiterführenden Links zu digitalen Übungsblättern oder wissenschaftlichen Artikel angereichert werden. Die Rückmeldungen der Studierenden geben mir oftmals recht: Die allermeisten sind dankbar für ein ausführliches Feedback und fühlen sich wertgeschätzt. Dadurch sind sie weiterhin motiviert – auch wenn es stellenweise kritisches Feedback seitens der Lehrkraft gibt – und werden in ihrem Professionalisierungsprozess unterstützt. Selbstverständlich ist das digitale Tool an sich nicht der Auslöser dieser positiven Stimmung. Es ist maximal der Katalysator, die eigene konstruktive Haltung als Lehrkraft zu verstärken.

Und es geht mir nicht darum, Technologie als Werkzeuge des Effizientermachens zu sehen, im Gegenteil: Ich versuche, Digitalität so einzusetzen, dass sie mir auch weiteren Raum für wertschätzendes, pädagogisches Handeln schafft. Denn wenn mir die KI-gestützte Prüfungsanwendung viel Arbeit abnimmt, wenn es darum geht, kognitiv-taxative Wissensüberprüfungsformate auszuwerten, damit ich mehr Kreativität in meine co-kreative Stundenplanung investieren kann, so sage ich mir: Okay, mit KI!

Ich bin kein Techniker, kein IT-Experte oder Programmierer. Als ehemaliger Lehrer und jetziger Lehrkräfteausbildner bin ich geisteswissenschaftlich sozialisiert und weniger einem technologischen Determinismus, aber vielmehr einem digitalen verpflichtet. Dies bedeutet, dass ich das Narrativ Maschine ersetzt Lehrkraft kategorisch ablehne, sondern vielmehr den Ansatz verfolge, wie Technologie und Lehrkraft in eine didaktische Allianz gehen können. Veränderung an Schule ist ein langwieriger Prozess und wer ständig den kompletten Reset fordert, war entweder noch nie im System Schule und kennt nicht die teilweise überbordenden Tasks, die Lehrkräfte zu erledigen haben oder spielt mit einem gefährlichen Narrativ der Effizientermachung durch digitale Medien.

Kultur der Digitalität an deutschsprachigen Schulen: Warum in die Ferne schweifen?

Es braucht auch nicht immer den Blick nach Skandinavien. Zum Glück gibt es mittlerweile eine tolle Community an Lehrenden und Forscher*innen im deutschsprachigen Raum, die gemeinsam das Beste aus den bestehenden Situationen macht, um eine Kultur der Digitalität und nicht Digitalisierung am Schulstandort zu leben – mit allen Ups and Downs. Der Fokus sollte dabei auch auf der Unterrichtsentwicklung liegen, weil dies einer der Kerndomänen der Lehrer*innen ist, die ihnen – so wie mir – enorm Freude bereitet, in denen sie ihre große Expertise einfließen lassen können. Und genau das zeigt auch die Wissenschaft, dass durch eine kollaborative Entwicklung konkreter Unterrichtsmaterialien und dem reflektierenden, beratenden Austausch unter Kolleg*innen über Unwägbarkeiten in der Digitalität pädagogische Ziele erreicht werden.

Initiativen wie in Österreich, wo digitale Grundbildung als ein eigener Unterrichtsgegenstand in der Sekundarstufe implementiert wird, sind begrüßenswert. Das allein wird aber nicht ausreichen, weil das Thema unbedingt auch als Querschnitt und fachintegrativ gedacht werden muss. Noch ein Grund mehr, aktiv für mehr Autonomie am Schulstandort zu plädieren, wo Kolleg*innen gemeinsam mit Schüler*innen im kollaborativen Schulentwicklungsprozess eine Kultur der Digitalität am und für den Schulstandort konzipieren. Das schafft die beste KI nicht, sondern das schaffen nur Sie! Und am besten mit einer Schulleitung, die das auch so sieht.