lautstark. 20.10.2022

Toleranz lernen und leben am Carl-Reuter-Berufskolleg

AntirassismusAntidiskriminierungBerufskolleg

Vielfalt als Ressource

Vielfalt ist Programm am Carl-Reuther-Berufskolleg in Hennef: Hier lernen und lehren Schüler*innen und Lehrer*innen aus 53 Nationen. Schulpfarrerin Eva Zoske-Dernóczi erzählt, wie alle gemeinsam gegen Diskriminierung und Rassismus kämpfen. Was Heimat für jede*n Einzelne*n bedeutet, zeigen die Schüler*innen in einer Ausstellung.

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  • Ausgabe: lautstark. 05/2022 | Migration und Ankommen: Vielfalt ein zu Hause geben
  • Autor*in: Denise Heidenreich
  • Funktion: freie Journalistin
Min.

In der Eingangshalle des Carl-Reuther-Berufskollegs herrscht gähnende Leere an diesem Freitagmorgen um zehn. Die typische Pausenkulisse aus Stimmen, Lachen und Schritten ist gerade verstummt, die Schüler*innen sind in die Unterrichtsräume zurückgegangen. Nur der Geruch nach frisch aufgebackenen Brötchen hängt noch in der Luft. Eine orangefarbene Bank steht einsam vor einer dunklen Wand. Durch die Stille des weitläufigen Gebäudes dringt das Geräusch von festen, schnellen Schritten.

Ein grünes Klemmbrett unter dem Arm, geht die dunkelhaarige Frau über den grauen Boden zu den Stehtischen, um wenige Minuten später von ihrer Arbeit zu erzählen. Über Toleranz und Courage wird sie sprechen, über den unermüdlichen Einsatz, die vielen Aktionen gegen Diskriminierungen und Rassismus. Und über die Werte, die sie, die Schulpfarrerin, in ihrem Unterricht immer und immer wieder vermittelt. Weil man bei ihren Themen nicht stehen bleiben kann, sondern immer weiter Menschen sensibilisieren muss.

Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage: kein Titel, sondern Selbstverpflichtung

Eva Zoske-Dernóczi arbeitet seit 2013 an der Carl-Reuther-Schule in Hennef, die im Mai 2018 als erstes Berufskolleg im Rhein-Sieg-Kreis Teil des bundesweiten Netzwerks „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ (SoR-SmC) wurde. Die Initiative zu der Bewerbung ging von der damaligen Schüler*innenvertretung aus, 1.900 Schüler*innen hatten sich in einer organisierten Unterschriftenaktion gegen Rassismus ausgesprochen. „Dieser Titel ist kein Preis, sondern eine Selbstverpflichtung“, erklärt Eva Zoske-Dernóczi.

„Für uns bedeutet das, dass wir uns aktiv für Menschenrechte und gegen jede Form der Diskriminierung starkmachen. Und da die Schüler*innenvertretung jährlich wechselt, war für mich klar, dass ich das Thema weiterführen werde. Bei über 2.600 Schüler*innen, 110 Lehrer*innen und insgesamt 53 Nationalitäten an unserer Schule bedarf es vieler Aktionen, um diese Werte in Taten umzusetzen, das Schulklima zu verbessern und über den Tellerrand einzelner Schulbereiche und Fächer hinauszuschauen.“

Zahlreiche Aktionen, ein Ziel: ein friedliches und diskriminierungsfreies Zusammenleben

Seitdem das Berufskolleg zum Netzwerk SoR-SmC gehört, finden deshalb regelmäßig Projekttage und Aktionen statt, die Eva Zoske-Dernóczi als Leiterin der sogenannten Courage-AG federführend organisiert und koordiniert. Ihr liegt es am Herzen, dass sich die Schüler*innen immer wieder auf unterschiedliche Art und Weise mit den Themen Rassismus und Diskriminierung beschäftigen können. „Zum Beispiel trat bei unserem allerersten Projekttag 2018, der zum 70. Jahrestag der Menschenrechte stattfand, das politische Kinder- und Jugendtheater Theatertill in der Aula auf.

