lautstark. 02.10.2020

Wir müssen mehr in Bildung investieren

BildungsfinanzierungChancengleichheitPolitische BildungVersorgung

Kommentar zur Bildungsfinanzierung

Warum ist Deutschland in Sachen Bildungsfinanzierung so schlecht aufgestellt? Warum hakt es so bei der Modernisierung des Bildungssystems? Politikwissenschaftler Tobias Kaphegyi sieht die Antworten auf diese Fragen im konservativen Wohlfahrtsstaatsmodell sowie in der neoliberal geprägten Finanz- und Steuerpolitik Deutschlands begründet.

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  • Ausgabe: lautstark. 06/2020 | Geld – Gute Bildung ist mehr wert
  • Autor*In: Tobias Kaphegyi
  • Funktion: Politikwissenschaftler und Mitglied der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik
Min.

Frau M. ist spitze! Sie ist Grundschullehrerin, und ich vermute, nicht mehr weit von ihrem Ruhestand entfernt. Trotzdem ist sie in den vergangenen Monaten zur Topform aufgelaufen. Schon ohne die Covid-19-Einschränkungen drohte die Unterrichtsversorgung in der Grundschule meiner Tochter aufgrund unvorhersehbarer
Ereignisse, wie Schwangerschaften im Kollegium, zusammenzubrechen. Frau M. unterrichtete auf einmal in so vielen Klassen, dass ich im Gegensatz zu dieser trotz allem immer freundlichen und entspannten Dame den Überblick darüber verlor. Ich befürchte, dass Frau M. auch im aktuellen Schuljahr kaum Atempausen gegönnt werden. Denn die Corona-Pandemie wird auch weiterhin für erschwerte Arbeitsbedingungen sorgen, sei es durch Personalausfälle oder durch den doch wieder notwendigen Distanzunterricht.

Zugleich werden Ganztagsanspruch, Inklusion, Digitalisierung und weitere Modernisierungen benötigt und sollen eingeführt werden. Jedoch ohne entsprechende Aufstockung der Personaldecke bei Lehrkräften, Schulsozialarbeiter*innen, Erzieher*innen und weiteren Fachkräften?! Eine Alltagserfahrung, die viele Kolleg*innen im gesamten Bildungsbereich – vom Elementarbereich über Schule bis hin zur Erwachsenen- und Weiterbildung – schon vor dem pandemiebedingten Shutdown teilten. Wie soll das gehen? Und wo klemmt’s?

Verankerung im konservativen Wohlfahrtsstaatsmodell

Beginnen wir im Großen: Der Wandel des Kapitalismus und seiner Produktionsverhältnisse hat Bildung immer wichtiger werden lassen. Die sogenannte Kompetenzrevolution in den Anforderungen an Arbeitnehmer*innen hat Folgen, die wir beispielsweise an der immer stärkeren Verlagerung des Arbeitsvolumens hin zu immer mehr Kolleg*innen mit Hochschulabschluss beobachten können. Diese Anforderung der Modernisierung in der Arbeits- und Bildungswelt trifft auf einen Entwicklungspfad des deutschen Bildungsstaats, der durch zwei
ineinandergreifende Grundzüge gekennzeichnet ist.

Der erste Grundzug besteht darin, dass das deutsche Bildungssystem historisch geprägt ist durch seine Verankerung im konservativen Wohlfahrtsstaatsmodell. Erkennbar ist das daran, dass viele sogenannte Sorgearbeiten bis weit in die 1990er-Jahre der familiären Sphäre und damit patriarchal den (Haus-)Frauen in der
Tradition der Ein-Ernährer-Ehe aufgezwungen wurden. Deutschland steht vor dem Problem, dass eine Modernisierung – zum Beispiel zugunsten einer stärkeren Erwerbstätigkeit der immer besser ausgebildeten Frauen sowie einer verbesserten Inklusion sozial benachteiligter Gruppen – der althergebrachten, konservativen
Bildungsstrukturen massive Reformbedarfe mit sich bringt.

So musste beispielsweise in Westdeutschland Anfang der 1990er-Jahre mit den Kitas ein vorschulischer
Bildungsbereich, insbesondere ein U3-Bereich, aus dem Boden gestampft werden. Und die Ausweitung des Bildungssystems setzt sich weiter fort: Ganztagsschulen, Mensen, Nachmittagsbetreuungen, Schüler*innenhorte und vieles mehr müssen im Gegensatz zur viel früher erfolgten Modernisierung in anderen Ländern hier erst aufgebaut werden. Neuerungen dieser Art kosten Geld, machen die Gesellschaft aber auch zukunftsfähig. 

Investitionen als möglicher Transformationsmotor

Bildungsausgaben sind Zukunftsinvestitionen, die extrem rentabel für die ganze Gesellschaft sind. So zeigen Studien, dass als Direktinvestition getätigte Bildungsausgaben das Wirtschaftswachstum auf mehrere Arten fördern, beispielsweise durch den Bau von Bildungseinrichtungen. Insbesondere die Errichtung von Kitas und Ganztagsschulen ermöglicht es zudem mehr Frauen, erwerbstätig zu sein. Daraus folgt der Abbau von 
Fachkräfteengpässen, die Erhöhung der Anzahl der Erwerbspersonen und steigender Konsum durch höhere Einkommen. 

