lautstark. 05.10.2021

Diversity und Schule: Ein neues Miteinander

AntidiskriminierungQueer und DiversityAntirassismus

Netzwerk „Schule der Vielfalt“

„Schwul“ gilt in vielen Schulen noch immer als Schimpfwort. Mehr als 50 Prozent der lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans*, inter* und queeren Jugendlichen berichten deshalb von Anfeindungen nach ihrem Coming-out, wie eine bundesweite Studie aus dem Jahr 2015 des Deutschen Jugendinstituts belegt. Hier setzt das Programm „Schule der Vielfalt“ an: In einem bundesweiten Netzwerk kämpfen Schulen gegen Homo- und Transphobie – und treten für die Akzeptanz unterschiedlicher Lebensweisen ein.

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  • Ausgabe: lautstark. 06/2021 | Gender und Diversity: Wen siehst du?
  • Autor*in: Anne Petersohn
  • Funktion: freie Journalistin
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Mit 47 Projektschulen in NRW sei das Schulnetzwerk vergleichsweise klein, habe „aber Strahlkraft“, erklärt Frank G. Pohl, Leiter der NRW-Fachberatungsstelle „Schule der Vielfalt“. Und das werde vermutlich auch in Zukunft so bleiben. Denn trotz anderslautender Bekundungen in der Öffentlichkeit seien Homo- und Transfeindlichkeit noch immer schwieriger zu vermitteln als andere Themen. „Schüler*innen und Lehrkräfte vertreten zwar weithin die Meinung, dass Diskriminierung und Ausgrenzung an ihren Schulen nicht geduldet werden. Doch die Realität ist häufig eine andere“, sagt Frank G. Pohl. So machten viele Jugendliche die Erfahrung, dass transfeindlichen Aussagen im Schulalltag nicht widersprochen werde. „Das mag auch daran liegen, dass nicht alle Lehrkräfte das Thema als wichtig ansehen.“ Die Einbindung der pädagogischen Fachkräfte sei deshalb von entscheidender Bedeutung, wenn sich Schulen auf den Weg zu einer neuen Art des Miteinanders machen wollten.

Projektteilnahme ist zugleich Selbstverpflichtung

In vielen Fällen gehe die Initiative von der Schüler*innenvertretung aus. „Wenn Schüler*innen zu mir kommen, empfehle ich ihnen, zunächst die Lehrkräftekonferenz und die Schulpflegschaft von einer Teilnahme am Programm zu überzeugen. Denn nur mit einem Beschluss der Schulkonferenz kann eine Schule zur „Schule der Vielfalt“ werden.“ Der Kommunikationsprozess in den Gremien und die Anbahnung erster Projekte bräuchten Zeit, so die Erfahrung des Leiters der Fachberatungsstelle: „Zwischen der ersten Kontaktaufnahme und dem Projektstart vergeht in der Regel mindestens ein Jahr.“

Mit ihrer Zustimmung erkennt die Schulkonferenz eine Reihe von Qualitätsstandards an. Denn für teilnehmende Schulen ist die Projektteilnahme als „Schule der Vielfalt“ zugleich eine Selbstverpflichtung: Sie müssen regelmäßig Aktionen initiieren, die die LSBTIQ*-Akzeptanz fördern, und die Vielfalt der sexuellen Orientierungen und geschlechtlichen Identitäten fächerübergreifend im Unterricht thematisieren. „Zentral ist dabei die Auseinandersetzung mit der Geschlechterfrage. Wer nicht offen über Sexismus, Rollenbilder und damit verbundene Privilegien spricht, wird zwangsläufig scheitern“, betont Frank G. Pohl.