Opfer und Täter sprachen über ihre Gewalterlebnisse, was am Ende als Theaterstück enttarnt wurde. Die Schauspieler taten dies, um ihr Publikum aufzurütteln, da alle Berichte auf realen Begebenheiten basierten“, erinnert sich Eva Zoske-Dernóczi. „Auch hatten wir schon Zeitzeugen vor Ort wie Ibrahim Arslan, der einen Brandanschlag von Neonazis überlebt hatte. Andere Klassen erlebten andere Referent*innen. Es gab zum Beispiel auch eine Schreibwerkstatt eines Journalisten: Schüler*innen der internationalen Flüchtlingsklassen erzählten ihre Fluchtgeschichten Schüler*innen des beruflichen Gymnasiums, die wiederum dabei halfen, diese aufzuschreiben.“

Neben solchen Projekttagen gibt es Referent*innen, zum Beispiel von der Initiative Meet a Jew, die über das Jahr verteilt in einzelne Klassen kommen. Auch lachend kann man sich mit Vorurteilen auseinandersetzen: Bei der Aktion Carl Reuther lacht – Mit Comedy gegen Vorurteile und Diskriminierungen boten die vier Comedians Sertaç Mutlu, Lukas Wandke, Timur Turga und Djavid insgesamt 500 Schüler*innen in zwei Runden ein humorvolles Programm. Am Ende standen sie der Schüler*innenschaft Rede und Antwort. Es ging darum, Stereotype zu hinterfragen, Klischees und Vorurteile abzubauen, was sehr gut gelang. Der Evangelische Kirchenkreis hatte die Veranstaltung finanziell ermöglicht.

lle Aktionen haben nach Eva Zoske-Dernóczi ein gemeinsames Bildungsziel: „Im Schulgesetz des Landes NRW steht als oberster Bildungs- und Erziehungsauftrag von Schule: ‚Ehrfurcht vor Gott, Achtung vor der Würde des Menschen und Bereitschaft zum sozialen Handeln zu wecken, ist vornehmstes Ziel der Erziehung.‘ Auch heißt es dort, Schüler*innen müssten lernen‚ für ein friedliches und diskriminierungsfreies Zusammenleben einzustehen. In der Praxis heißt das: Es geht darum, sich für wichtige Themen zu engagieren – und ganz besonders um Toleranz: Wir haben hier an der Schule eine Vielfalt, die wir nutzen können. Alle müssen lernen, einander zu respektieren und zu tolerieren.“

Eine Frage mit vielen Antworten: Schüler*innen gestalten Ausstellung Was ist Heimat?

Während ihrer Arbeit trifft Eva Zoske-Dernóczi täglich viele Schüler*innen mit interessanten Biografien, die aus ganz unterschiedlichen Ländern in den Rhein-Sieg-Kreis gekommen sind. „Als Schulpfarrerin unterrichte ich sie im Fach Religion oder begegne ihnen in meiner Beratungstätigkeit. Sie leben alle an anderen Orten, besuchen verschiedene Bildungsgänge und Schulbereiche. Jedoch eint sie ihre Motivation, die deutsche Sprache zu erlernen, sich in diese Gesellschaft zu integrieren und hier ein neues Zuhause zu finden“, erzählt Eva Zoske-Dernóczi. Vor diesem Hintergrund ist das Konzept für eine Ausstellung entstanden, die den Begriff Heimat in den Mittelpunkt rückt. Zwei der Schüler, die Eva Zoske-Dernóczi unterrichtet, sind Akar und Ledian. Offen sprechen sie im Beratungsraum, wie sie den Unterricht erleben und was für sie Heimat ist.

Herzblut und ein starkes Netz, das trägt

Toleranz ist das, was Eva Zoske-Dernóczi seit ihrem ersten Tag am Berufskolleg vermitteln will: „Im Religionsunterricht habe ich meinen Schüler*innen von Anfang an vor allem eins immer wieder mitgegeben: Einander zu achten und wertschätzend zu behandeln ist die Grundlage für ein menschliches Miteinander“, sagt die Seelsorgerin, die als Tochter ungarischer Einwanderer*innen selbst einen Migrationshintergrund hat. Als Kind politischer Flüchtlinge hatte sie in den 1970er- und 1980er-Jahren selbst viel Rassismus erlebt.

