lautstark. 20.10.2022

Schule: „Rassismuskritik ist ein zartes Pflänzlein“

AntidiskriminierungAntirassismusPolitische BildungFortbildung

Maßnahmen und Veränderungen für die rassismuskritische Arbeit

Wie können Schulen zu diversitätssensiblen und rassismuskritischen Orten werden? Darüber haben wir mit Bildungs- und Rassismusforscher Professor Dr. Karim Fereidooni gesprochen. Er erklärt, welche individuellen sowie strukturellen Maßnahmen für die Veränderung notwendig sind.

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  • Ausgabe: lautstark. 05/2022 | Migration und Ankommen: Vielfalt ein zu Hause geben
  • im Interview: Prof. Dr. Karim Fereidooni
  • Funktion: Professor an der Ruhr-Universität Bochum, Schwerpunkt Rassismuskritik in pädagogischen Institutionen
  • Interview von: Simone Theyßen-Speich
  • Funktion: Diplom-Journalistin
Min.

Haben unsere Schulen ein Rassismusproblem?

Karim Fereidooni: Ich würde nicht von einem Rassismusproblem sprechen, sonst würde man Rassismus nur anlassbezogen thematisieren. Es geht mir nicht darum, Schulen als rassistisch zu brandmarken. Überall, wo Menschen zusammenkommen, spielt Rassismus eine Rolle. Rassismus muss vielmehr immer mitbedacht werden, wenn Unterricht durchgeführt wird und wenn Schulbücher entwickelt werden. Rassismus ist ein Strukturierungsmerkmal unserer Gesellschaft. Deshalb müssen sich Lehrer*innen proaktiv damit beschäftigen.

Wie steht es um unsere Schulen mit Blick auf einen rassismuskritischen Umgang?

Karim Fereidooni: Nach wie vor wird der Mehrwert der Rassismuskritik nicht von allen Lehrer*innen oder Lehrerausbilder*innen erkannt. Rassismuskritik ist ein zartes Pflänzchen, aber es wächst und gedeiht. Die Sensibilität dafür hat zugenommen. Aber immer noch glauben viele Schulen, bei ihnen gibt es keinen Rassismus. Ich wünsche mir ein unaufgeregtes Reagieren. Genauso wie Lehrer*innen in der Lage sein sollten, individuell zu fördern, sollten sie auch Rassismus kritisch im Blick haben. Dabei müssen sie sich vier Fragen beantworten: Was hat Rassismus mir beigebracht, obwohl ich nicht rassistisch sein will? Was passiert Rassismusrelevantes in meinem Klassenraum und Lehrer*innenzimmer? Inwieweit reproduzieren meine Schulmaterialien rassismusrelevante Wissensbestände? Was muss ich tun, um meine Schule rassismuskritisch aufzustellen?

Wie können sich Lehrer*innen selbst bei diesem Thema weiterentwickeln?

Karim Fereidooni: Um die vier Fragen zu beantworten, braucht man die Analysebrille der Rassismuskritik. Diese „Brille“ aufzusetzen kann man lernen, das sollten Lehrer*innen in der ersten und zweiten Phase der Lehrer*innenausbildung tun, weil das eine überfachliche Kompetenz ist. In dem Buch „Rassismuskritische Fachdidaktiken“ können sich Lehrer*innen rassismuskritische Unterrichtsreihen anschauen, um eigene Materialien zu entwickeln. Lebenslanges Lernen sollten Lehrer*innen nicht nur in Bezug auf Schüler*innen, sondern auch auf sich selbst anwenden. Rassismus zu erlernen ist leicht und geschieht automatisch. Rassismus zu verlernen ist hingegen ein aktiver Prozess, für den sich Lehrer*innen tagtäglich entscheiden müssen. Dieser Weg ist lohnenswert.    

Wir brauchen multiprofessionelle Teams, um die Kompetenzen von Lehrer*innen, Schulsozialarbeiter*innen, Schulpsycholog*innen und außerschulischen Partner*innen zu bündeln.

Können Sie Beispiele für diesen Rassismus im Schulalltag nennen?

Karim Fereidooni: Bewerte ich das Diktat von Murat schlechter als das von Maximilian? Wen fördere ich und wen nicht? Wem traue ich zu, gute Noten zu schreiben, und wem nicht? Wer wird als Macho wahrgenommen und wer nicht? Wer wird als Gefahr für unsere Demokratie betrachtet? Wer sind gleichberechtigte Kolleg*innen und wer nicht? Wer wird als Vorgesetzte*r akzeptiert? Rassismus tritt häufig in Entscheidungssituationen zutage.

Wie sollte Rassismuskritik als Querschnittsthema im Unterricht behandelt werden?

