lautstark. 05.10.2021

Sexismus und seine wirkmächtigen Strukturen

AntidiskriminierungFrauenQueer und Diversity

Eine historische Betrachtung mit Ausblick

#MeeToo und #Aufschrei sind nur zwei Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit, die zeigen, dass Sexismus heutzutage noch nicht hinter uns liegt. Literaturwissenschaftlerin und Buchautorin Susan Arndt erklärt, wie Machtstrukturen, Moralvorstellungen und Diskriminierung zusammenhängen.

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  • Ausgabe: lautstark. 06/2021 | Gender und Diversity: Wen siehst du?
  • Autor*in: Prof. Dr. Susan Arndt
  • Funktion: Literatur- und Kulturwissenschaftlerin an der Universität Bayreuth
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In Deutschland existiert das dritte Geschlecht seit 2018 auch juristisch. Um dies sprachlich umzusetzen, bietet das Gendersternchen einen exzellenten Weg. Dennoch meinte TV-Moderator Claus Kleber 2018 im öffentlich-rechtlichen ZDF: „Mir scheint es, als würden sich jene am Sternchen festhalten, denen ansonsten jede Orientierung fehlt.“ Mal abgesehen von ein paar Onlinekommentaren kam er mit dieser diskriminierenden Aussage glimpflich davon. Umgekehrt ernten jene, wie etwa der Präsident des Deutschen Bundestages a. D. Wolfgang Thierse oder der emeritierte Linguistik-Professor Peter Eisenberg, viel Zuspruch von denen, die sich über das Gendersternchen empören. Mit solchen Äußerungen und Positionen und der geballten Geschichte des Sexismus als Rückenwind gemäß dem Motto „Es war doch schon immer so“ werden all jenen, die die durch die Geschichte ausgetretenen Wege verlassen wollen, vorgeworfen, Identitätsdebatten zu führen, die die Gesellschaft zerreißen würden. Dabei werden Ursache und Wirkung jedoch auf den Kopf gestellt. Denn es ist doch umgekehrt so, dass es dem Sexismus wesenseigen ist, Menschen zu entzweien. Aus Machtstrukturen heraus werden die einen, also heterosexuelle Männer, privilegiert – und zwar auf Kosten jener, die davon ausgeschlossen bleiben und das als Diskriminierung erfahren. So bilden sich soziale Positionen. Während es zu den Privilegien gehört, diese verleugnen zu können, haben Diskriminierte nicht die Option, Sexismus nicht wahrzunehmen. Das prägt ihre Identitäten, macht sie aber nicht zu deren Erfinder*innen. Diese Rolle übernimmt vielmehr die Tradition, die die Thierses aus der Tiefe der Geschichte heraus konservieren wollen.

Wenn die heterosexuelle Fortpflanzung zum Maß wird

Viele Vorurteile und Unwahrheiten prägen Vorstellungen von Geschlecht. Die Natur gestalte Menschenkörper binär, so der Sexismus. Mann oder Frau. Das meint auch: Mann sei die Norm, Frau das davon abweichende Andere. Diese binäre Konstruktion ist einem heterosexuellen Weltbild verpflichtet, das heterosexuelle Fortpflanzung zum Maß aller Kartierungen erhebt. Nach diesem Weltbild seien Frauen von Natur aus dazu bestimmt, Gebärgefäße zu sein. Als „Haus der Fortpflanzung“ sei es entsprechend ihre Aufgabe, dieses zu hüten und sich um Kinder und Haushalt zu kümmern. Und weil ihre Arbeitskraft durch ein imaginäres Küchen-Gen hier gebunden sei, müsse der Mann den öffentlichen Raum gestalten. Das sei auch insofern folgerichtig, als allein der Mann mit Vernunft und Verstand ausgestattet sei und folglich, anders als Frauen, dazu befähigt, den öffentlichen Raum zu gestalten – von Politik bis Erwerbsarbeit. Im Zirkelschluss des Teufelskreises bedeute dies, dass der (heterosexuelle) Mann als eigentlicher Erzeuger und Alleinverdienender auch einzig legitimer Vormund der Familie sei.

