lautstark. 05.10.2021

Diversity und Kita: Aufwachsen ohne Schubladendenken

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Geschlechtliche Vielfalt in Kitas

Schon in der Kita erfahren Kinder mitunter ­Diskriminierung, wenn sie sich nicht als „typische“ Jungs oder Mädchen wahrnehmen. Auf dem Weg zu einem neuen Umgang mit tradierten Rollenmustern brauchen pädagogische Fachkräfte vor allem eins: die Bereitschaft, sich mit gesellschaftlichen und persönlichen Wertvorstellungen auseinanderzusetzen.

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  • Ausgabe: lautstark. 06/2021 | Gender und Diversity: Wen siehst du?
  • Autor*in: Anne Petersohn
  • Funktion: freie Journalistin
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„Im Rahmen der Inklusion ist genderbewusste Pädagogik eine Querschnittsaufgabe in der Kita“, erklärt Linda Engels, gelernte Erzieherin und ehrenamtliche Kitaexpertin der GEW NRW. Die Auseinandersetzung mit dem Thema bewege sich zwischen zwei Polen: „Einerseits gibt es die Idee einer Aberkennung von Differenzen im Sinne von Geschlechterneutralität, andererseits werden Differenzen betont.“

Ein Großteil der pädagogischen Fachkräfte sei überzeugt davon, Geschlechtergerechtigkeit im Kitaalltag zu leben und Stereotypen entgegenzuwirken, hat Linda Engels beobachtet. Sie arbeitet als Lehrerin an einem Berufskolleg und unterrichtet dort angehende Erzieher*innen. Doch die Realität sei häufig eine andere: „In den Kitas begegnen mir immer wieder Situationen, wo Kinder sehr klassische Rollenbilder reproduzieren. Pädagogische Fachkräfte zeigen sich in diesen Situationen häufig handlungsunsicher und verstärken so – oft unbewusst – Klischees. So wird im Kitaalltag beispielsweise positiv konnotiert, wenn Mädchen Rosa tragen oder Jungen sich für Autos und Bagger interessieren. Hier werden unreflektiert Vorstellungen weitergegeben, die strukturelle Benachteiligung in der Gesellschaft weiter befördern.“

Geschlechtliche Vielfalt braucht einen höheren Stellenwert in der Fachkräfteausbildung

Einen Beitrag dazu leisteten auch Lehrbücher, die in der Ausbildung von Erzieher*innen zum Einsatz kommen. „Die Bildungspläne sind veraltet. Sie reproduzieren Zweigeschlechtlichkeit, obwohl diese Vorstellung längst nicht mehr der gesellschaftlichen Realität und auch nicht dem Personenstandsgesetz entspricht.“ Wünschenswert sei deshalb nicht nur eine Überarbeitung der Materialien. „Das Thema sollte insgesamt einen höheren Stellenwert in den Kitas und auch in der Ausbildung von pädagogischen Fachkräften bekommen“, betont Linda Engels.

Genau um dieses Anliegen bemüht sich die Fachstelle Kinderwelten, ein Arbeitsbereich des Instituts für den Situationsansatz (ISTA) in Berlin. In Fortbildungen, Tagungen und Publikationen vermittelt die Fachstelle den Ansatz einer vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung an Kitas und Grundschulen: „Unser Ziel ist, dass sich Kinder mit gesellschaftlicher Vielfalt wohlfühlen und sich angenommen fühlen. Du bist richtig so, wie du bist, und du gehörst dazu – das ist die Botschaft“, erklärt Gabriele Koné, pädagogisch-wissenschaftliche Mitarbeiterin und Expertin für vorurteilsbewusste Materialien.
Kinder seien von Beginn an sehr aufmerksame Beobachter ihrer Umwelt und der gesellschaftlichen Machtverhältnisse, die sich darin explizit und implizit spiegeln. Welche Berufe üben weiblich gelesene Personen aus, welche männlich gelesene? Welchen Hautton haben die Pädagog*innen? Wen schauen Erwachsene an, wem schenken sie besonders freundliche Blicke, wen ignorieren sie? Aus solchem Alltagserleben leiteten Kinder gesellschaftliche Wertvorstellungen ab und übernähmen auch damit verbundene Ausgrenzung und Diskriminierung, erklärt Gabriele Koné. Gerade deshalb sei es wichtig, pädagogischen Fachkräften diese oft unbewussten Vorgänge aufzuzeigen und ihnen alternative Handlungsideen an die Hand zu geben.

