lautstark. 19.08.2020

Ausstieg aus der rechten Szene: Ein multiprofessionelles Netzwerk, das hilft

AntidiskriminierungAntirassismus

Beratungsstellen beraten auch Pädagog*innen

Manche knüpfen gerade erste Kontakte zur rechten Szene, andere sind schon tief darin verwurzelt. Manche sind erst 17 Jahre alt, andere schon über 40. Wenige melden sich freiwillig, die meisten kommen über Signalgeber*innen zur Ausstiegsberatung aus dem Rechtsextremismus. Hilfe bekommen sie dort von einem multiprofessionellen Team.

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  • Ausgabe: lautstark. 05/2020 | Mehr Profis für gute Bildung
  • Autor*in: Iris Müller
  • Funktion: freie Journalistin
Min.

„Ausstiege sind komplex“, weiß Ausstiegsberater und Sozialarbeiter Felix Lange von der Beratungsstelle NinA NRW. Einige Klient*innen landen bei NinA NRW, weil sie eine gerichtliche Auflage bekommen haben, andere signalisieren Gesprächsbereitschaft, nachdem sie beispielsweise durch Schulsozialarbeiter*innen, Lehrkräfte oder die Bewährungshilfe für die Beratung sensibilisiert wurden. Zu Beginn geht es um Beziehungsarbeit und einen niedrigschwelligen Zugang zu dem Prozess, der dann beginnen und mehrere Jahre dauern kann.  

„Ich nehme die Menschen erst mal wahr und ernst. Das ist für manche eine Erfahrung, die sie noch nie gemacht haben“, sagt Felix Lange. Ziel ist es, den Klient*innen zunächst unverbindlich und anonym zur Seite zu stehen, sich die Probleme anzuhören, ohne den Menschen zu verurteilen. Felix Lange: „Jeder bestimmt selbst, was er erzählen möchte und wobei er Hilfe benötigt.“ Dokumentiert werde zunächst gar nichts, die Vertraulichkeit soll gewahrt werden, auch damit Fälle erst einmal sachlich betrachtet werden können.

Viele Professionen, viele Perspektiven

Schon an diesem Punkt sind mehrere Professionen im Boot. Die Beratungsgespräche werden zu zweit geführt. Bei der Ausstiegsberatungsstelle reset (VAJA e. V.) in Bremen arbeitet die Ausstiegsberaterin Hannah Eller mit ihrem Kollegen, der Bildungswissenschaftler ist. Eine perfekte Ergänzung. Hannah Eller hat einen Bachelorabschluss in Psychologie und kann so beispielsweise auf Erkenntnisse zur Gruppen- dynamik zurückgreifen: Warum bleiben Klient*innen in der jeweiligen Gruppe, obwohl es ihnen dort gar nicht gut geht?

Ihr Kollege setzt als Bildungswissenschaftler derweil etwa bei Entwicklungsschritten oder biografischen Punkten an. Bei NinA NRW arbeiten Psycholog*innen, Erziehungswissenschaftler*innen, Sozialarbeiter*innen und Sozialwissenschaftler*innen. Jeder Fall wird im Team besprochen. „Ein Vorteil, weil man aus verschiedenen Perspektiven draufschauen kann“, sagt Felix Lange, der auch Signalgebende als Ressource ansieht, weil diese Person die / den Klient*in meistens schon länger kennt. Dennoch betont Felix Lange, dass alle Gespräche in Rücksprache und mit Einverständnis der Ausstiegswilligen laufen.

Arbeit auf zwei Ebenen

Grundsätzlich gelte es, zwei Ebenen zu bearbeiten: einerseits die ideologische Aufarbeitung; die kognitive Ebene, eine andere Denkweise zu etablieren, und auf der anderen Seite die lebenspraktische Veränderung; neue Strukturen, außerszenische Freizeitgestaltung, andere Freundeskreise, Alternativen aufzeigen. Hannah Eller weiß: „Die Entscheidung für einen Ausstieg bedeutet zunächst erst einmal Verluste in vielen Bereichen.“ Viele bräuchten nicht nur eine neue Identifikation – „Wer bin ich, wenn ich nicht rechts bin?“ –, sondern auch neue außerszenische Kontakte, einen neuen Job oder einen neuen Wohnort.

