lautstark. 23.08.2021

Politische Bildung für Erwachsene

Politische BildungWeiterbildungAntidiskriminierung

Wir brauchen dringend die Vernunft von unten

Zwei Wochenstunden Politik oder Gesellschaftslehre in der Schule oder der Blick in die allabendlichen Fernsehnachrichten – reicht das, um zu mündigen Bürger*innen zu werden? Kann oder muss hier außerschulische politische Bildung ansetzen? Und wie muss sie aussehen, um politische und demokratische Beteiligung wieder in den Mittelpunkt der Gesellschaft zu rücken? Ein Interview mit der Politologin und Erziehungswissenschaftlerin Julika Bürgin.

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  • Ausgabe: lautstark. 05/2021 | Demokratie lebt durch dich
  • im Interview: Julika Bürgin
  • Funktion: Politologin und Erziehungswissenschaftlerin
  • Interview von: Simone Theyßen-Speich
  • Funktion: Diplom-Journalistin
Min.

Gerade angesichts von erstarkendem Rechtspopulismus – was muss außerschulische politische Bildung leisten?

Julika Bürgin: Für mich ist das, was aktuell unter Rechtspopulismus diskutiert wird, kein Grund, etwas an den Prinzipien außerschulischer politischer Bildungsarbeit zu ändern. Es ist eine verengte Sicht, zu glauben, der Rechtspopulismus oder die AfD seien das zentrale Problem. Natürlich muss die Gefahr von rechts ernst genommen werden, außerschulische Bildungsarbeit sollte sich aber nicht darüber definieren.

Es ist vielmehr ein grundlegendes Recht jeder Person, die Welt zu verstehen und die eigene Position darin zu finden, um sich und die Welt verändern zu können. Diese Möglichkeiten sind nicht nur auf Schule beschränkt, es gibt sie auch jenseits von Schule, Studium, Ausbildung und Beruf. Erwachsenen- und Jugendbildungsförderungsgesetze sind wichtige demokratische Errungenschaften. Inhaltlich und didaktisch durchdacht, schaffen die Träger der außerschulischen Bildungsarbeit Räume, um Zusammenhänge zu verstehen und sie gemeinsam mit anderen Fragen besser zu durchdringen und Antworten zu finden. Wir brauchen dringend die Vernunft von unten gegen industriell-technokratische Strategien, die die menschlichen Lebensgrundlagen ruinieren.

Welches Ziel hat außerschulische politische Bildung? Geht es darum, dass Menschen lernen, das „Richtige“ zu wählen oder um eine Stärkung demokratischer Werte?

Julika Bürgin: Politische Bildungsarbeit ist ein großes Feld, kein abgegrenztes Fachgebiet. Sie muss das Politische und Politik zum Thema machen, wo diese im Leben von Menschen bedeutsam sind. Politische Urteils- und Handlungsfähigkeit zu fördern, ist die originäre Aufgabe der politischen Bildungsträger. Kritische politische Bildungsarbeit betont, dass alle gesellschaftlichen Verhältnisse von Menschen gemacht und daher auch durch Menschen veränderbar sind. Es geht also nicht um Wahlempfehlungen, sondern darum, dass Menschen ihre eigenen Interessen bestimmen und gemeinsam mit anderen vertreten.

Mit „Fridays for Future“ gehen junge Menschen auf die Straße, die noch gar kein Wahlrecht haben. Und sie haben etwas bewirkt. So hat das Bundesverfassungsgericht geurteilt, dass das Klimaschutzgesetz nachgebessert werden muss.

An wen richtet sich politische Erwachsenenbildung? Und erreicht sie die sogenannten „bildungsfernen“ Zielgruppen überhaupt?

Julika Bürgin: Das ist eine zentrale Frage. Bei der letzten „Leipziger Autoritarismus- Studie“ im Jahr 2020 haben 73 Prozent der repräsentativ Befragten gesagt, dass sie sowieso keinen Einfluss darauf haben, was die Regierung tut. Die, die sich von der Gesellschaft abgehängt fühlen, sehen oft wenig Sinn darin, sich politisch einzubringen oder auch nur zu wählen. Sie sehen sich nicht mehr als demokratischer Souverän, sondern erleben, wie Politik an ihren Interessen vorbeiregiert. Das ist alarmierend und kann nicht durch politische Bildungsarbeit gelöst werden.

Aus meiner Sicht ist es notwendig, Politik zu verändern und die Stimmen der Unvernommenen zu hören. Bildungsarbeit ist kein Instrument, um Demokratiedefizite zu kaschieren und Beteiligung zu simulieren. In einer Demokratie müssen sich die Menschen als Demos erfahren, also über alles mitentscheiden, was sie betrifft. Im Grundgesetz ist das Demokratieprinzip verankert. Aber die hierfür zentralen Minderheits- und Oppositionsrechte sind zunehmend angegriffen – nicht nur die von Rechtspopulist*innen, sondern auch die aus dem Zentrum der Gesellschaft, etwa durch Verschärfungen von Versammlungs-, Polizei- und Verfassungsschutzgesetzen, durch Einschränkungen von Presse-, Kunst- und Wissenschaftsfreiheit.

