lautstark. 20.10.2022

Flucht: Ankommen heißt Teilhabe von Anfang an

ChancengleichheitMigration und Flucht

Rahmenbedingungen für Flüchtlinge verbessern

Flüchtlinge haben den Ort ihrer Heimat verloren. Sie können sich oftmals keinen neuen Wohnort aussuchen, sondern müssen dort leben, wo die Flucht endet. Was hilft, um anzukommen, ist der Zugang zu Arbeit und Bildung. Doch die rechtlichen Hürden sind hoch.

Download pdf | 2 mb
  • Ausgabe: lautstark. 05/2022 | Migration und Ankommen: Vielfalt ein zu Hause geben
  • Autor*in: Birgit Naujoks
  • Funktion: Geschäftsführerin des Flüchtlingsrats NRW e. V.
Min.

Ankommen beinhaltet insbesondere für Schutzsuchende ein Gefühl der Sicherheit, einen sicheren Ort gefunden und keine Angst vor Verfolgung mehr zu haben, zur Ruhe kommen zu können. Darüber hinaus bedeutet Ankommen in vielen Fällen auch, gesellschaftlich teilzuhaben, unter anderem durch den Erwerb der deutschen Sprache, den Zugang zu Bildungsangeboten, die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit sowie durch soziale Kontakte mit der hiesigen Bevölkerung. Um dies zu verwirklichen, sind zunächst die strukturellen Hürden des deutschen Aufnahme- und Asylsystems zu überwinden.

Wohnsituation verhindert selbstbestimmtes Leben

Es beginnt damit, dass Schutzsuchende auch in Deutschland nicht ihren Wohnort wählen können, sondern bundesweit verteilt werden. Ankommensbegünstigende Faktoren, wie beispielsweise verwandtschaftliche Beziehungen, werden außerhalb der Kernfamilie nicht bei der Verteilung berücksichtigt. Wird ein*e Schutzsuchende*r NRW zugewiesen, wird sie*er zunächst auf eine der sechs Erstaufnahmeeinrichtungen und nach ein paar Wochen in eine Zentrale Unterbringungseinrichtung verteilt. Das sind große Sammelunterkünfte mit 350 bis 2.000 Plätzen, in denen es an Privatsphäre mangelt. Die Flüchtlinge werden mit Sach- statt mit Barleistungen versorgt, Kochmöglichkeiten fehlen, die Flüchtlinge verfügen kaum über finanzielle Mittel, es gibt Einlasskontrollen, die räumliche Bewegung ist eingeschränkt und es besteht eine Übernachtungspflicht – kurz: Ein selbstbestimmtes Leben ist unter diesen Bedingungen nicht möglich.

Leben in der Warteschleife: Arbeitserlaubnis, Integrationskurs und Asylverfahren

Auch die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit ist nicht sofort möglich. Im laufenden Asylverfahren haben Schutzsuchende in Landesaufnahmeeinrichtungen (LAE) während der ersten neun Monate keinen Zugang zum Arbeitsmarkt, danach besteht ein Anspruch auf Erteilung einer Beschäftigungserlaubnis für einen konkreten Arbeitsplatz. Wird der Asylantrag während des Aufenthalts in einer LAE abgelehnt, gilt eine Wartefrist von sechs Monaten, nach der der*dem geduldeten Schutzsuchenden nach Ermessen der Ausländerbehörde eine Beschäftigungserlaubnis erteilt werden kann. 

Zum Erwerb von ersten Deutschkenntnissen werden in den meisten LAE niedrigschwellige Basiskurse angeboten. Der Besuch eines Integrationskurses steht während des laufenden Asylverfahrens derzeit nur Schutzsuchenden aus Afghanistan, Eritrea, Somalia und Syrien offen – und das auch nur theoretisch, denn es besteht kein Anspruch. Zudem mangelt es an Kursplätzen und oftmals auch an Erreichbarkeit von adäquaten Kursangeboten. In den letzten Jahren wurde die Wohnverpflichtung in LAE immer weiter ausgeweitet, von zuvor maximal drei Monaten auf eine jetzige Höchstgrenze von 24 Monaten. Verbunden damit ist das Ziel, das Asylverfahren während des Aufenthalts in LAE vollständig abzuschließen und möglichst nur „Anerkannte“, also positiv beschiedene Schutzsuchende, den Kommunen zuzuweisen. Abgelehnte Schutzsuchende sollen eigenständig ausreisen oder aus den LAE direkt abgeschoben werden.

Recht auf Bildung wird nicht eingelöst

Unabhängig vom Aufenthaltsstatus müssen Familien mit minderjährigen Kindern allerdings nach spätestens sechs Monaten einer Kommune zugewiesen werden. Auch das ist ein zu langer Zeitraum, denn diese Unterkünfte stehen in vielerlei Hinsicht nicht im Einklang mit dem Kindeswohl. Während des Aufenthalts in LAE besteht in NRW keine Schulpflicht. Seit 2020 wird sukzessiv in den Zentralen Unterbringungseinrichtungen ein „schulnahes Bildungsangebot“ eingeführt. Schon theoretisch ist es nicht mit dem Besuch einer Regelschule vergleichbar, unter anderem sind nur zwei Altersgruppen vorgesehen und der gesamte Unterricht soll durch eine Lehrkraft erfolgen. Außerdem fehlt der Kontakt zu hiesigen Gleichaltrigen, ein wichtiger sozialer Faktor des Schulbesuchs, vollständig. 

