lautstark. 23.08.2021

Corona-Pandemie: Weniger Druck, mehr Motivation

CoronaBelastung

Interview mit Elisabeth Raffauf

Kinder und Jugendliche waren während der Corona-Pandemie durch Schulschließungen und Kontaktverbote besonders belastet. Ängste und Unsicherheiten werden auch im Schuljahr 2021/2022 weiterhin spürbar sein. Wie Lehrer*innen in dieser Situation gut unterstützen können, erklärt die Psychologin Elisabeth Raffauf.

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  • Ausgabe: lautstark. 05/2021 | Demokratie lebt durch dich
  • im Interview: Elisabeth Raffauf
  • Funktion: Psychologin, Autorin und arbeitet für Rundfunk, Fernsehen und Printmedien
  • Interview von: Roma Hering
  • Funktion: freie Journalistin
Min.

Wie haben Kinder und Jugendliche das Schuljahr 2020/2021 erlebt? Wie sind sie mit Distanz- und Wechselunterricht und fehlendem Kontakt zu Freund*innen umgegangen?

Elisabeth Raffauf: Das ist sehr unterschiedlich. Einige Kinder und Jugendliche sind kreativer und selbstständiger, andere eher ängstlicher und unsicherer geworden. Das hat viel mit der Umgebung und dem Erleben der Kinder und Jugendlichen zu tun – und natürlich mit Veranlagung. Corona hat uns zunächst alle ohnmächtig und hilflos gemacht. Auch die Kinder blieben mit dem Gefühl zurück: „Ich kann nichts machen. Meine Säulen Eltern und Schule wackeln. Alle sind überfordert und Kontakte brechen ab.“ Die Kinder und Jugendlichen hatten oft das Gefühl, dass sie aus dem Blick geraten, weil die Erwachsenen so mit sich selbst beschäftigt waren. Ich war gemeinsam mit einer Abiturientin in einer Sendung und die erzählte: „Wir bekommen Arbeitsblätter zugeteilt und danach fragt keiner mehr, ob wir das verstanden haben, sondern drei Tage später gibt es neue Arbeitsblätter.“ Lehrer*innen erlebten während des Distanzunterrichts, dass Kinder und Jugendliche vielleicht den Computer angemacht, sich danach aber wieder ins Bett gelegt haben. Im Präsenzunterricht in der Schule müssen sich Kinder und Jugendliche nur umschauen und bemerken sofort die Fragezeichen in den Gesichtern der Mitschüler*innen. Online fehlt die eindeutige Ansprache und somit auch die Möglichkeit, Rückfragen zu stellen, sollte etwas unverständlich sein. Das führt dazu, dass Kinder und Jugendliche denken: „Ich habe es nicht verstanden, die anderen sind schon weiter, ich bin raus.“

Welche gesundheitlichen Folgen beobachten Sie bei Kindern und Jugendlichen nach über einem Jahr Corona?

Elisabeth Raffauf: Jedes dritte Kind klagt über Traurigkeit und Hilflosigkeit, hat Schlaf- und Konzentrationsstörungen, Kopfschmerzen und Ängste. Das belegt auch die COPSY-Studie, die Forschende des Universitätsklinikums Hamburg- Eppendorf durchgeführt haben. Vor der Pandemie war jedes fünfte Kind betroffen. Es treten wieder vermehrt Essstörungen auf, und ich habe junge Mädchen erlebt, die angefangen haben sich zu ritzen. Viele Kinder und Jugendliche mussten ihre Wünsche zurückstecken, ihren Bewegungsradius und Treffen mit Freund*innen massiv einschränken. In meiner Praxis habe ich oft erlebt, dass sie große Angst um ihre Freundschaften haben, weil die zarten Bande oft noch sehr brüchig sind. Nicht zu wissen, ob die anderen noch da sind, wenn das vorbei ist und wann ich meine Freund*innen wieder live sehen kann, das sorgt für große Unsicherheit.

Nach den Sommerferien startet der Präsenzunterricht erneut. Viele Kinder und Jugendliche zeigen vermutlich noch Belastungen und Unsicherheiten. Wie können Lehrer* innen unterstützende Bezugspersonen sein?

