lautstark. 23.08.2021

Bundestagswahl 2021: Demokratie am Kipppunkt

Politische BildungMitbestimmung

Die Zukunft nach der Wahl

Wenn Deutschland im Herbst 2021 wählt, steht viel auf dem Spiel, nicht zuletzt die Demokratie, in der wir leben. Wie geht es weiter, wenn die Ära Angela Merkel endet? Albrecht von Lucke plädiert für mehr Experimente und verlässliche Krisenprävention.

Download pdf | 1 mb
  • Ausgabe: lautstark. 05/2021 | Demokratie lebt durch dich
  • Autor*in: Albrecht von Lucke
  • Funktion: Politologe, Jurist und Redakteur der Blätter für deutsche und internationale Politik
Min.

Wenn nach dieser Bundestagswahl am 26. September die Regierungszeit Angela Merkels endet, endet damit auch die – nach Konrad Adenauer und Helmut Kohl – dritte und vermutlich letzte lange politische Ära in der Geschichte der Bundesrepublik. Denn was gleichbleiben, ja sogar sich noch einmal verschärfen dürfte, ist die ökologische und damit auch ökonomische Krisenanfälligkeit dieses Landes, ja sogar die des europäischen Kontinents und des gesamten Planeten. Und bereits diese Tatsache dürfte eine derart lange, enorm strapaziöse Kanzlerschaft in der Zukunft unmöglich machen.

Demokratie in der Vertrauenskrise

Wenn der Kanzlerkandidat der Union, Armin Laschet, von den 2020er-Jahren daher als einem „Modernisierungsjahrzehnt“ spricht, bedeutet das eine erhebliche Verharmlosung. Was auf uns zuzukommen droht – und was es folglich abzuwenden gilt –, ist vielmehr ein Katastrophenjahrzehnt.

Die Corona-Krise, aber auch die jüngsten dramatischen Überschwemmungen haben brutal demonstriert, dass das global dominante fossilistische Wachstumsmodell an einem Kipppunkt angelangt ist. Das Gleiche gilt jedoch auch für die Demokratie: Auch sie könnte sich an einem Kipppunkt befinden. Der in Deutschland auf hohem Niveau stabile und in Gesamteuropa weiter zunehmende Rechtspopulismus zeigt: Immer mehr Bürger*innen verlieren das Vertrauen in die Demokratie. Die AfD ist vor allem Symptom für eine zutiefst gespaltene Gesellschaft und die wachsende Kluft zwischen Politiker*innen und einem erheblichen Teil der Bevölkerung. Zugleich wächst mit dem Verlust des Vertrauens in die Demokratie die autoritäre Versuchung: die Sehnsucht nach starken Führungsfiguren.

Mehr Experimente statt kurzatmiges Agieren

Damit demokratische Politik tatsächlich krisenfest und zukunftssicher wird, kann sie offensichtlich nicht länger im Modus des bloß kurzfristigen Kaschierens von Problemen fortfahren. Demokratische Legitimation erwächst nämlich stets aus zwei Komponenten: einerseits dem Input, also der Beteiligung der Bürger*innen, aber andererseits – und mehr noch – aus dem politischen Output, also dem faktischen Erfolg der regierenden Parteien bei der Lösung der wichtigsten Probleme.

Daraus folgt, dass die Politik in den nächsten Jahren weit stärker als bisher ihre Fähigkeit zur Krisenbewältigung unter Beweis stellen muss. Denn das Regierungshandeln der vergangenen Jahre hat das Vertrauen der Bürger*innen in die Demokratie offensichtlich eher geschwächt als gestärkt. Das haben vor allem die teilweise unzulänglichen Reaktionen auf die Corona-Krise sowie auf die jüngste Flutkatastrophe gezeigt.

Natürlich ist es völlig richtig, dass den von derartigen Katastrophen Betroffenen sofort und unbürokratisch Hilfe zukommt. An einer wirklichen Lösung der Probleme geht dieses stets kurzatmige Agieren allerdings vorbei. Denn an der grundsätzlichen Gefährdungslage ändert sich durch den Ersatz der Schäden rein gar nichts. Im Gegenteil: Stets mit Blick auf den nächsten Wahlkampf gaukelt es Sicherheit bloß vor, ohne sie langfristig wirklich garantieren zu können. Das zeigen exemplarisch die immer wiederkehrenden Überschwemmungen der letzten 20 Jahre.

