lautstark. 20.10.2022

Ein ungefragtes Geschenk: Die Heimat-Box

UnterrichtsmaterialPolitische BildungAntidiskriminierungMigration und Flucht

Wieder Heimatkundeunterricht an Schulen in NRW?

Das Ministerium für Heimat, Kommunales, Bau und Digitalisierung des Landes Nordrhein-Westfalen (MHKBD) hat zum 75. Geburtstag von NRW die Heimat-Box: Entdecke, was Dich umgibt – 100 Möglichkeiten der Spurensuche herausgegeben. Wir haben einen kritischen Blick auf die Materialien und ihre Einsatzmöglichkeiten im Unterricht geworfen.

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  • Ausgabe: lautstark. 05/2022 | Migration und Ankommen: Vielfalt ein zu Hause geben
  • Autor*in: Dr. Bettina Heilmann
  • Funktion: Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“
Min.

Die Konzeption der Heimat-Box beruht laut Beschreibung auf einem fachlichen Dialog mit „Heimataktiven“ und Expert*innen im Feld. Die Box zeigt, so das Vorwort, „was Heimat ausmacht und wie sie mit jungen Menschen erlebt und gestaltet werden kann“. Die zuständige Ministerin, Ina Scharrenbach, wünscht „allen Heimat-Aktiven vor Ort noch viele weitere Ideen“. Die Heimat-Box wurde im Oktober 2021 mit Unterstützung des Ministeriums für Schule und Bildung (MSB) allen Schulen in Nordrhein-Westfalen kostenlos zur Verfügung gestellt.

Heimatkunde – gibt es das in NRW?

Themen und Umsetzung orientieren sich laut Beschreibung unter anderem an den schulischen Lehrplänen. Jedoch kommt beispielsweise in den aktuellen Grundschullehrplänen das Wort Heimat gar nicht vor. Nach 1945 blieb Heimatkunde – trotz seiner ideologiekonformen Nutzung in der NS-Zeit – zunächst als Unterrichtsfach in der Grundschule erhalten. Konzeptionell durchzogen den Lehrplan seinerzeit zwei Traditionslinien, die je nach Gewichtung dem Unterricht eher die Konturen eines Sach- oder eines Gesinnungsfaches verliehen. Letzteres hatte die Aufgabe, eine gefühlsintensive Bindung, so etwas wie „Heimatliebe“, zu fördern. Sie fand sich noch bis Ende der 1960er-Jahre als bildungsrelevanter Wert in den Lehrplänen. Schließlich wurde das Fach in „Sachunterricht“ umbenannt. Aktuell gibt es im Fächerkanon der Grundschule in Bayern und Thüringen „Heimatunterricht“ mit entsprechender Bezeichnung. 

Was ist Heimat?

Eine Definition von Heimat fehlt in der Box. Das ist nicht überraschend. Das Heimatministerium hat bereits in der letzten Legislatur in den „Grundsätzen der Heimatpolitik“ konstatiert, dass eine Definition von Heimat nicht zielführend sei. Aber so viel doch: „Heimat schließt alle ein. Es ist ein inklusiver Begriff, der bewusst offen verwendet wird.“ Diese Aussage steht allerdings in Widerspruch zur historischen Begriffsentwicklung und zu sozialwissenschaftlichen Analysen. Und gerade weil Heimat ein widersprüchlicher Begriff ist, mit dem wir bestimmte Diskurse und Werte transportieren, braucht es mehr als nur das Bekenntnis zur Begriffsoffenheit.

Wie dem Heimatbegriff auf die Spur kommen?

Kritische Fragen können hierbei helfen: Wie wird von wem, mit welcher Absicht und in welchem Kontext Heimat in einem Material verwendet? Wie viel gewinnt oder verliert ein Thema, wenn explizit auf den Begriff Heimat Bezug genommen wird? Wie stellt sich bei dem verwendeten Heimatbegriff das Verhältnis von Besonderheit zu Differenz, von Vielfalt zu Homogenität, von Herkunft zu Zugehörigkeit und vom Lokalen und Nationalen zum Globalen dar? Wird Heimat im Zusammenhang mit der Vorstellung einer gerechten und würdigen Zukunft für alle Menschen verfolgt oder national verengt gedacht?

Was steckt in der Heimat-Box?

