lautstark. 20.08.2020

Multiprofessionelle Teams in Finnland

MPT – Fachkräfte im multiprofessionellen TeamSonderpädagogik

Fragen und Antworten zur Umsetzung im Ländervergleich

Die Forderung nach mehr Multiprofessionellen Teams gibt es in Kitas ebenso wie in Schulen. Aber wie sieht die Zusammenarbeit verschiedener Professionen außerhalb von Deutschland aus? Wir haben mit Dr. Petra Linderoos von der Universität Jyväskyla in Finnland über die Zusammenarbeit in multiprofessionellen Teams an Schulen gesprochen.

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  • Ausgabe: 05/2020 – Mehr Profis für gute Bildung
  • Autor*in: Dr. Petra Linderoos
  • Funktion: Universität Jyväskyla Finnland
Min.

Was wird in Finnland unter dem Begriff multiprofessionelles Team (MPT) in Schulen verstanden?

In den Rahmenlehrplänen der neunjährigen Gemeinschaftsschule (GS), der berufsbildenden und allgemeinbildenden Oberstufen wird der Begriff MPT beschrieben, da er unmittelbar mit den Bildungszielen zusammenhängt. Zentrales Ziel ist die gleichwertige Bildung für alle, sodass Schule so gestaltet sein muss, dass das
Lernen, Wohlbefinden, die aktive Teilhabe und ein nachhaltiger Lebensstil gefördert und alle Schüler*innen bei ihren Lernprozessen unterstützt werden sollen.

Es beinhaltet neben dem Recht der Schüler*innen auf kostenlosen Unterricht in einer sicheren Lernumgebung, eine kostenlose Mahlzeit und Lehrbücher (nicht in der Oberstufe), Arbeitsgeräte und -materialien auch das Recht auf verschiedene kostenlose Serviceleistungen. Sie beziehen sich auf die Lernförderung und die gesetzlich vorgeschriebenenschulischen Dienstleistungen (Gesundheitsvorsorge, schulische Sozialarbeit und
psychologische Dienste) und tragen dazu bei, das Wohlbefinden und den Lernerfolg aller Schüler*innen zu
sichern.

Expert*innen unterschiedlicher Professionen aus dem pädagogischen Bereich wie Förderlehrer*innen,
Lehrer*innen der Klassen 1 bis 6 und Fachlehrer*innen, Sozialarbeiter*innen, Gesundheitspfleger*innen,
Psycholog*innen und Erziehungsberechtigte arbeiten in unterschiedlichen Teams mit variierendem Fokus
zusammen.

Diese Zusammenarbeit benötigt immer sowohl einen gemeinsamen Dialog auf Augenhöhe als auch eine funktionierende multiprofessionelle Kooperation zwischen allen Beteiligten, um durch Absprachen erforderliche Unterstützungsmaßnahmen, -inhalte und -ziele gemeinsam effektiv umsetzen zu können. Multiprofessionalität liegt vor, wenn andere Fachkräfte als nur das Lehrpersonal und Schulleiter*innen in diesen Prozess einbezogen werden wie Mitglieder des schulischen Gesundheitswesens, der Sozialarbeit, Schulpsycholog*innen und gegebenenfalls andere Fachkräfte.

Wer ist hauptverantwortlich für die Koordination der Zusammenarbeit?

Bildungsarbeit, Förderung des Wohlbefindens und der Gesundheit obliegen der Verantwortung aller Erwachsener in der Schule, unabhängig vom jeweiligen Aufgabenbereich. Die Schulleitung trägt die Verantwortung hinsichtlich der Erteilung von Unterricht, der Betreuung und Unterstützung der Schüler*innen aller Jahrgangsklassen für alle Fächer sowie der Vermeidung von Problemen, der Ermittlung und Beseitigung von Hindernissen beim Wachstum und Lernen.

Alle Lehrer*innen der Klassen 1 bis 6 oder Fachlehrkräfte sind maßgeblich für Aktivitäten, das Lernen und Wohlbefinden der Lerngruppe eines Faches verantwortlich und müssen dafür sorgen, das Lernen und Wohlbefinden der Schüler*innen zu begleiten, sie zu fördern, zu unterstützen, zu beaufsichtigen, jede*n Schüler*in wertzuschätzen, fair zu sein, Schwierigkeiten rechtzeitig zu entdecken und sich darum zu kümmern, dass das Recht auf Lernförderung und Betreuung erfüllt wird.

Dabei ist ein offener Dialog mit Schüler*innen und Erziehungsberechtigten ebenso wie die Kooperation mit Kolleg*innen und Fachpersonal der Schüler*innen- beziehungsweise Lernbetreuung bedeutend. 

Was ist das Ziel von MPT und wie sind sie vernetzt? 