Die Bereitschaft zur Diskussion und Reflexion präsentieren teilnehmende Schulen auch nach außen. Mit dem Projektstart müssen sie das Projektschild gut sichtbar am Gebäude anbringen. „Lesbisch, schwul, bi, hetero, trans*: Wir formulieren dort noch einmal ganz deutlich, um welche Kategorien es geht“, sagt Frank G. Pohl, „und stoßen eine offene Auseinandersetzung an.“ Implizit würden so auch weitere Bereiche angesprochen, in denen Diskriminierung stattfindet, etwa Behindertenfeindlichkeit oder Antisemitismus.

Weiterbildung und Vernetzungstreffen sind wichtige Bausteine

Mit den zugrundeliegenden Mechanismen beschäftigen sich Lehrkräfte der Projektschulen regelmäßig in Fortbildungen. Denn auch die Weiterbildung der Fachkräfte gehört zu den Qualitätsstandards. So ist „Schule der Vielfalt“ nicht nur Schulnetzwerk und Beratungseinrichtung, sondern auch ein Programm für alle Schulen. Im Fokus der Fortbildungen stehen aktuelle Forschungsergebnisse und fachliches Grundlagenwissen, aber auch methodische Empfehlungen, etwa wenn es um den Umgang mit diskriminierenden Aussagen im Schulalltag geht. „Am Anfang klären wir wichtige Begriffe und überlegen, welche Vor- und Nachteile damit jeweils verbunden sind“, berichtet Frank G. Pohl. „Später werden die Inhalte dann spezifischer, auch mit Blick darauf, dass Lehrkräfte über die Projektteilnahme immer mehr Erfahrungen sammeln.“

Gleiches gilt für die Vernetzungstreffen auf regionaler und überregionaler Ebene. Dort kommen Schüler*innen, Lehrkräfte und Elternvertreter*innen teilnehmender Schulen miteinander ins Gespräch. „Gerade Schulen, die neu in das Programm aufgenommen wurden, nehmen hier viele Anregungen mit, beispielsweise für die Ausgestaltung von Aktionstagen“, erklärt Frank G. Pohl. Wer schon länger dabei sei, interessiere sich für andere Themen: „Da geht es dann darum, wie sich Vielfalt noch stärker in den Schulprogrammen verankern lässt, und welche Formulierungen dafür gewählt werden können.“ Besonders wertvoll sei die Erkenntnis, dass sich die Arbeit an den Qualitätsstandards auszahlt: „Die Schulen berichten uns, dass sich das Schulklima positiv verändert.“

Vielfalt ist Thema im Unterricht und darüber hinaus

Diese Einschätzung teilt Daniela Gremm, Lehrerin am Alexander-Hegius-Gymnasium in Ahaus. Seit Dezember 2018 ist ihre Schule Teil des Programms. „Wir haben uns seit Langem mit dem Thema Vielfalt beschäftigt und uns bereits als „Schule ohne Rassismus“ engagiert. Trotzdem erlebe ich bei vielen ein Gefühl von Sicherheit, seit wir „Schule der Vielfalt“ sind und unsere Haltung noch einmal öffentlich gemacht haben“, sagt Daniela Gremm. Der Umgang mit geschlechtlicher und sexueller Vielfalt sei offener geworden und habe für viele Schüler*innen eine große Bedeutung. „Dabei ist unser Ansatz intersektional und deckt weitere Bereiche von Vielfalt ab. Wir zeigen, dass es einen Mehrwert hat, vielfältig zu sein.“

Im Unterricht finden sich immer wieder Einheiten, die diese Überzeugung manifestieren. Im Religionsunterricht etwa diskutieren Jugendliche über das Transgender-Foto- und Textprojekt „Max ist Marie: Mein Sohn ist meine Tochter ist mein Kind“ der Fotografin Kathrin Stahl. „Was bedeutet es, transident zu sein, und wie fühlen sich Betroffene? Das sind einige der Fragen, die wir mit den Schüler*innen diskutieren“, sagt Daniela Gremm. Im Pädagogikunterricht spielt das Thema Identität ebenfalls eine Rolle, etwa mit Blick auf den Einfluss stereotyper Rollenbilder auf die Persönlichkeitsentwicklung. „Darüber hinaus versuchen wir zunehmend, unsere Sprache zu nutzen: Wenn in Textaufgaben im Matheunterricht bisher von Herrn und Frau Meier die Rede war, machen wir daraus beispielsweise Herr und Herr Meier. So erzeugen wir ein Abbild gesellschaftlicher Realität.“

