lautstark. 20.10.2022

Sozialpädagogische Berufe: Was steht im Koalitionsvertrag?

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Bildung zwischen Wollen und Werden

Wie sind die Aussichten für frühkindliche Bildung und die sozialpädagogischen Berufe? Wir haben den Koalitionsvertrag von CDU und BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN analysiert.

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  • Ausgabe: lautstark. 05/2022 | Migration und Ankommen: Vielfalt ein zu Hause geben
  • Autor*in: Kerstin Salchow
  • Funktion: stellvertretende Vorsitzende der GEW NRW
Min.

CDU und BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN „wollen bestmögliche Bedingungen für das Aufwachsen aller Kinder schaffen“. So leitet die Landesregierung ihre bildungspolitischen Ziele in ihrem Koalitionsvertrag ein. Ein großartiger Ansatz! Im Folgenden unterscheidet sie bei ihren Zukunftsvisionen zwischen „wir wollen“ und „wir werden“. Ob sich daraus ein Unterschied generieren wird, werden wir im Verlauf der ersten schwarz-grünen Legislatur in NRW sehen.

Leerformel statt gleicher Bildungschancen

Aus „Chancengleichheit“ wurde im sogenannten Zukunftsvertrag der Koalitionspartnerinnen „Chancengerechtigkeit“, wobei die Begriffe jahrelang diskutiert wurden und es letztendlich die Chancengleichheit in das jüngste Kinderbildungsgesetz NRW (KiBiz NRW) geschafft hat. Denn Chancengerechtigkeit ist eine Leerformel, in die alles hineingepackt werden kann, meint die Bildungsgewerkschaft. Der maßgebliche Satz „Wir werden gleiche Bildungschancen für alle Kinder ermöglichen und Spitzenreiter in der Bildungsfinanzierung“ fehlt. Die GEW NRW wird die neue Landesregierung an ihren zügigen Entscheidungen für nachhaltige Verbesserungen in der frühkindlichen Bildung und für sozialpädagogische Berufe messen. Diskutiert und beteuert wurde lang genug.

Investitionen sind notwendig – jetzt!

NRW-Familienministerin Josefine Paul von BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN, die sich selbst als Chancenministerin vorstellt, betonte bei der GEW-aktiv-Tagung im August 2022, dass „Bildung mit ihrem Dreiklang von Bildung, Erziehung und Betreuung […] elementar für Bildungsgerechtigkeit und faire Zukunftschancen ist“. Die Regierung habe erkannt, dass sozialpädagogische Berufe systemrelevant sind, und allen sei klar: „Wenn wir nicht in die Kinder und die Jugendlichen investieren, dann werden wir am Ende auch keine Fachkräfte, auch nicht für die notwendige sozial-ökologische Transformation, rausbekommen.“ Wer also frühzeitig die Bildung von Kindern sichert, dem ist Chancengleichheit ein ehrliches Anliegen. Diese Erkenntnis ist da – wie sie sich auf die Menschen im Bildungssystem auswirkt, wird sich zeigen.

Kitakollaps verhindern

Das gesamte System der frühkindlichen Bildung in NRW ist seit Jahren unzureichend finanziert. Nun müssen viele Kitas ihre Angebote einschränken, flexibel auf coronainduzierte Personalausfälle reagieren und sogar schließen, wenn ihnen Fachpersonal fehlt. Erschwerend kommen die vielfältigen psychischen Belastungen nach fast drei Jahren Corona-Pandemie hinzu.

Das Land muss sich mehr an den Kosten beteiligen, damit die Qualität der Kindertagesbetreuung nicht von der finanziellen Leistungsfähigkeit der Kommunen oder Kreise abhängt. Viele Träger können ihr Personal nicht angemessen bezahlen, da die jährliche Erhöhung der Kindspauschalen nicht dem Gehaltszuwachs nach Tarifverhandlungen entspricht. Freie Träger sehen sich daher nicht mehr in der Lage, aktuelle Tarifergebnisse zu übernehmen. Personalkosten müssen aus Sicht der GEW NRW real abgerechnet und Sachkosten mit Gruppenpauschalen dauerhaft zugeteilt werden, um Planungssicherheit zu erreichen. Die entsprechenden Zusagen fehlen im Zukunftsvertrag für NRW.

Voraussetzungen first, Innovationen second

CDU und BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN „wollen den Einsatz von Landesmitteln für die Schaffung innovativer, noch bedarfsorientierterer Betreuungsangebote [...] gezielter gestalten“. Das Ruderboot Kita ist leckgeschlagen und die Besatzung hat keine Ressourcen, um neue Antriebe zu entwickeln. Die ganze Kraft wird benötigt, um das Wasser aus dem Boot zu schöpfen. Warum werden Bildungseinrichtungen aufgefordert, neue Projekte zu entwickeln, ohne personelle Ressourcen bereitzustellen?

