lautstark. 20.10.2022

Frühkindliche Bildung: Altes Wissen infrage stellen

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Von der Ausländerpädagogik zur rassismuskritischen Migrationspädagogik

Mit dem Zuwanderungsgesetz hat Deutschland 2005 seine Position als Einwanderungsland rechtlich festgeschrieben. Erst mit dieser Anerkennung wurden flächendeckend pädagogische Konzepte eingeführt, die die Vielfalt unserer Gesellschaft auf eine Weise berücksichtigen, die weder Anderssein noch Anpassung in den Fokus stellen. Was bedeutet das für die frühkindliche Bildung und wo steht sie aktuell?

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  • Ausgabe: lautstark. 05/2022 | Migration und Ankommen: Vielfalt ein zu Hause geben
  • Autor*in: Sherin Krüger
  • Funktion: freie Journalistin
Min.

Fidan Yiligin ist Expertin und Lehrbeauftragte an der Universität Bielefeld, unter anderem für Migration und Rassismus. Sie sieht die Entwicklung der pädagogischen Ansätze kritisch und fordert einen Perspektivwechsel in der Kinder- und Jugendarbeit: „Der defizitäre Ansatz der Ausländerpädagogik der 1970er-Jahre ist von der Interkulturellen Pädagogik ein Jahrzehnt später abgelöst worden. Woraufhin die nach wie vor hierarchisierende Interkulturelle Pädagogik von der rassismuskritischen Migrationspädagogik irritiert wurde und wird.“ Die Dethematisierung von Rassismus erschwere die Etablierung dieses Ansatzes allerdings seit vielen Jahren und auch die gesellschaftliche Anerkennung Deutschlands als Einwanderungsland. „Ich verstehe Deutschland als eine Migrationsgesellschaft.

Eine Migrationsgesellschaft kann als eine Gesellschaftsform bezeichnet werden, die der Migration positiv gesonnen ist, die die Chancengleichheit aller Bürger*innen in den Mittelpunkt stellt und versucht, sie zu leben. Dafür brauchen wir eine bewusste Auseinandersetzung im Umgang mit und zur Bewältigung von Rassismus“, sagt Fidan Yiligin. Die Diplom-Sozialpädagogin ist sicher: „Wenn wir allen Kindern gerecht werden wollen, dann ist es unlogisch, den rassismuskritischen Ansatz der Migrationspädagogik zu relativieren.“ Der Ansatz erfordere allerdings sehr viel Mut, sich mit dem eigenen Rassismus, dem institutionellen Rassismus und dem global sowie historisch gewachsenen Rassismus auseinanderzusetzen.

Kultursensiblen Umgang vermitteln ohne zu kulturalisieren

Der Begriff Interkulturelle Pädagogik hält sich weiterhin als Titel, doch die Konzepte der Institutionen gehen einen großen Schritt weiter. So auch Türöffner e. V. in Würselen: Die gelernten Erzieherinnen Pelin Yigit und Catrin Renzelmann haben den Verein gegründet, der heute auch Integrationsagentur ist. Sie gestalten zusammen unter anderem die Fortbildung LebensWelt Kita – Interkulturelle Begegnung, die den Teilnehmenden den nötigen Mut geben soll. „‚Wir möchten Ihnen etwas für Herz, Kopf und Hand mitgeben‘ – so starten wir in der Regel in die zwei Fortbildungstage“, erzählt Pelin Yigit. „Kulturalisierung ist natürlich immer so eine Sache, wenn wir über Kulturen sprechen. Aber wir verwenden den Begriff so, dass wir bei den Personen selbst anfangen. Jede*r bringt die eigene Kultur mit – die eigene Familienkultur oder Kitakultur.

Interkulturelle Begegnung bedeutet für uns, einen kultursensiblen Umgang zu vermitteln, ohne dabei zu kulturalisieren“, ergänzt Catrin Renzelmann. Das sei immer auch ein Balanceakt und erfordere Zeit für Reflexion. „Das hat auch mit Feingefühl zu tun. Orte zu schaffen, die Familien und die Kinder kennenzulernen. Begegnungen zu haben“, sagt Pelin Yigit. „Die Fähigkeit, Rassismus zu erkennen, will immer wieder und wieder gelernt und trainiert werden – wie das Lesen und Schreiben oder Spielen eines Instruments“, betont Fidan Yili-gin. Mittlerweile seien wir dabei, unseren defizitären Blick hin zu einer lebensweltorientierten Betrachtung zu schwenken, so Fidan Yiligin.

Dabei stünden wir in der frühkindlichen Bildung noch ziemlich am Anfang und das habe zu einem großen Teil mit dem Ressourcenmangel zu tun, sagt Catrin Renzelmann: „Überall fehlen Erzieher*innen – und die Vielfalt in den Gruppen kann in der Kita schnell als Zusatz-aufgabe gesehen werden.“ So würden oft Probleme entstehen, die sich eigentlich mit einfachen Methoden und auf Dauer lösen lassen. Vor der Corona-Pandemie sei eine bessere Entwicklung zu beobachten gewesen.