„Das war der Grund, warum ich mich bereits als Jugendliche gegen jede Art von Ausgrenzung eingesetzt habe.“ Das Herzblut, mit dem sie sich engagiert, sorgt dafür, dass sie bis heute ein starkes Netz aus Mitstreiter*innen und Unterstützer*innen aufgebaut hat: „Zum einen stimme ich mich eng mit der Schüler*innenvertretung ab, aber auch mit allen Politik-, Wirtschafts-, Religions- und Deutsch-Kolleg*innen. Auf dem Weg durch die Schulgänge offenbart sich das gesponnene Netz immer wieder: Der knallrote Sorgenlos-Briefkasten, in den Schüler*innen einen Zettel werfen können, die ein Beratungsgespräch wünschen. Ein Werkstattleiter, der mit Eva Zoske-Dernóczi über den Fortschritt des nächsten Bauprojekts spricht. Ein Lehrer, der ein paar Worte über seine Klasse wechseln möchte. Die Bibliothekarin, die sich mit der Schulpfarrerin über die anzuschaffenden Bücher abstimmt. 

Orangefarbene Bänke als Zeichen gegen Gewalt an Frauen

Das Netzwerk von Eva Zoske-Dernóczi reicht über die Schulmauern hinaus: Dank vieler Unterstützer*innen konnte 2021 zum 40. Jubiläum des Internationalen Tages zur Beseitigung der Gewalt gegen Frauen, dem Orange Day, am 25. November, eine besondere Aktion verwirklicht werden: Einige Klassen der Schulbereiche Metall-, Holz- und Gestaltungstechnik bauten insgesamt 16 orangefarbene Bänke, die anschließend im gesamtem Rhein-Sieg-Kreis an öffentlichen Plätzen aufgestellt wurden. Der Landrat, alle Bürgermeister*innen und Gleichstellungsbeauftragten des Rhein-Sieg-Kreises unterstützen das Vorhaben, die Kreisparkassen-Stiftung machte den Bau finanziell möglich.

Einige Bänke erhielten eingefräste Sprüche wie: „Liebe endet, wo Gewalt beginnt!“ oder „Kein Platz für Gewalt an Frauen“. An allen Bänken ist jeweils ein Schild mit der Nummer des bundesweiten Hilfetelefons Gewalt gegen Frauen, aber auch ein Hinweis auf regionale Hilfsangebote angebracht. Mit der öffentlichkeitswirksamen Aktion wird Gewalt an Frauen stärker in das Zentrum der öffentlichen Wahrnehmung gerückt und gezielt auf örtliche Schutz- und Unterstützungsangebote aufmerksam gemacht. Andere Klassen hatten eine große Ausstellung mit eigenen, digital erstellten Plakaten zu Diskriminierung und Gewalt an Frauen erstellt. Zudem wurde die Wanderausstellung der Kampagne „#freiundgleich“ der Evangelischen Kirche in Deutschland aufgebaut, in der sich alles um Menschenrechte dreht. 

Courage endet nicht mit dem Schulgong

Mit schnellen, festen Schritten geht Eva Zoske-Dernóczi gegen Mittag in die Schule zurück. Stehen bleiben gilt nicht, der Kalender für die nächsten Monate ist vollgepackt. Der nächste Orange Day rückt näher, einige Klassen bauen erneut zwölf orangefarbene Bänke, diesmal für die Stadt Bonn unter der Schirmherrschaft der Oberbürgermeisterin, finanziert vom Evangelischen Forum Bonn. Es wird wieder eine Ausstellung der UN zu Menschenrechten für alle Schüler*innen des Berufskollegs geben, zudem passend zum Orange Day eine Lesung gegen das Patriarchat von Boris von Heesen und eine Veranstaltung zur Extremismusprävention.

Im Jahrbuch des Rhein-Sieg-Kreises 2023 werden Geschichten von Schüler*innen veröffentlicht, die während des Schreibprojekts Herkunftsgeschichten – Migration – Heimat entstanden sind. Der unermüdliche Einsatz von Eva Zoske-Dernóczi gegen Diskriminierung und Rassismus, für ein friedliches Miteinander in der postmigrantischen Gesellschaft ist Herzensangelegenheit und Daueraufgabe zugleich. Es klingelt zur nächsten Pause und die Eingangshalle füllt sich wieder mit lautem Leben. Vor der Theke des Kiosks sammeln sich die ersten Jugendlichen. Auf der orangefarbenen Bank im Foyer sitzen zwei lachende Mädchen. Das Stimmengewirr schwillt an, während die bunte Schüler*innenschaft auf den Schulhof strömt.