Vielleicht ist die angekündigte Einberufung des Beirats Kindertagesbetreuung, um einen „strukturellen Austausch mit Expertinnen und Experten sowie Praktikerinnen und Praktikern zu ermöglichen“, eine Hilfe. Aber Moment mal: Wer sind eigentlich Expert*innen und wer sind Praktiker*innen? Diese Rollenzuschreibungen können nur ein redaktioneller Fehler sein, meint die GEW NRW. Denn wer, wenn nicht die Kolleg*innen vor Ort, sind die Expert*innen für frühkindliche Bildung in der Kita? Auch die Bildungsgewerkschaft bringt gerne ihre langjährigen Erfahrungswerte und Kompetenzen ein.

Schulsozialarbeit lost

Für den Bereich der sozialpädagogischen Berufe „werden“ CDU und BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN „mit der Entwicklung von Standards dafür sorgen, dass die Schulsozialarbeit fester Bestandteil von Schule wird“ und multiprofessionelle Teams eingerichtet werden. Das ist gut, aber die notwendigen Konkretisierungen fehlen. Schulsozialarbeit ist ein wichtiges Instrument, um Chancengleichheit zu fördern, und sie leistet Präventionsarbeit. Natürlich nur, wenn sie dauerhaft mit einem verbindlichen, wirkungsvollen Betreuungsschlüssel in Schulen implementiert ist. Ein oder zwei Schulsozialarbeiter*innen für 1.000 Schüler*innen – wie häufig vorzufinden – sind nur ein Tropfen auf den heißen Stein. 

Fachkräfteoffensive: Wunsch oder Wirklichkeit?

„Wir werden eine Fachkräfteoffensive etablieren und die Weichen für ein verbessertes Fachkräftemanagement stellen“, schreiben die Koalitionär*innen. Laut Josefine Paul wurde bereits eine Koordinierungsstelle Fachkräfte für Sozial- und Erziehungsberufe eingerichtet. Sie sagt: „Es braucht viele Maßnahmen. Mit dem Kitahelfer-Programm, das wir bis Ende des Jahres verlängert haben und verstetigen wollen, sorgen wir für dringend benötigte Entlastung. Daneben wollen wir Ausbildungskapazitäten erhöhen, den Quereinstieg erleichtern und Entwicklungsmöglichkeiten bieten.“

Gleichzeitig weist sie darauf hin, dass das Land dem Fachkräftemangel allein nicht begegnen kann und die Unterstützung der Kommunen, Träger, Kirchen, Gewerkschaften und vor allem der Beschäftigten benötigt. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt, wenn die Landesregierung die „Stundenaufstockungen für Bestandskräfte ermöglichen“ wird, den „Einsatz von Verwaltungsassistenzen und die dafür angemessene Anpassung der Verwaltungspauschale“ jedoch nur ermöglichen will. Die Aufwertung sozialpädagogischer Berufe ist überfällig. Sie benötigen höhere Einkommen, die Anerkennung förderlicher Zeiten, Aufstiegsmöglichkeiten, Fortbildungen, Supervisionen sowie Entlastungen im Arbeitsalltag.

Forderungen der GEW NRW für Kitas und sozialpädagogische Berufe

Für Kitas fordert die GEW NRW: eine Absenkung des Fachkraft-Kind-Schlüssels auf 1 : 3 für Ein- bis Dreijährige und 1 : 8 für Drei- bis Sechsjährige, mehr Zeit für Leitungsaufgaben, eine Erhöhung der Ausbildungskapazitäten – auch für Lehrkräfte an Fachschulen, mehr Möglichkeiten für praxisintegrierte Ausbildungen (PiA), eine Ausbildungsvergütung ab dem ersten Tag sowie mehr Fachkräfte und Inklusionshelfer*innen.

Schulsozialarbeit benötigt aus Sicht der GEW NRW: Eine Fachberatung und eine Fachaufsicht durch sozialpädagogische Fachkräfte sowie einen Betreuungsschlüssel von 1 : 150. Bei 2,5 Millionen Schüler*innen in NRW müssten insgesamt 17.000 Stellen für Sozialarbeiter*innen geschaffen werden. Das Schulministerium stellt zurzeit nur 2.500 Stellen über landeseigene Stellen sowie über ein Landesprogramm zur Verfügung und ermöglicht die Umwandlung von Lehrkraftstellen in Schulsozialarbeitsstellen. Die GEW NRW wird sich weiter starkmachen, damit gute Bildung nicht nur ein Wunsch bleibt, sondern Wirklichkeit wird.