Das Recht auf Wohlbefinden hat oberste Priorität und ist mit dem Fokus auf die Gesundheit und Lernprozesse generell das Ziel von Schüler*innen- beziehungsweise Lernbetreuung. Es muss differenziert werden, um
welche Betreuung des MPT es sich handelt, da es schulspezifische gemeinschaftliche und individuell auf eine*n Schüler*in bezogene MPT gibt, deren Aufgaben und Rechtsgrundlagen abweichen.

Ein schulspezifisches gemeinschaftliches MPT erstellt, koordiniert, evaluiert den schulinternen Plan für Wohlbefinden, Sicherheit und Gesundheit und ist verantwortlich für die schulinterne Handlungskultur, zur Förderung und Entwicklung des Lernens, Wohlbefindens, der Gesundheit, Sicherheit und Interaktionen zum Wohl der Schüler*innen.

Es hat präventiven Charakter. Die Schulleitung ruft nach schulintern geregeltem Rhythmus ein Team zusammen, das zum Beispiel aus Lehrkräftevertreter*innen, Schulpsycholog*innen und –sozialarbeiter*innen,
Gesundheitspfleger*innen, Sonderpädagog*innen, Vertreter*innen der Schüler*innen und Erziehungsberechtigten und gegebenenfalls anderer Interessengruppen bestehen kann. Ihre Arbeit ist transparent und öffentlich.

Individuelle Schüler*innenbetreuung bezieht sich einerseits auf das Recht aller Schüler*innen, individuell Dienstleistungen der Schulgesundheitspflege, -psycholog*innen und -sozialarbeiter*innen zu nutzen. Umfangreiche Untersuchungen der Gesundheitsvorsorge sowie andere regelmäßige Untersuchungen im schulischen Gesundheitswesen sind ein Teil davon und betreffen alle Schüler*innen. 

Eine individuelle Betreuung kann andererseits bei Bedarf in einem MPT erfolgen, das individuell nur auf eine*n Schüler*in ausgerichtet ist und zusammengestellt wird. Es richtet sich nach den Wünschen der*des Schüler*in und bedarf einer Einwilligung (gegebenenfalls auch der Einwilligung der Erziehungsberechtigten). Die Interaktion ist offen, respektvoll, auf Augenhöhe, vertraulich und muss den gesetzlichen Bestimmungen der Offenlegung und Vertraulichkeit entsprechen. 

Dieses MPT ernennt im Team eine verantwortliche Person, die den Bericht schreibt und sich um dessen Archivierung kümmert, der in einem versiegelten Umschlag mit Datum, Namen der*des Schüler*in und der Teilnehmer*innen sowie dem Hinweis, wer ihn lesen darf, an einem sicheren Ort archiviert wird. 

Wie tragen die MPT zum Lernerfolg der Schüler*innen bei?

Die Arbeit der MPT der gemeinschaftlichen und individuellen Schüler*innenbetreuung stellen eine zentrale Basis und Voraussetzung für Lernerfoge dar, doch das dreistufige Fördersystem, (von der frühkindlichen Erziehung, Vorschulunterricht, GS bis hin zum Abschluss der gymnasialen beziehungsweise beruflichen Oberstufe) trägt ebenso dazu bei. Hier ist eine enge, offene Kooperation zwischen den Lehrer*innen der Klassen 1 bis 6 beziehungsweise der Fachlehrer*innen mit den Förderlehrkräften (rund 13 Prozent eines Kollegiums), den
unterstützenden Schulbetreuer*innen und auch den MPT gefragt.

Ausgangspunkt ist die allgemeine Förderung, die jedoch kein MPT voraussetzt. Sie beruht auf pädagogischer Einschätzung und fordert die Lehrkräfte auf, ihre Schüler*innen zu beobachten, Förderbedarf zu erkennen,
verschiedene pädagogische Maßnahmen selbst unverzüglich zu erteilen, wie differenzierte Aufgaben, Nachhilfe, anderes Lehrmaterial und mehr Zeit zu erteilen. In Finnland können Lehrkräfte Schüler*innen Nachhilfestunden erteilen, sofern die Schule über die finanziellen Mittel verfügt.

Absprache darüber erfolgt im Dialog mit der*dem Schüler*in und den Erziehungsberechtigten. Diese Art des Förderunterrichts muss in Wilma/Helmi vermerkt werden. Wilma/Helmi sind computerbasierte Kommunikationsinstrumente zwischen Schule, Lehrkräften, Schüler*innen und Erziehungsberechtigten. Dort wird alles vermerkt und die Erziehungsberechtigten per Mail oder App informiert.