Umso spannender ist das Bemühen, den Heimatbegriff über didaktisch-methodisch ansprechendes Material an Schulen zu platzieren. Auf 59 Karteikarten werden unter vier Schwerpunkten handlungsorientierte und abwechslungsreiche Vorschläge für die pädagogische Arbeit mit Kindern im Alter von drei bis zwölf Jahren in Schule sowie in Kita und Verein gemacht. Die zahlreichen Themen in der Box sind nicht neu; sie sind Gegenstand des Lehrplans Sachunterricht und finden sich in gängigen Unterrichtsmaterialien.

So geht es in den Materialien um die Vielfalt von Tieren, Pflanzen und Menschen in NRW, um die lokale und regionale Architektur, um Sprache und Dialekte, Bräuche und Traditionen, um Wasserstraßen, Landwirtschaft, Handwerk, um früher und heute, um nur einige der Themenkarten hervorzuheben. Tatsächlich neu ist, diese Themen konsequent unter den identitätsbildenden Begriff der Heimat zu stellen, der regionale Identität und eben Heimatverbundenheit stärken soll.

Taugt die Heimat-Box als Orientierung für den Unterricht?

Die Heimat-Box wird dem Alltag von vielen Kindern nicht gerecht, denn insgesamt präsentiert sie einen positiv verklärenden, teilweise romantisierenden Blick auf NRW beziehungsweise auf Heimat. Die großen sozialen Unterschiede im Land, Ausgrenzung und Diskriminierung sind kein Thema in der Heimat-Box. Aber gerade zu gesellschaftlich schwierigen Themen fehlen für die Arbeit mit Kindern oft didaktisch-methodisch aufbereitete Materialien. So böte nicht nur die Karteikarte Straßennamen erzählen Geschichten die Gelegenheit, die kolonialen oder nationalsozialistischen Sedimente deutscher Geschichte deutlich zu benennen, zu adressieren und methodische Schritte zur Reflexion anzubieten.

Wir können davon ausgehen, dass gesellschaftliche und globale Umwälzungen bei jungen Menschen präsenter sind denn je. Flucht, Armut, Klimakatastrophen, Krieg und die Corona-Pandemie berühren auch ihr Leben. Auch Kinder müssen sich mit einer widersprüchlichen und irritierenden Lebenswelt auseinandersetzen. Die Chance, diese Auseinandersetzung pädagogisch zu begleiten und damit Kinder als politische Menschen ernst zu nehmen und sie in ihrem Engagement für eine nachhaltigere und gerechtere Zukunft zu stärken, wird mit der Ausblendung gesellschaftlich kritischer Themen in der Box vertan. 

Prägend für die Box ist stattdessen eine national verengte Vorstellung von Heimat. Migration und ihr Einfluss auf die Gesellschaft im Einwanderungsland NRW beziehungsweise die Wechselseitigkeit von Integrations- und Ankommensprozessen erhalten im Material einen unbedeutenden Stellenwert. So fordert etwa die Karteikarte Tradition mit dem Geschmack der neuen Heimat dazu auf, gemeinsam Hummus zu kochen, um „die verschiedenen kulturellen Einflüsse auf die kulinarische Vielfalt“ zu ergründen.

Dies erinnert an Traditionen eines verkürzten Verständnisses interkultureller Pädagogik, das Trennendes betont, statt Gemeinsamkeiten zu suchen. Was vielleicht empowernd gedacht ist, erzeugt vor allem Andersartigkeit. Überdies lässt sich mit einem Multikulti-Frühstück Ausgrenzung nicht wirklich begegnen. Das Verbindende zwischen den Kulturen schließlich im Brieftaubenwesen herzustellen, schmerzt. Auf einer Karteikarte heißt es: Da Brieftauben „in vielen Kulturen eine große Bedeutung haben, bieten sie vielen Züchterinnen und Züchtern mit Einwanderungsgeschichte gleichzeitig eine Möglichkeit zur Integration sowie eine Erinnerung an ihre Heimat.“

Wiederbelebung eines Gesinnungsfachs?

Insgesamt kann gesagt werden, dass das Produkt einen Richtungswechsel beim Umgang mit dem Heimatbegriff an Schulen in NRW markiert. Offensichtlich soll Heimat in ein positives Licht gerückt und mit den Aktivitäten eine enge, emotionale Verbindung zu ihr hergestellt werden. Das zumindest liegt nahe, wenn man die Box und ihren Themenzuschnitt betrachtet. Es stellt sich die Frage: Ist das Geschenk zum 75. Geburtstag von NRW tatsächlich auch ein Geschenk für Schulen in einer von Migration und Vielfalt geprägten Gesellschaft in Zeiten globaler Herausforderungen? Oder ist es eher ein geheimer Lehrplan Heimatkunde, um das Gesinnungsfach wiederzubeleben?