Selbstreflexion der Beschäftigten als Teil des Veränderungsprozesses

Zentraler Baustein der Fortbildungen ist die Selbstreflexion der Teilnehmenden: „Welche Werte habe ich? Was denke ich über Geschlechterrollen, und welche Rolle spielen meine Wertvorstellungen für mein pädagogisches Handeln? Diese Fragen müssen zwingend beantwortet werden, bevor ein Veränderungsprozess in Gang gesetzt werden kann“, erklärt Gabriele Koné. Dabei gehe es auch um die bewusste Auseinandersetzung mit Benachteiligung und nicht wahrgenommenen Privilegien. „Das Thema Gender ist häufig gut zu reflektieren, weil sich ein Großteil des Kitapersonals als weiblich definiert. Die Fachkräfte haben oft aus ihrer persönlichen Erfahrung ein Bewusstsein dafür, dass es Ungleichheiten aufgrund der Geschlechtsidentität gibt. Andere Bereiche, in denen Diskriminierung stattfindet, sind nicht immer so leicht zugänglich.“

Die Veranstaltungen der Fachstelle Kinderwelten zeigen auch auf, wie sich Vielfalt diskriminierungssensibel vermitteln lässt. Das Thema sollte demnach möglichst selbstverständlich gelebt werden und sich in allen Bereichen des Kitaalltags wiederfinden, etwa bei der Zusammensetzung des Teams und in den Familienmodellen. Wo Möglichkeiten zur Veränderung aufgrund äußerer Strukturen begrenzt sind, könnten Kooperationen mit Initiativen in der Nachbarschaft eine Lösung sein, rät Gabriele Koné. „Auch dort lässt sich Vielfalt erleben.“ So könnten schon kleine Kinder erfahren, dass sich einige Menschen beispielsweise in ihrer Geschlechtsidentität oder sexuellen Orientierung von anderen unterscheiden: „Kinder nehmen diese Dinge wie selbstverständlich an – sie haben kein Problem damit, solange die Erwachsenen kein Problem daraus machen.“

Spielzeug und Kinderbücher reproduzieren Stereotype

Auch die Lernumgebung der Kinder spielt eine Rolle. Denn Spielzeug und Kinderbücher reproduzieren allzu häufig Stereotypen. „Leider weisen Bücher, gerade für Kinder unter drei Jahren, sehr wenig Vielfalt auf. Themen wie Trans- oder Intersexualität kommen auch in Büchern für ältere Kinder selten vor“, sagt Gabriele Koné. Doch es gibt Ausnahmen. Die Fachstelle Kinderwelten spricht deshalb regelmäßig Empfehlungen für vorurteilsbewusstes Spielzeug und Kinderbücher aus – mit Erfolg: „Wir bekommen viele positive Rückmeldungen, wenn wir vorurteilsbewusste Materialien zu einem bestimmten Thema vorstellen. Vielen wird erst durch solche Anregungen bewusst, dass sie Diskriminierung in ihrem pädagogischen Alltag reflektieren sollten.“

Eine, die sich regelmäßig auf den Empfehlungslisten der Fachstelle Kinderwelten wiederfindet, ist Constanze von Kitzing. Mit ihren liebevoll illustrierten Geschichten möchte die Kinderbuchautorin und -illustratorin dazu beitragen, Kindern eine freie Entwicklung abseits von Schubladendenken zu ermöglichen. „Ich möchte durch die natürliche Darstellung von Vielfalt sowohl die Offenheit der Kinder bewahren und fördern als auch möglichst unterschiedlichen Kindern die Möglichkeit geben, sich in den Charakteren wiederzufinden.“ Denn Kinder bräuchten die Möglichkeit, ihre menschlichen Stärken und Schwächen kennenzulernen – unabhängig von Herkunft, Geschlecht oder anderen Merkmalen.

Kinder lernen Geschlechterklischees durch Familie und Gesellschaft kennen

Constanze von Kitzings Bücher bilden Kinder mit ganz unterschiedlichen Eigenschaften und Vorlieben ab: Jungs, die sich als Einhörner verkleiden oder Wäsche aufhängen, Mädchen, die Fußball spielen, dicke und dünne Kinder mit unterschiedlichen Hauttönen, daneben solche, die im Rollstuhl sitzen oder von zwei Vätern großgezogen werden. „Bei meinen Lesungen in den Kitas merke ich, dass diese Kategorien für Kinder erst mal keine vordergründige Bedeutung haben. Allerdings lernen sie schnell, was in der Familie oder Gesellschaft als normal gilt, und beginnen dann beobachtete Abweichungen infrage zu stellen.“

Nicht zuletzt durch die geschlechtsspezifische Vermarktung von Produkten entwickelten Kinder auch Vorstellungen darüber, was als „typisch Junge“ und „typisch Mädchen“ gilt. „Da ist es wichtig, dass wir als Erwachsene offen bleiben. Wir sollten versuchen, die Vorlieben und Interessen unserer Kinder, unabhängig von ihrem Geschlecht und unserer eigenen Prägung, wahrzunehmen.“ Im Gespräch mit den Kindern könnten Erwachsene auch Geschlechterklischees infrage stellen oder, wo nötig, eine klare Haltung zu gegendertem Spielzeug äußern, so Constanze von Kitzing.

Bücher böten hier einen besonders guten Gesprächsanlass. „Bilder und Geschichten prägen Kinder und ermöglichen es, dass sie andere Realitäten als die eigene kennenlernen und sich so auch in andere Menschen hineinversetzen können. Sie können sich für Vielfalt öffnen und werden für Diskriminierung sensibilisiert.“