Auch in Gottesdiensten und außerunterrichtlichen Projekten nimmt Vielfalt Raum ein: Neben einer Kooperation mit den Städtischen Bühnen Münster unter dem Motto „Celebrate Diversity“ gibt es eine Arbeitsgemeinschaft, die Workshops zu Identität und Sexualität anbietet. Bei der Auftaktveranstaltung zu Beginn jedes Schuljahres kommen durchschnittlich 40 Schüler*innen ab der siebten Klasse zusammen, schätzt Daniela Gremm. „Dort wird dann festgelegt, wer sich in welchem Bereich engagieren möchte.“ Zusätzlich können sich interessierte Schüler*innen als Trainees für Antidiskriminierung ausbilden lassen. Sie greifen ein, wenn Kinder und Jugendliche im Schulalltag Diskriminierung erfahren. „Wir haben beobachtet, dass gerade diese Peer-to-Peer-Arbeit sehr wertvoll ist.“

Reflexion geht immer Veränderungen voraus

Inzwischen arbeitet ein Team aus sechs Lehrkräften regelmäßig zum Thema Diversity. Diese Fachkräfte nehmen auch an den Fortbildungen des Netzwerks „Schule der Vielfalt“ teil. „Wir profitieren sehr vom Austausch mit anderen Schulen und von der Möglichkeit, bei Fragen eine feste Anlaufstelle zu haben“, erklärt Daniela Gremm. Gerade in ländlichen Regionen wie dem Münsterland sei das Thema geschlechtliche und sexuelle Vielfalt nicht immer präsent. „Hier wäre es schön, noch mehr Impulse zu bekommen, wie wir mit bestimmten Herausforderungen umgehen.“

Am Anfang stehe die Reflexion persönlicher – auch unbewusster – Rollenbilder und Stereotype. Erst mit diesen Erkenntnissen sei Veränderung möglich: „Wichtig ist, dass sich neue Strukturen aus der Mitte der Schulgemeinde heraus entwickeln. Nur so kann eine Haltung entstehen, die alle mitnimmt.“

Initiative gegen Homo- und Transfeindlichkeit

Schule der Vielfalt

Seit mehr als zehn Jahren gibt es die Initiative, aus der das heutige Netzwerk „Schule der Vielfalt“ hervorgegangen ist. Es hat sich viel getan. Doch das reicht noch lange nicht aus. Die Akteure stoßen weitere dringend nötige Veränderungen an.

  • Die ursprüngliche Initiative zu „Schule ohne Homophobie – Schule der Vielfalt“ wurde 2008 von der damaligen lesbischschwulen Schulaufklärung (heute: SCHLAU) und der Landeskoordination der Anti-Gewalt-Arbeit für Lesben, Schwule und Trans* in NRW ins Leben gerufen. Seit dem Schuljahr 2012/ 2013 ist das NRW-Schulministerium Kooperationspartner; seit 2015 gibt es das Bundesnetzwerk „Schule der Vielfalt“ mit Ansprechpersonen in 14 Bundesländern. Die Projektverantwortlichen wünschen sich dafür noch eine koordinierende Stelle auf Bundesebene.
  • Der Einsatz gegen Homo- und Transfeindlichkeit hält auch Einzug in die Lehrkräfteausbildung in NRW: In zwei Modellprojekten in Hagen und Lüdenscheid ist das Thema bereits verpflichtender Bestandteil der Ausbildungsprogramme für alle Lehramtsanwärter*innen. Die Akteure des Netzwerks „Schule der Vielfalt“ möchten diese Ansätze weiter ausbauen und systematisch in den Leitlinien verankern.