lautstark. 05.10.2021

Schüler*innen haben genug vom Sexismus

AntidiskriminierungQueer und DiversityAntirassismusFrauenSchulsozialarbeit

Keine Schule ohne Feminismus

Sexistische Kommentare von Mitschüler*innen und Lehrkräften, männlich und heteronormativ geprägte Lehrpläne – Schulen sind sexistische Orte. Was muss passieren, damit sich das ändert?

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  • Ausgabe: lautstark. 06/2021 | Gender und Diversity: Wen siehst du?
  • Autor*in: Sherin El Safty
  • Funktion: freie Journalistin
Min.

Im März 2021 haben die Bundesministerin für Bildung und Forschung, Anja Karliczek, und die Senatorin Berlins für Bildung, Jugend und Familie, Sandra Scheeres, besondere Post erhalten: einen offenen Brief, initiiert von der Berliner Schüler*innengruppe „Keine Schule ohne Feminismus“ (KSOF), unterschrieben von 13 weiteren Schulsprecher*innen aus ganz Deutschland.

In diesem Brief tragen die Schüler*innen all die Punkte zusammen, die es aus ihrer Sicht für eine sexismusfreie Schule braucht. Das große Ziel? Geschlechtergerechter Unterricht soll nicht länger von einzelnen Lehrpersonen abhängen, sondern in den Grundpfeilern des Schulsystems verankert sein. Marthe, Sibel und Emma aus Berlin sind Mitglieder der Schüler*innengruppe KSOF und erzählen, wieso sie den Brief geschrieben haben – und von der Antwort, die sie bekommen haben.

Schule spiegelt wider, was in der Gesellschaft schiefläuft

Als die Schüler*innen anfangen, genauer hinzuschauen, finden sie überall an ihrer Schule sexistische Denkmuster, Verhaltensweisen und Prozesse. Denn Schulen sind gesellschaftliche Institutionen: Alles, was in der Gesellschaft schiefläuft, spielt sich auch im Unterricht und in den Pausen ab, findet sich in Lehrplänen, im Verhalten der Schüler*innen untereinander und in den Beziehungen mit Lehrpersonen wieder.

Was die Schüler*innen fordern, sind verpflichtende Seminare während des Studiums, die zukünftige Lehrpersonen für Sexismus im Unterricht sensibilisieren sollen und die auch nach dem Studienabschluss wiederholt werden müssen. Außerdem mehr Vielfalt in der Themenauswahl aller Schulfächer: Im Deutsch- und Philosophieunterricht sollen mehr Werke von FLINTA-Personen – das Akronym steht für Frauen, Lesben, inter-, nicht binäre, trans- und agender Personen – besprochen werden und der Biologieunterricht muss weniger heteronormativ geprägt sein und mehr Sexualitäten und Körperbilder mitdenken.

Über sexistische Erfahrungen sprechen und gemeinsam Veränderungen anstoßen

Nicht ein konkreter Vorfall hat zu der Gründung von KSOF geführt, erzählen die drei, sondern vielmehr eine Aneinanderreihung von Demütigungen im Schulalltag: sexistische Sprüche von Mitschüler*innen und auch Lehrpersonen, eurozentrisch, männlich, heteronormativ geprägter Schulunterricht und sexistische Sticker im Jahrgangschat.

„Es hat sich unglaublich ermächtigend angefühlt, gemeinsam mit anderen über sexistische Erfahrungen zu sprechen. Ich habe bemerkt, dass ich mit meinen Problemen und Erfahrungen nicht allein bin“, sagt Emma. Die Vorfälle häuften sich, und für jede der drei gab es einen anderen Punkt, an dem sie entschieden, etwas gegen die aktuellen Zustände tun zu müssen. Was im Schulalltag lange als normal abgetan wurde, kann nicht länger so bleiben – das war allen drei engagierten Schüler*innen klar!

Aktuell gibt es zehn Mitglieder in der Gruppe. Dazu gibt es eine Vernetzungsgruppe mit 50 Mitgliedern, darunter auch Schulsprecher*innen von Schulen außerhalb Berlins. „Für die Zeit nach Corona hoffen wir, dass wir uns noch weiter in Deutschland verbinden und Netzwerktreffen veranstalten können“, sagt Emma über die Zukunftspläne.

Der 25. November ist der Internationale Tag gegen Gewalt an FLINTA-Personen. Die KSOF-Gruppe möchte auch in diesem Jahr an ihren Schulen ein Zeichen setzen. 2020 hatten die Schüler*innen Plakate entworfen, auf denen Begriffe wie Feminismus, Gender-Pay-Gap oder Catcalling erklärt werden. Der Höhepunkt des Aktionstags: An der „Wall of Shame“, einer Tafel im Schuleingang, hingen Zettel mit realen anonymisierten Erfahrungsberichten von Mitschüler*innen über sexistische Vorfälle, die von KSOF gesammelt worden waren.