Karim Fereidooni: Man kann das als Thema im Unterricht in allen Fächern behandeln. Beispielsweise sollten Lehrer*innen vermeiden, Schüler*innen rassistische Statistiken oder Textpassagen zur Bearbeitung zu geben. Eine Kompetenz ist auch, Rassismus im Schulbuch zu erkennen und dann andere rassismuskritische Materialien auszuwählen. Lehrer*innen sollten auch mit ihren Schüler*innen über ihre Rassismuserfahrungen sprechen. Sie sollten stärker als bislang der Fall die Sorgen und Lebensrealitäten ihrer Schüler*innen ernst nehmen. Pädagog*innen müssen sensibel sein für eine Lebensrealität, die nicht die eigene ist. Es geht zudem auch um handfeste Kompetenzen, sich fachlich über Rassismuskritik zu informieren. Wichtig ist die Frage, wie und zu welchem Zweck wurden Menschen zu fremd- und andersartigen Wesen gemacht? Welche Folgen hat das für die Gesamtgesellschaft? Daraus kann man dann auch Ableitungen in die jeweiligen Fächer machen.

Welche diversitäts- und migrationsbedingten Anforderungen gibt es an Schulen in einer inklusiven Migrationsgesellschaft?

Karim Fereidooni: Individuelle Maßnahmen der Lehrkräfte müssen immer flankiert werden von strukturellen Maßnahmen des Schulwesens. Das Schulwesen verlangt viel Unmögliches von Lehrkräften, etwa zehnjährige Kinder nach der vierten Klasse zu separieren und zu entscheiden, wer Akademiker wird und wer nicht. Wir brauchen für die aktuellen Herausforderungen multiprofessionelle Teams, um die Kompetenzen von Lehrer*innen Schulsozialarbeiter*innen, Schulpsycholog*innen und außerschulischen Partner*innen zu bündeln. Das ist in vielen Schulen nicht der Fall.

Es wird von Lehrkräften viel verlangt, aber Lehrer*innen haben bislang weder die Zeit noch die Kompetenz, diversitätssensibel zu agieren. Sinnvoll wäre es auch, mitgebrachte Sprachen im schulischen Unterricht zu nutzen. Ich erfahre aber oft an Schulen, dass verboten wird, auf dem Schulhof eine andere Sprache außer Deutsch zu sprechen. Das ist falsch. Das behindert die Entwicklung von Kindern. Rassismuskritik ist nicht nur wichtig an Schulen mit hohem Anteil von Kindern mit sogenanntem Migrationshintergrund. Das Thema spielt überall eine Rolle. Zudem: Die Lehrer*innenzimmer sind kein Spiegelbild unserer Gesellschaft und es gibt wenig Schulleitungen of Color oder Schwarze Schulleitungen.

Was muss sich dazu konkret in der Lehrer*innenaus- und -fortbildung ändern?

Karim Fereidooni: Es müssen Professuren geschaffen werden, die sich mit der rassismuskritischen Lehrer*innenaus- und -fortbildung beschäftigen, wie etwa rassismuskritische Inklusionsforschung, rassismuskritische Fachdidaktiken, rassismuskritisches Lehren und Lernen. Lehrkräfte müssen Rassismuskritik als Professionskompetenz begreifen. Hierfür ist aber eine grundständige rassismuskritische Aus- und Fortbildung notwendig. Bislang fehlen diese Angebote an vielen Standorten und angehende Lehrer*innen müssen sich diese Kompetenzen im Selbststudium aneignen. Des Weiteren müssten alle Lehrkräfte die Möglichkeit haben, Fortbildungen zu besuchen.

Viele Schulleitungen geben ihnen dafür aber nicht frei, weil sie Angst haben, dass Unterricht ausfällt. Fortbildungen sind aber wichtig, um Maßnahmen für eine diversitätssensible Schulkultur zu entwickeln. Zudem muss sich an Fortbildungen ein Organisationsentwicklungsprozess anschließen, der schulische Aspekte unter die Lupe nimmt. Wer wird eingestellt? Gibt es eine Steuerungsgruppe für diese Themen? Wissen Schüler*innen, an wen sie sich wenden können, wenn sie von Rassismus betroffen sind? Es sollten regelmäßige Fortbildungen stattfinden, damit die Maßnahmen Früchte tragen. Analog zu Ärzt*innen, die Fortbildungspunkte sammeln müssen, sollte es das auch für Lehrer*innen geben, mit entsprechender finanzieller Ausstattung, um die Fortbildungen anzubieten.

Welche Kriterien sollte eine rassismuskritische Fachdidaktik erfüllen?

Karim Fereidooni: Es geht darum, erst mal anzuerkennen, dass es Rassismus gibt. 80 Prozent der Lehrer*innen, die ich treffe, sagen: „Bei uns gibt es so was nicht!“ Es geht um die Anerkennung und die fachwissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema, um fachdidaktische Bezüge herstellen zu können. Standpunktreflexivität heißt, meine Lebensrealität zu erkennen: Erfahre ich Rassismus? Bin ich privilegiert? Was ist mit den Menschen in meinem Umfeld? Das rassistische Wissen ist ebenso erworben wie das grammatikalische, pädagogische und wirtschaftliche Wissen eines Menschen. Es existiert nicht qua Geburt, sondern qua Sozialisation. Und das beginnt schon bei Kleinkindern.