Es hapert zudem an der praktischen Umsetzung dieses Konzepts. Noch immer wird dieses Angebot aufgrund fehlender räumlicher oder personeller Kapazitäten nicht in allen Zentralen Unterbringungseinrichtungen vorgehalten. Infolge der Corona-Pandemie wurde es immer wieder unterbrochen, in Einrichtungen mit vielen Minderjährigen wird zum Teil die Zahl der Unterrichtsstunden auf zwei pro Woche reduziert, um allen Kindern das Angebot überhaupt zu ermöglichen. Die Bildungsbiografie der ankommenden Minderjährigen wird also erst einmal (weiter) unterbrochen. Die Schulpflicht beginnt nach Zuweisung in eine Kommune.

Ankommen beinhaltet insbesondere für Schutzsuchende ein Gefühl der Sicherheit, einen sicheren Ort gefunden zu haben. Darüber hinaus bedeutet es auch, gesellschaftlich teilzuhaben.

Auch in der Kommune kann der Anspruch auf den Besuch einer Regelschule nicht immer sofort eingelöst werden. Ende August 2022 fehlten über 4.000 Schulplätze für Flüchtlingskinder. Überwiegend werden Flüchtlingskinder zunächst in sogenannten Einsteigerklassen unterrichtet. In der Vergangenheit sind häufiger Schwierigkeiten aufgetreten, den Wechsel in eine Regelklasse adäquat zu gestalten. Zudem spielen weitere Faktoren wie die Unterbringungssituation in der Kommune, fehlende Lernorte, die mangelnde digitale Ausstattung und Unterstützungsmöglichkeiten durch die Eltern oder Ehrenamtliche eine große Rolle für den Bildungserfolg der Minderjährigen.

Endlich ankommen in der Kommune – so einfach ist es nicht

Tatsächliche Teilhabe beginnt erst in den Kommunen. Auch hier sind die Voraussetzungen nicht immer ideal. Das hängt unter anderem vom Aufenthaltsstatus ab. Während anerkannte Schutzsuchende in die Regelsysteme integriert werden, meist einen Integrationskurs besuchen dürfen und freien Zugang zum Arbeitsmarkt haben, unterliegen abgelehnte Schutzsuchende vielerlei rechtlichen Einschränkungen. So können sie zum Beispiel von der Kommune verpflichtet werden, in Gemeinschaftsunterkünften zu wohnen, es können unter Umständen Arbeitsverbote verhängt werden oder es besteht keine Möglichkeit, einen Integrationskurs zu absolvieren – Faktoren, die gesellschaftliche Teilhabe erschweren. Neben den strukturellen rechtlichen und praktischen Hürden spielt die individuelle Situation von Schutzsuchenden für die Möglichkeit eines wirklichen Ankommens eine große Rolle, zum Beispiel das Alter, der physische und psychische Gesundheitszustand, die Kompetenzen und Kenntnisse oder der Aufenthaltsstatus, unter Umständen eine drohende Abschiebung. 

Oft verfügen Schutzsuchende nicht über einen Nachweis ihrer beruflichen Kompetenzen oder vorhandene Abschlüsse werden hier nicht beziehungsweise nicht vollständig anerkannt. Junge Schutzsuchende, die im Alter zwischen 16 und 18 Jahren einreisen, haben häufig nicht die Möglichkeit, einen Schulabschluss zu machen. Obwohl sie schulpflichtig sind, bekommen nicht alle einen (adäquaten) Schulplatz. Bedingt durch die Situation im Herkunftsland oder auf einer langen Flucht haben sie teilweise lang unterbrochene Bildungsbiografien. Die dadurch entstandenen Lücken können durch den Besuch eines Berufskollegs, das auch einen anderen Bildungsauftrag hat, nicht in allen Fällen behoben werden. Hier gilt es dringend, sowohl Möglichkeiten der Anerkennung beruflicher Kompetenzen als auch Möglichkeiten des Erwerbs eines Schulabschlusses zu erweitern, Letzteres zum Beispiel durch eine Ausweitung der Schulpflicht oder des Schulbesuchsrechts für junge Schutzsuchende.

Es ist nicht nur empfehlenswert, sondern notwendig, bei Schutzsuchenden den Blick nicht nur auf gegebenenfalls vorhandene ‚Mängel‘ zu richten, sondern auch auf deren Potenziale.

Hürden abbauen für Teilhabe von Anfang an!

Trotz der beschriebenen Hürden und Hindernisse schaffen es viele Schutzsuchende, sich in Deutschland eine Lebenssituation zu schaffen, die im Verständnis der Politik und weiter Teile der Gesellschaft eine gute Integration darstellt und in der sie selbst ein Zugehörigkeitsgefühl entwickeln können. Sie unterstützen den wirtschaftlichen Wohlstand, wirken dem Arbeitskräftemangel entgegen, verjüngen die Gesellschaft und tragen maßgeblich zu deren Diversität bei. Das gelingt, weil Schutzsuchende in vielen Fällen im Herkunftsland und auf  der Flucht Überlebensstrategien und -kompetenzen entwickelt haben, die ihnen auch bei der Bewältigung des Aufnahme- und Ankommensprozesses in Deutschland nutzen. Es ist nicht nur empfehlenswert, sondern notwendig, bei Schutzsuchenden den Blick nicht nur auf gegebenenfalls vorhandene „Mängel“ zu richten, sondern auch auf deren Potenziale. Der Abbau struktureller Hürden und die Ermöglichung gesellschaftlicher Teilhabe für alle Schutzsuchenden von Anfang an würden sowohl den Schutzsuchenden als auch der Aufnahmegesellschaft zugutekommen.

Mehr Wissen

Klick dich schlau!

Flüchtlingsrat e. V. NRW: Homepage