Zu wenig Präventionsarbeit und kaum Studieninhalte zur sexuellen Bildung

Mit ihren Erfahrungen sind die Schüler*innen nicht allein. Die vom Kultusministerium Hessen in Auftrag gegebene SPEAK-Studie aus dem Jahr 2017 zeigt, dass ein Viertel aller befragten Jugendlichen in den Jahrgangsstufen neun und zehn von allgemeinbildenden Schulen bereits sexualisierte Gewalt jeglicher Form erlebt haben. Von den über 2.000 befragten Schüler*innen gaben 55 Prozent der Schülerinnen an, Opfer sogenannter nichtkörperlicher sexualisierter Gewalt geworden zu sein. Bei den Schülern sind es 40 Prozent. Fast ein Drittel der befragten Schülerinnen hat sexualisierte Gewalt mit direktem Körperkontakt erlebt. Fünf Prozent der Schüler berichten von solchen Erfahrungen.

Jugendliche erfahren sexualisierte Gewalt jeglicher Form in ihrer Lebensrealität, Täter*innen in dieser Altersstufe sind mehrheitlich Gleichaltrige, und Schulen sind ein Ort, an dem viele Gleichaltrige zusammenkommen. Die Institution Schule hat in diesem Kontext eine besondere Rolle: Schulen sollten für Schüler*innen Platz schaffen, um über Erfahrungen zu sprechen und um erlebte Gewalt aufzuarbeiten – so die Idealvorstellung. Eine Untersuchung des Deutschen Jugendinstituts zeigt: Das Gegenteil ist der Fall. Von insgesamt 7.500 befragten Schulen konnten lediglich 13 Prozent ein umfassendes Schutzkonzept zur Prävention sexualisierter Gewalt im Schulkontext vorlegen.

Die Grundlagen für diese Entwicklung werden teilweise schon in der Ausbildung der zukünftigen Lehrkräfte gelegt. Dort werden Sexismus oder sexualisierte Gewalt kaum thematisiert. In einer Umfrage des Forschungsprojekts „Sexuelle Bildung für das Lehramt“ mit 2.771 Studierenden auf Lehramt, Personen im Referendariat und in der Schule tätigen Lehrkräften gaben 2020 lediglich 20 Prozent an, während des Studiums im Bereich sexuelle Bildung ausgebildet worden zu sein. Mehr noch: 97 Prozent aller Befragten wünschen sich sogar mehr Aus- und Weiterbildungsangebote zur sexuellen Bildung. Doch die gibt es häufig nicht, und dort, wo sie vorhanden sind, sind sie mitunter mangelhaft.

Weitermachen! KSOF geben nach ernüchternder Antwort nicht auf

Die Institution Schule muss sich bewusst machen, dass sie kein sexismusfreier Raum ist, um ihrer besonderen Rolle in der Aufklärungs- und Präventionsarbeit nachzukommen. Was also antwortete die Bildungsministerin auf den Brief der Schüler*innen? Mehr als das Gesamtfazit, dass in den Schulen eigentlich alles ganz gut laufe, bekam KSOF nicht als Erwiderung. „Lehrkräfte werden mit Orientierungs- und Handlungsrahmen unterstützt, die eine Kompetenzentwicklung der Lernenden in den Blick nehmen“, heißt es. Der Link zum Bildungsserver Berlin-Brandenburg, der hier als Verweis angegeben ist, führt zu einer Reihe von Broschüren und Podcasts sowie freiwilligen Bildungsangeboten über sexuelle Bildung für Lehrpersonen.

Unterkriegen lassen sich die Schüler*innen davon jedoch nicht. Aktuell läuft eine Petition, die die Überarbeitung der Lehrpläne fordert. Auf dem Instagram-Kanal der KSOF leisten die Schüler*innen weiter Aufklärungsarbeit über feministische und geschlechtergerechte Themen. Dadurch gelingt es KSOF, Mitstreiter*innen niedrigschwellig zu sensibilisieren und zu informieren. „Wir planen, uns noch weiter in Deutschland zu vernetzen, um noch größer zu werden. Mit mehr Leuten können wir auch deutschlandweite Demonstrationen oder andere Aktionen starten“, sagt Emma. Die Bundesministerin für Bildung und Forschung wird also wieder von den Schüler*innen hören. 

Der Text ist zuerst erschienen im ­Onlinemagazin EDITION F.