Der patriarchalische Herrschaftsanspruch mündete in einem Vormundschaftsprinzip, das in Deutschland als Letztentscheidungsrecht des Mannes bis 1949 in der DDR beziehungsweise 1977 in der Bundesrepublik wirkte. Es gab Männern das Recht, über alle familiären Belange und etwa Arbeitsverträge oder Kreditanträge „ihrer“ Frauen zu bestimmen. Umgekehrt aber blieben Frauen basale Rechte wie beispielsweise das Recht auf Eigentum oder das Wahlrecht verwehrt. Aus dieser Logik heraus wurden alle Geschlechter, so etwa homosexuelle Männer oder alle transgeschlechtlichen Personen, die sich der heterosexuellen Fortpflanzungslogik entzogen, juristisch sanktioniert und gesellschaftlich diskriminiert.

Männer waren per Gesetz Eigentümer von Frauen(-körpern)

Gesetzgebungen prägen Moralvorstellungen, und umgekehrt. Über Jahrhunderte, ja, Jahrtausende hinweg galt es vielen als schlichtweg unmoralisch, dass Frauen auch nur den Gedanken hatten, eine Wahlkabine von innen sehen zu wollen. Aus der Perspektive der Suffragettinnen, der Kämpferinnen für das Frauenwahlrecht, war die Rechtsauffassung allerdings nicht mehr zeitgemäß, dass Frauen aus dem passiven und aktiven Wahlrecht ausgeschlossen waren. Weil sie beharrlich genug blieben, gesetzliche Regelungen zu erwirken, ist es heute für die meisten normal geworden, dass es eine Bundeskanzlerin geben kann, die Mutter ist. Das aber hebelte Sexismus nicht aus, denn Moral hat ein langes Gedächtnis.

Männer sind durch alle möglichen Gesetze ermächtigt worden, legitime Eigentümer von Frauen(-körpern) zu sein. Bis ins 20. Jahrhundert hinein entbehrten Frauen der (juristischen) Handhabe, sich vor Gewalt in der Ehe schützen zu können. In Frankreich steht es erst seit 1975 und in Deutschland seit 1928 explizit unter Strafe, wenn Männer ihre Frauen schlagen – Vergewaltigung in der Ehe ist gar erst seit 1997 ein eigenständiger Straftatbestand in Deutschland. Zu jenen, die gegen dieses Gesetz stimmten, gehört Friedrich Merz (CDU), der für die CDU im Anschluss an die Bundestagswahl in den Deutschen Bundestag einziehen wird und zum sogenannten Zukunftsteam des Kanzlerkandidaten Armin Laschet gehörte. Diese Geisteshaltung aber ist ein entscheidender Grund dafür, warum Männer (sexuelle) Gewalt gegenüber „ihren“ Frauen ausüben und auch der Meinung sind, sie könnten ihnen unbekannte Frauen anfassen oder deren Körper kommentieren.

Sexistische Belästigung gehört ebenso zum Alltag wie häusliche Gewalt. Laut der Studie Gewalt gegen Frauen der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte von 2014 hat in Europa knapp jede vierte Frau (22 Prozent) Erfahrung mit häuslicher Gewalt. In Deutschland wird jeden dritten Tag eine Person von ihrem*ihrer Partner*in ermordet. In der Regel sind die getöteten Personen Frauen und die Mörder Männer.

Diskriminierungen in Beruf und Sport

Auf einer anderen Ebene bewirkt Sexismus, dass Frauen bis heute im Verhältnis zu Männern in Spitzenpositionen in Politik, Wirtschaft oder Kunst unterrepräsentiert sind – und weniger verdienen. Gemessen am Bruttodurchschnittsverdienst, also dem Anteil der Frauen an der gesamten Lohnsumme des Landes, verdienten Frauen in Deutschland 2019 laut Mitteilung des Statistischen Bundesamtes etwa durchschnittlich 20 Prozent weniger als Männer. Diese klaffende Lücke mahnt der Equal Pay Day (EPD) jährlich an. Er bezeichnet den Tag, bis zu dem Frauen in einem Jahr de facto unbezahlt arbeiten, während Männer schon ab dem 1. Januar Lohn erhalten. 2021 war das in Deutschland der 10. März.

Zudem sind die verschiedenen Berufsgruppen geschlechtsspezifisch koloriert – und zwar aufgrund von sexistisch kodierten Erwartungen: Tradierte „Männerberufe“ werden besser bezahlt als „Frauenberufe“. Frauen finden sich häufiger als Männer in illegalen Beschäftigungsverhältnissen ohne Sozial-, Kranken- und Rentenversicherung. Weiterhin fällt es Frauen gemeinhin leichter, in Berufsfelder einzusteigen, die sich am ehesten mit tradierten Erzählungen von vermeintlichen Fähigkeiten vereinbaren lassen, die immer vor allem auch Grenzen definieren sollen: Kindererziehung, Pflege, Gesundheit, also von der Erzieherin über die Lehrerin bis zur Ärztin, oder eben Sinnlichkeit und Feingeistigkeit, also eher Literaturwissenschaft als Paläontologie oder Informatik.