Elisabeth Raffauf: Viele der Lehrer*innen waren während des Ausnahmeschuljahrs selbst sehr belastet und sind unterschiedlich damit umgegangen. Manche haben sich verkrochen, andere beantworteten 150 E-Mails am Tag, um „ihre Kinder“ im Blick zu behalten. Ich denke, dass Lehrer*innen zuerst einmal schauen sollten, dass es ihnen selbst gut geht. Stichwort: Selbstfürsorge! Sitzt man im Flugzeug und die Masken fallen runter, setzt man sich ja auch zuerst selbst die Maske auf und hilft danach dem Kind neben sich. Aber auch der offene Austausch mit Kolleg*innen ist wichtig, um sich zu reflektieren und um Unterstützung beispielsweise von Schulpsycholog* innen, Sozialarbeiter*innen sowie externen Beratungsstellen erfragen zu können.

Wie kann die Unterstützung für Kinder und Jugendliche konkret aussehen?

Elisabeth Raffauf: Lehrer*innen sollten nicht von sich erwarten, auf alles eine Antwort haben zu müssen, sondern zunächst zuhören und Fragen stellen: Wo steht ihr gerade? Was habt ihr erlebt und was braucht ihr? Vielleicht sammeln Lehrer*innen und Schüler*innen zunächst in kleineren Gruppen Eindrücke und schauen im nächsten Schritt, wo Bedarf und Raum für Aufarbeitung ist. Dabei werden Lehrer*innen wahrscheinlich feststellen, dass die Kinder an ganz unterschiedlichen Stellen stehen, nicht nur schulisch. Manche haben gut lernen können und andere überhaupt nicht. Lehrkräfte stehen vor der Aufgabe, alles wieder zusammenfassen zu müssen, das Pensum zu entschlacken und den Druck rauszunehmen. Am wichtigsten ist jedoch die Bildung eines Gemeinschaftsgefühls, bei dem auf jede*n geachtet wird. Auf diesen persönlichen Bezug sollten sich Lehrer*innen jetzt konzentrieren.

Was können Kinder und Jugendliche aus dieser Krise für die Zukunft mitnehmen?

Elisabeth Raffauf: Sie haben eine Krise erlebt und erfahren, dass man durch diese schwere Zeit durchkommen kann. Kinder und Jugendliche erzählen, dass sie selbstständiger geworden sind, fitter im Digitalen, manche haben kochen gelernt oder einen ganz anderen Kontakt zur Oma entwickelt. Kinder sind ja erst einmal bereit, Lösungen für Probleme zu finden. Studien zeigen, dass sich 83 Prozent der Kinder an die Corona-Regeln gehalten und sich massiv zurückgenommen haben. Das alles haben sie für andere Menschen getan.

Mit einem Aufholprogramm von 430 Millionen Euro will das Land NRW zuvorderst schulische Defizite aufholen lassen. Erste Angebote haben in den Ferien stattgefunden und sollen im neuen Schuljahr weitergeführt werden. Welche Signale sendet diese Leistungsaufholjagd und welche Verantwortung trägt die Politik?

Elisabeth Raffauf: Es muss allen klar sein, dass die Kinder nicht auf die Schnelle alles aufholen können und dann auf dem Stand sind, auf dem es der Lehrplan vorsieht. Das funktioniert aus meiner Sicht so nicht. Die Kinder werden Zeit brauchen und sie werden unterschiedlich viel Zeit brauchen. Sie sind keine Maschinen, in die man etwas eintrichtern kann, und dann ist es da. Die Lehrer* innen sind jetzt natürlich in der Not, wieder ein gemeinsames Level herstellen zu müssen. Das ist ein Widerspruch, den man sich anschauen muss. Aber: Grundsätzlich müssen wir den Druck rausnehmen! Neben den schulischen Angeboten bietet das Programm auch Entlastungs- und Freizeitmöglichkeiten. Das sehe ich positiv.

In einem vom Bundesfamilienministerium initiierten Gremium sind Kinder und Jugendliche zu unterschiedlichen Themen befragt worden. Dabei wurde klar, dass sie nicht nur als Schüler*innen gesehen werden wollen, sondern auch als Menschen, weil ihnen neben der Schule noch andere Interessen und Lebensbereiche wichtig sind. Fundamental fände ich einen echten Austausch zwischen Politik, Lehrer*innen und Schüler*innen.