Kommunale Integrationszentren können im Kitaalltag unterstützen

Das Problem sei auch, dass die Kitas unheimlich viele Aufträge haben. „Themen, die nicht akut erscheinen, geraten dann schnell mal in Vergessenheit. Es gibt Kitas, die für die Rezertifizierung eine*n Integrationsbeauftragte*n brauchen. Diese Person hat oft selbst eine internationale Familiengeschichte und wird dann zu unserer Fortbildung geschickt“, weiß Pelin Yigit aus Erfahrung. Wünschenswert wäre, wenn dem ganzen Team Zeit dafür zur Verfügung stünde und auch die Rollen der Kitaleitung, des Trägers und der Kommunalen Integrationszentren (KI) seien wichtig: „Bei der Kitaleitung landen die meisten Informationen, und sie muss diese für das Team sortieren, sich um Aushänge kümmern und so weiter. Ich sehe da gerade die Kommunalen Integrationszentren in der Pflicht, auf die Einrichtungen zuzugehen.

Ich glaube, das ist in den Regionen sehr unterschiedlich. Jedes KI hat einen Einzugsbereich und es gibt keine Standards für die Kommunikation mit Kitas. So kennen Träger und Leitung die vielen Angebote oft nicht“, erzählt Catrin Renzelmann. „Wir müssen Fragen stellen“, bringt es Pelin Yigit auf den Punkt. „Wenn Menschen die deutsche Sprache nicht beherrschen, wie kann ich diese Familie einbinden? Nehme ich zu der Familie einfach keinen Kontakt auf, weil die Sprache als Barriere da ist? Oder hole ich mir Hilfe für die Übersetzung? Da unterstützt das KI zum Beispiel kostenlos.“

Es geht darum, die Mechanismen der Hierarchisierung zu entlarven, die das Denken, Fühlen und Handeln in ein ‚Wir‘ und ‚die anderen‘ produziert und damit reproduziert und aufrechterhält.

Interkulturelle Begegnung als Querschnittsaufgabe verstehen

Elternarbeit sei bei ihnen ein großes Thema, erzählt Catrin Renzelmann: „Wir haben sehr gute Erfahrungen mit speziellen Angeboten für Eltern gemacht.“ Für Familienzentren sind diese sogar verpflichtend. „Wir selbst haben das Programm Offen begegnen entwickelt und Eltern eingeladen, über ihre Themen zu sprechen oder auch mit ihnen Themen zu besprechen. Es ist ein lebhafter Austausch zum Beispiel darüber entstanden, wie es ist, wenn Eltern und Kinder mit zwei oder drei Kulturen im Gepäck unterwegs sind. Was habe ich als Elternteil für Herausforderungen zu meistern und welche das Kind? Wie können wir es als Eltern schaffen, dass unsere Kinder gut ankommen und gute Chancen haben?“

Begeistert berichten die Expertinnen von den positiven Rückmeldungen, die sie erhalten und so lauten: „Früher haben wir nur ‚Hallo‘ gesagt und jetzt umarmen wir uns. Jetzt sind wir Freund*innen und die Fremden nicht mehr fremd. Obwohl sie teilweise schon drei Jahre in der Kita waren.“ Interkulturelle Begegnung sei eine Querschnittsaufgabe und kein Wochenprojekt, sagen Pelin Yigit und Catrin Renzelmann, und die Umsetzung sei immer mit Arbeit verbunden. Mit Arbeit an sich selbst und an der eigenen Haltung. Für die rassismuskritische Migrationspädagogik sei außerdem die Bereitschaft nötig, „altes Wissen infrage zu stellen und neues Wissen zu produzieren und zu erweitern“, formuliert Fidan Yiligin.

Kitas zu rassismuskritischen Orten machen

Kitas müssten in die Lage versetzt werden, eine rassismuskritische Organisationsentwicklung voranzutreiben: „Das Ziel ist hier nicht, die unterschiedlichen Lebensentwürfe zu leugnen. Vielmehr geht es darum, die Mechanismen der Hierarchisierung zu entlarven, die das Denken, Fühlen und Handeln in ein ‚Wir‘ und ‚die anderen‘ produziert und damit reproduziert und aufrechterhält. Dazu zählt zum Beispiel, dass alle Sprachen gleich viel wert sind – nichtkoloniale genauso wie koloniale Sprachen“, erklärt Fidan Yiligin. Optimal sei es, wenn das Team die Kinder widerspiegelt, die die Kita besuchen. Den meisten sei gar nicht bewusst, dass sich die Kinder in ihrer Kita nicht repräsentiert fühlen: „Viele Kitas haben im Eingangsbereich ein Schild, auf dem ‚Herzlich willkommen‘ in allen möglichen Sprachen steht. Aber wenn das alles war, dann ist das zu wenig.

Man kann mit einfachen Dingen, viel bewirken“, sagt Catrin Renzelmann. „Wir geben ganz praktische Hinweise: Werden die internationalen Familiengeschichten in der Kita sichtbar? Wenn es eine Verkleidungskiste gibt oder eine Rollenspielecke – welche Kostüme gibt es da? Welche Verpackungen stehen in der Spielküche? In Bilderbüchern hat sich in den letzten Jahren einiges geändert. Hat die Kita die Möglichkeit, neue Bücher anzuschaffen? Oder in puncto Malstifte: Ist in der Kita die ganze Farbpalette für Hautfarben vorhanden?“ Kinder seien in der Lage, verschiedene Perspektiven einzunehmen, und es sei wichtig, in der Kita zum Beispiel die Werte der Einrichtung vorzuleben, damit die Kinder sich daran orientieren und eigene Werte entwickeln könnten. „Wir versuchen, die Erzieher*innen immer positiv zu bestärken“, sagt Pelin Yigit. „Sie leisten systemrelevante Arbeit und können den Kindern ganz viel mitgeben.“