Die alte neoliberale Ideologie, der Staat würde private, ökonomische Initiativen ausbremsen, war schon immer kaum belegbar und ist in Bezug auf Bildungsinvestitionen absurd. Außerdem scheint heute klar: Da inklusiv wirkende Bildungsinvestitionen die soziale Ungleichheit zurückdr.ngen, sorgen sie zusätzlich für mehr
Wachstum. Das zeigen beispielsweise Studien der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung (OECD), des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) oder auch des Internationalen Währungsfonds (IWF). 

Bildungsausgaben ungleich zu deutscher Wirtschaftskraft

Die im September 2020 veröffentlichte Vergleichsstudie der OECD Bildung auf einen Blick stellt aber wieder einmal heraus, dass wir für moderne und stärker inklusive Bildungsstrukturen  Ausgaben benötigen, die in
Relation zur Wirtschaftsleistung um ein bis zwei Prozentpunkte des Bruttoinlandsprodukts (BIP) höher
ausfallen sollten. Wenn man private und öffentliche institutionengebundene Bildungsausgaben in Relation zum BIP über alle Bildungsstufen hinweg vergleicht, also von der Kita bis zur Hochschule, kommt Deutschland mit circa 5,1 Prozent in den Ausgabenbereich von ökonomisch deutlich schwächeren Ländern wie Polen oder Ungarn.

Die Spitzenreiter, die skandinavischen Länder oder Neuseeland, geben jährlich bis zu 8 Prozent ihres BIP für institutionengebundene Bildung aus. Übertragen auf das deutsche BIP wären das jährlich ungefähr gigantische 90 Milliarden Euro Mehrausgaben für Bildung. In Skandinavien arbeiten deshalb 25 Prozent und mehr der Erwerbspersonen im öffentlichen Dienst und garantieren so ein vorbildlich inklusives Bildungs- und Sozialsystem. In Deutschland sind es nur 10 bis 15 Prozent. Warum geben wir im Vergleich mit anderen so wenig für
Bildung, pädagogisches Personal und die Modernisierung dieses Bereichs aus, obwohl wir so einen großen Nachholbedarf haben? Und das trotz unserer ökonomischen Möglichkeiten als eine der stärksten
Wirtschaftsnationen.

Abhängig von neoliberaler Finanz- und Steuerpolitik

Das liegt am zweiten Grundzug deutscher Bildungspolitik. Die Bildungsfinanzierung, und damit zugleich die Modernisierung des Bildungssystems, ist abhängig von der vorherrschenden Ideologie in der Finanz- und
Steuerpolitik: Diese ist nun schon seit fast 40 Jahren neoliberal geprägt. Das heißt, dass eine Modernisierung des konservativen Bildungsstaats vor allem auch dadurch verhindert wird, dass die steuerlichen Beiträge der Unternehmen, der Reichen und Vermögenden massiv reduziert wurden.

Allein die Steuergesetzgebung der Bundesregierungen seit 1998 bringen dem Staat jährliche Einnahmenverluste von bis zu 60 Milliarden Euro. Die Modernisierung befindet sich in einem neoliberalen Finanzgefängnis aus ungerechter Steuerpolitik, Unterfinanzierung, Schuldenbremse und schwarzer Null. Diese ideologische Steuerpolitik, beworben als „generationengerecht“, „nachhaltig“ und „Mehr Netto vom Brutto“, begegnet den Beschäftigten und Bürger*innen in Form von dauerhaft leeren Kassen und permanentem Sparzwang wieder, wobei sie die Ursache meist nicht mehr zuordnen können. 

Goldene Regel der Finanzwissenschaft beachten 

Das Bittere: Die Hoffnung, dass Covid-19 wenigstens dieses ideologische Gefängnis auf sinnvolle Art sprengt, hat sich nur bedingt verwirklicht. Die kurzfristige Möglichkeit, sinnvolle Investitionen zu tätigen, wurde nur
teilweise genutzt, beispielsweise für die Anschaffung von digitalen Endgeräten für Lehrkräfte und Schüler*
innen sowie für den viel zu geringen Ausbau von Ganztagsplätzen. Das aufgelegte Konjunkturprogramm
verbrennt teilweise Geld, das dringend in Bildung und Soziales investiert werden sollte.

Allein die 20 Milliarden Euro für eine zeitlich begrenzte Absenkung der Mehrwertsteuer bedingt keine strukturelle Modernisierung, auch wenn dadurch kurzfristig die Wirtschaft gestärkt wird. Und nach diesen Jahren der pandemiebedingten Konjunkturprogramme droht eine Rückkehr des ideologischen, neoliberalen Gefängnisses mit noch dickeren Mauern und noch krasserer Sparpolitik. So sinnvoll eine höhere Verschuldung des Staates in der heutigen Situation ist, desto wichtiger ist die goldene Regel der Finanzwissenschaft:

Heutige Verschuldung sollte in Zukunftsinvestitionen wie Bildung und Inklusion, aber auch in Infrastruktur und Modernisierung gesteckt werden. Es ist Zeit, dass wir uns für eine andere Steuer-, Finanz- und Bildungspolitik einsetzen. Höhere Steuern auf Reichtum und Vermögen könnten eine investive Bildungs- und Sozialpolitik 
finanzieren, und gute Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst würden die wirtschaftliche Entwicklung anschieben. Es geht um die Modernisierung unserer Gesellschaft – ohne Frau M. und andere Kolleg*innen in den Burn-out zu treiben.