„Keine Experimente“ – das alte Unionsmotto von Konrad Adenauer über Helmut Kohl und Angela Merkel bis zu Armin Laschet kann daher gerade nicht die richtige Antwort auf die gegenwärtige Katastrophenlage sein. Im Gegenteil: Heute kommt es entscheidend darauf an, mehr Experimente zu wagen und viel mehr in die grundsätzliche Bekämpfung der Klimakrise als die eigentliche Jahrhundertherausforderung zu investieren.

Wirksame Krisenvorsorge muss her

Die jüngste Flut kennt eine Lehre: Damit derartige Katastrophen gar nicht erst eintreten, braucht es endlich einen effektiven Klimaschutz, genauso wie massive Investitionen in die Infrastruktur und vorbeugende Maßnahmen gegen weiter drohende Hochwasser.

Worauf es daher letztlich ankommt, ist ein völlig neues Staatsverständnis. Die Ära das neoliberalen Staatsabbaus muss endlich ein Ende haben. Statt auf Nachsorge, also auf bloße Schadensbehebung zu setzen, muss der Staat endlich wirksame Krisenvorsorge treffen. Nur auf diese Weise werden Katastrophen, wie wir sie derzeit erleben, zukünftig bereits im Ansatz zu verhindern sein.

Denn das lehren die schrecklichen Bilder von der Wasserfront: Ohne ein wirksames System der Schadensvorbeugung ist alles nichts. Bleibt der Staat dagegen weiter schwach und agiert er zukünftig nicht endlich stark und präventiv, dann werden sich die Katastrophen Jahr für Jahr wiederholen – und im Zweifel auf immer dramatischere Weise.

Wir müssen jetzt entscheiden: Exit oder Voice?

Zugleich werden die Spaltungs- und Frustrationstendenzen in der Gesellschaft weiter zunehmen – und mit ihnen die Abwendung von der Demokratie. Bereits 1970, angesichts einer ersten, ungleich schwächeren Krise der westlichen Nachkriegsdemokratien, unterschied der Ökonom Albert O. Hirschman zwei Handlungsstrategien in derartigen gesellschaftlichen Krisen- und Stresssituationen: Exit und Voice. Exit steht für den mentalen Ausstieg aus der Demokratie, Voice für politische Beteiligung, also dafür, die eigene Stimme zu erheben und sich aktiv zu beteiligen.

Heute entscheiden sich mehr und mehr Menschen für die postdemokratische Exit-Option. Dieser geistigpolitische Ausstieg aus der Gesellschaft manifestiert sich sowohl am unteren als auch am oberen Rand der Gesellschaft. Unten sieht sich eine immer größere Zahl von Menschen zunehmend marginalisiert und wendet sich frustriert ab. Oben dagegen löst sich eine kleine, aber immens wichtige Schicht als neue „globale Klasse“ (Ralf Dahrendorf ) von den nationalen politischen Bezügen und verabschiedet sich in die Welt der internationalen Spekulationsgeschäfte. Immer getreu der Devise: „Nach uns die Sintflut.“

Demokratische Mammutaufgabe für neue Bundesregierung

Dieses hochegoistische, letztlich antisoziale Verhalten ist aber nur den hochmobilen „Anywheres“ (David Goodhart) möglich, die aufgrund ihrer enormen finanziellen Mittel überall auf der Welt gut über die Runden kommen – im Gegensatz zu den an einen bestimmten Ort gebundenen „Somewheres“, die sich mit den zunehmenden Katastrophen am Boden herumschlagen müssen. Während die einen am rein individuellen „Fort“-kommen interessiert sind, regelmäßiger Ortswechsel inbegriffen, müssen die anderen vor Ort um ihr Überleben kämpfen. Im Ergebnis geht auf beiden Seiten des gesellschaftlichen Spektrums das politische Engagement immer stärker zurück. Am Ende verbleibt der Demokratie eine immer kleiner werdende gesellschaftliche Mitte, die sich für ihr Gemeinwesen engagiert.

Dieser hochgefährlichen Spaltung der Gesellschaft gilt es unbedingt entgegenzuwirken. Andernfalls droht die für die Demokratie entscheidende „Loyalty“ (Albert O. Hirschman), sprich: die Loyalität und Zustimmung zum demokratischen System, immer weiter zu erodieren. Zunehmende gesellschaftliche Polarisierung und Verfeindung wären die Folge. Wer daher auch immer nach dem 26. September regieren wird müssen, eines steht heute bereits fest: Sie oder er wird nicht nur einer ökologischen und ökonomischen, sondern auch einer demokratischen Mammutaufgabe gegenüberstehen.