Zeitweilige Mitarbeit einer*s Schulbetreuer*in oder einer*s Förderlehrer*in im beziehungsweise außerhalb des Unterrichts können beansprucht werden. Sofern die allgemeine Förderung nicht greift, folgt die intensivierte Förderung. Ebenfalls auf der Basis pädagogischer Einschätzung wird die Zusammenarbeit zwischen Schüler*innen, Lehrer*innen und Förderlehrer*innen verstärkt und das MPT ist involviert.

Gemeinsam mit den Erziehungsberechtigten wird ein individueller Lernplan für ein oder mehrere Fächer
erstellt, der sich am Rahmenlehrplan orientiert. Je nach Bedarf nehmen die einzelnen Lerner*innen am normalen Unterricht teil oder werden zeitweilig in einer Kleingruppe Förderlehrer*innen unterrichtet, denen ein*e Schulbetreuer*in zur Seite steht. In Wilma/Helmi wird alles dokumentiert. 

Wenn intensivierte Förderung nicht ausreicht, gibt es die spezielle Förderung, die multiprofessionelle, pädagogische Klärungen oder Gutachten sowie administrative Beschlüsse voraussetzt und in der Praxis Schüler*innen mit schweren Lernproblemen betrifft.

Förderlehrkräfte und Lehrer*innen erstellen in Kooperation mit den Erziehungsberechtigten einen an den allgemeinen Rahmenlehrplan individuell angepassten Lernplan HOJKS, der regelmäßig überprüft werden muss. Alle Schritte von Fördermaßnahmen müssen schriftlich dokumentiert werden, wobei Lerner*innen wie Erziehungsberechtigte immer involviert sind. 

Warum und wie hat sich das Verständnis von Sonderpädagogik in den vergangenen Jahrzehnten in Finnland verändert?

Lernförderung ist mit der Einführung der GS in den Jahren 1972 bis 1977 ein zentrales Element der GS, da sie eine Schule für alle ist. Veränderungen diesbezüglich fanden statt, wie zum Beispiel das Gesetz über das dreistufige Fördersystem aus dem Jahr 2011. Die Anwesenheit der Förderlehrkräfte ist demzufolge in der GS zu
einer Selbstverständlichkeit geworden, sodass die Kooperation ein gewachsener Bestandteil ist und gut funktioniert.

Inzwischen gibt es seit mehreren Jahren auch in vielen gymnasialen Oberstufen Förderlehrkräfte, die mit dem neuen Rahmenlehrplan für die gymnasiale Oberstufe 2021 sich auch flächendeckend als Selbstverständlichkeit entwickelt wird. Das lässt erkennen, dass Sonderpädagogik nicht mehr zur Stigmatisierung führt, sondern im konstruktivistischen Sinne für die Lernprozesse der Schüler*innen genutzt wird.

Das erscheint in unser modernen, beschleunigten Welt insofern notwendig, da Schüler*innen großen Lernherausforderungen ausgesetzt sind, die vielseitige Lernbegleitung erfordern, die ein*e Lehrer*in allein nicht
erfüllen kann.   

Gibt es trotz vieler Unterschiede verbindende Elemente in deutschen und finnischen Schulen?

Meines Wissens sind inzwischen in vielen deutschen Bildungseinrichtungen Förderlehrkräfte und anderes Servicepersonal integriert, sodass hier sicherlich Überschneidungen in personeller Hinsicht erkennbar sind, aber inwiefern die Kooperation miteinander vergleichbar ist, das kann ich nicht beurteilen. Was sicherlich ein weiteres verbindendes Element ist, dass es in beiden Bildungssystemen sehr viele engagierte Lehrer*innen gibt, die versuchen, ihr Bestes zu tun, um Schüler*innen bei ihren Lernprozessen gut zu begleiten. 

Warum lässt sich das finnische System nicht eins zu eins auf das deutsche Schulsystem übertragen? 

Mit der Wahl des Bildungssystems entscheidet jede Gesellschaft darüber, welche Werte und Normen sie vermitteln möchte. Schule als Spiegelbild einer Gesellschaft ist immer ein Indikator dafür, wie eine Gesellschaft mit seinen Bürger*innen umgeht und wohin sich diese Gesellschaft entwickeln möchte. In Finnland steht die Gleichwertigkeit maßgeblich auf der Tagesordnung und durchdringt die Bildungsarbeit.

Für eine funktionierende Bildungsarbeit und Kooperation ist aber ein Baustein zentral: gegenseitiges Vertrauen aller am Lernprozess Beteiligten. In Finnland beruht Bildungsarbeit auf Vertrauen, aber mir scheint, dass deutsche Lehrer*innen großen Herausforderungen in der Bildungslandschaft der 16 Bundesländer mit ihren mindestens dreigliedrigen, auf Segregation ausgerichteten Bildungssystemen gegenüberstehen und ihre Bemühungen – so wurde es mir von vielen PISA-Besucher*innen zugetragen – vielfach durch Misstrauen
erschwert werden.

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