Eine weitere Dimension von beruflicher Diskriminierung von Frauen manifestiert sich mit Blick auf Aufstiegsmöglichkeiten und Karriereverläufe. Karriereströme tragen Männer systematisch höher als Frauen und Letztere werden von Karrierebrüchen systematisch ausgebremst. Je attraktiver im Sinne von Macht, Geld und Ruhm eine Branche erscheint, desto höher hängt das Eintrittsticket für Frauen.

Auch im Sport ist Sexismus virulent. Immer wieder steht zur Debatte, dass das Kameraauge sowie das Modedesign Sportlerinnen auf den Körper reduziert. Dass das auch anders geht, zeigten bei den zurückliegenden Olympischen Spielen die deutschen Turnerinnen mit ihren Ganzkörper-Outfits. Die sexistischen Blicke, denen Sportlerinnen ausgesetzt sind, lassen ihre Leistungen fast unwichtig erscheinen. Hinzu kommt, dass binäre Teams keinen Raum lassen für Geschlechtervielfalt. Im Ergebnis werden Personen wie die Athletin Caster Semenya öffentlich gedemütigt. Sie soll aufgrund einer hormonellen Störung von bestimmten Wettbewerben ausgeschlossen werden.

Wie wir systemischen Sexismus überwinden

Sexismus ist wirkmächtig, weil Einzelne Gewalt ausüben, diskriminieren und Privilegien abzocken. Sexismus ist aber noch wirkmächtiger, weil alle Einzelnen dies im Rahmen einer Macht- und Herrschaftsstruktur sowie einer Ideologie tun, die sie dazu ermächtigt. Unverzichtbar ist es daher, individuelle Wege und Ambitionen in Konventionen oder Gesetzgebungen sowie gesamtgesellschaftliche Wissenshorizonte zu übersetzen.

Nachdem Gesetze Frauen über Jahrhunderte hinweg diskriminierten, erstarkten Forderungen nach Gesetzen, die dann in umgekehrter Façon vor Diskriminierung schützen sollen. Dafür steht etwa Artikel 3 des Grundgesetzes oder auch das Allgemeine Gleichstellungsgesetz (AGG) von 2006. Erst individuelle Bestrebungen, Sexismus verstehen, sehen, verlernen und aufgeben zu wollen, machen es möglich, Sexismus als Machtstruktur mit einer viel zu langen Geschichte zu verstehen. Hier geht es um grundlegende Veränderungen, die nicht umhinkommen, das binäre Geschlechtermodell aufzugeben.

Beharrlichkeit und Argumente eröffnen neue Horizonte

Die Anerkennung des sogenannten dritten Geschlechtes ist ein wichtiger Schritt zur Überwindung der dualen Frau-oder-Mann-Logik. Letztlich aber ist dies ein begrenzter Schritt, der sich nicht im Vakuum vollzieht, sondern im Gravitationsfeld des Sexismus. Indem nur ein drittes Geschlecht ergänzt wird, bleibt nämlich die Grundthese unangefochten, dass es Mann und Frau gebe und dass diese beiden Geschlechter eindeutig unterscheidbar seien. Das wird dadurch potenziert, dass das dritte Geschlecht „Divers“ oder „X“ genannt wird, im Sinne von „irgendwas Gemischtes“ oder „Unbekanntes“ zwischen Mann und Frau. Diverse Geschlechter werden also in eine Vokabel gepresst – und zwar so, dass die alte Formel Frau-ist-nicht-Mann unangetastet bleibt. Letztlich wird sie nur zu einer Frau-ist-nicht-Divers-ist-nicht-Mann-Formel, welche die Normsetzung von Heteronormativität und der Machtstellung des Mannes fortschreibt.

Da Sexismus ebenso alt ist wie stur, kann nur argumentationsgesättigte Beharrlichkeit neue Horizonte eröffnen. Der Weg liegt vor uns, viele Generationen von Feminist*innen haben ihn engagiert bereitet. Auf ihren Schultern stehend können aktuelle Generationen ihn beschreiten und befestigen. Das mag schwer sein. Unerlässlich ist es dennoch.