Was bedeutet der Demokratieverlust für die politische Bildung?

Julika Bürgin: Unsere Politik ist stark von Lobbyarbeit bestimmt und zieht sich hinter Sachzwängen zurück. Ein Beispiel: In der Corona-Pandemie wurde erkannt, wie wichtig Pflegekräfte sind, wie hart und schlecht bezahlt ihre Arbeit ist. Aber daraus folgte keine Aufwertung ihrer Arbeitsbedingungen. Warum sollten Pflegekräfte wählen, wenn sie außer Applaus nichts zu erwarten haben?

Es geht hier um sozial- und wirtschaftspolitische Konflikte. Und insbesondere gewerkschaftliche Bildungsarbeit trägt dazu bei, dass die Beschäftigten ihre Interessen bestimmen und sich Gehör verschaffen. Aber gerade diese zentrale Aufgabe politischer Bildungsarbeit ist unter Beschuss.

Ein anderes Beispiel: Der Bundesfinanzhof entzog „Attac“ die Gemeinnützigkeit mit der Begründung, die politische Bildungsarbeit des Vereins beeinflusse zu sehr die politische Meinungsbildung. Mit dieser Argumentation könnten viele politische Bildungsträger – vermutlich alle gewerkschaftlichen – ihre Gemeinnützigkeit verlieren. Der deutliche Protest ist bisher ausgeblieben. Dabei geht es um die Substanz, das heißt, politisch zu urteilen, um politisch zu handeln. Die Bildungsträger werden den Finanzämtern künftig dokumentieren müssen, nicht auf die politische Meinungsbildung Einfluss zu nehmen, wenn sie ihre Gemeinnützigkeit nicht verlieren wollen. Wenn die Bildungsträger das nicht wollen, müssen sie selbst politisch handeln. Bildungsträger gehören oft zu großen gesellschaftlichen Organisationen, die durchaus Macht haben, zu intervenieren.

Sie thematisieren in Ihren Publikationen oft den Begriff „Mündigkeit“. Geht es um die Mündigkeit der Bürger*innen oder auch die Mündigkeit der Träger von Bildungsangeboten?

Julika Bürgin: Es gab in den vergangenen zwei Jahrzehnten eine beklagenswerte Veränderung der institutionellen Förderstrukturen der Jugend- und Erwachsenenbildung – auf Landes- und Bundesebene. Viele der Träger sind aus gesellschaftlichen Institutionen hervorgegangen, aus Gewerkschaften, Kirchen oder Umweltverbänden. Damit gibt es eine plurale Landschaft außerschulischer Bildungsarbeit. Aber die institutionelle Förderung wird immer löcheriger.

Stattdessen werden Programme aufgelegt, mit denen Regierungen sich inhaltliche Zugriffe sichern. Damit sind die Träger von Bildungsangeboten immer weniger frei, ihre Bildungsarbeit auf gesetzlicher Grundlage autonom auszugestalten. Sie müssen vielmehr dem Fördermittelgeber auch inhaltlich folgen. Was als Förderung deklariert wird, ähnelt häufig staatlicher Auftragsvergabe.

Faktisch sieht es oft so aus: Der Staat macht ein Förderprogramm mit weitreichenden inhaltlichen Setzungen und die Träger sind nur noch frei zu entscheiden, ob sie die Vorgaben akzeptieren oder auf die Mittel verzichten – wenn sie sich das leisten können. Zu viel „Antragslyrik“ ist riskant und bringt die Träger in eine defensive Position. Sie können also nicht mehr die Themen aufgreifen, um die es in der jeweiligen Organisation, der Gewerkschaft oder dem Umweltverband geht. Die Förderlogik bewirkt, die Interessen der Adressat*innen nicht mehr in den Mittelpunkt zu stellen und schränkt so die Möglichkeiten gesellschaftlichen Engagements ein. Hier wird weniger Demokratie gefördert als politische Konformität.

Sie haben, ebenso wie einige GEW-Landesverbände, die Stellungnahme „Keine Minute warten im Kampf gegen rechts – Manifest für die Zivilgesellschaft und die politische Bildung“ nicht unterzeichnet. Warum nicht?

Julika Bürgin: Die Initiator*innen wollen politische Bildung auf eine wehrhafte Demokratie verpflichten. Mit diesem Demokratiekonzept wurden in den 1970er-Jahren Berufsverbote insbesondere gegen kritische Lehrer*innen begründet. Die GEW hat das als politischen Fehler erkannt. Demokratie zu beschränken, ist heute so falsch wie damals.

Notwendig ist die politische Auseinandersetzung beispielsweise mit der Desiderius-Erasmus-Stiftung der AfD, vor allem aber mit den gesellschaftlichen Strukturen, die autoritäre und rassistische Politik starkmachen. Man darf demokratische Rechte nicht beschränken, um sie zu retten. Man muss sie praktizieren.