Die Beratungsstellen setzen bei der ideologischen Ebene an. Dabei geht es beispielsweise darum, was die Einstiegsmotive waren, welche Biografie die Klient*innen mitbringen und was zum Zeitpunkt des Ausstiegs zu Zweifeln führt. Hannah Eller: „Diese Gespräche können noch mehr verunsichern, da sie den bisherigen Lebensweg infrage stellen und es oft noch keine konkreten Alternativen gibt.“ Denn jeder Mensch trägt Zweifel und Widersprüche in sich und das verunsichert. Die Beratungsstellen helfen den Klient*innen zu lernen, diese Widersprüche und die damit einhergehende Verunsicherung auszuhalten und sie nicht durch einfache Erklärungen aufzulösen. Die auf rassistischem Gedankengut basierenden Widersprüche gilt es, in der Ausstiegsberatung zu hinterfragen

„Widersprüche zwischen rassistischem Denken und tatsächlichem Handeln sind fast immer vorhanden. Auf der Basis einer belastbaren Beziehung können wir die aber thematisieren“, erklärt Felix Lange und zählt Beispiele auf, mit denen die Klient*innen konfrontiert werden, um ihr ideologisch geprägtes Denken zu erkennen: „Es wird häufig als Witz erzählt, dass Nazis heimlich Döner essen. Dabei handelt es sich aber um einen klassischen Widerspruch. Ebenso verhält es sich mit Menschen im Umfeld, die nett, aber nicht weiß sind. So treten Zweifel am vermeintlich klaren Weltbild auf.“

Beratungsstellen arbeiten zusammen

Nicht zu jedem Zeitpunkt ist die Arbeit auf der ideologischen Ebene jedoch möglich. Denn „oft geht es zunächst darum, Basisbedürfnisse wie das Gefühl nach körperlicher und psychischer Unversehrtheit oder Strategien zur Existenzsicherung in den Blick zu nehmen“, betont Hannah Eller. Wenn jemand eine starke Sucht- oder Schuldenproblematik mitbringe oder wohnungslos sei, müsse man zunächst an diesen Baustellen arbeiten und Sicherheit schaffen. Und an diesem Punkt kommen andere Professionen ins Spiel. Hannah Eller: „An manchen Stellen des Prozesses endet unser Auftrag als Ausstiegsberatung.Wir können keine Suchttherapie anbieten oder in juristischen Angelegenheiten beraten.“

Zum Netzwerk der Ausstiegsberatungsstellen gehören also weitere Beratungsstellen. „Wir sind spezialisiert auf Rechtsextremismus“, betont Felix Lange. Viele, die zu ihm kommen, hätten aber multiple Probleme. Daher gelte es, Klinken zu putzen, die Ausstiegsberatungsstellen bekannt zu machen und das Netzwerk zu vergrößern: „Die Sensibilisierung von Fachkräften ist zentral, damit diese Handlungssicherheit erlangen.“ Auch die Arbeitskreise für Schulsozialarbeit und die Landesstelle für Schulpsychologie seien wichtige Adressaten.

Einschätzung zu Schüler*innenverhalten

Die Ausstiegsberatungsstellen können beispielsweise auch eine Einschätzung zu Schüler*innen abgeben, die auffällige Kleidung tragen, Parolen von sich geben oder bestimmte Musik hören. Wie ernst muss man das nehmen? Brauchen diese Personen Hilfe von außen? Hannah Eller: „Wir sind immer offen für ein Gespräch, ganz ohne anklagen zu wollen.“ Sie versuche dann beispielsweise herauszufinden, was den jungen Menschen an der Musik oder dem Kleidungsstil mit Bezug zur rechten Szene fasziniert. So könne man abschätzen, ob bestimmte Vorfälle in die Kategorie Provokation gehören oder ob die/der Schüler*in schon rechte Tendenzen zeige oder in rechte Strukturen verwickelt sei. „Manchmal reichen ein paar Interventionsgespräche mit Einzelnen“, weiß Hannah Eller.

Kommunikation ist Schlüssel zur Nachhaltigkeit

Neben der Multiprofessionalität außerhalb und innerhalb des Teams, das wiederum auch mit dem Bundesverband der Ausstiegsberatung zusammenarbeitet, kooperiert die Ausstiegsberatung auch mit Netzwerken wie der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus, dem Netzwerk für politische Bildung und mit Antidiskriminierungsstellen. So können auch Gruppengespräche ermöglicht und das Themenspektrum über den Rechtsextremismus hinaus erweitert werden. „Kommunikation ist und bleibt das Wichtigste“, bilanziert Felix Lange. Die Kommunikation im Team, mit dem Netzwerk und auch mit den Klient*innen. Dann können der Ausstieg, die Distanzierung und das Umdenken nachhaltig gelingen. Der Sozialarbeiter kennt die Szene in NRW und weiß: Wer den Prozess bei NinA NRW durchlaufen hat – einige wenige brechen vorzeitig ab –, wird in der Regel nicht mehr rückfällig.

Nina NRW

Nina NRW bietet Hilfe Rechtsextreme Einstellungen junger Menschen zeigen sich heute viel subtiler durch Äußerungen, Aufnäher, Sticker oder unauffällige Modemarken. Eltern, Angehörige, Freund*innen und (pädagogische) Fachkräfte stehen dem oft ratlos gegenüber. Werden erste Tendenzen rechter Einstellungen bemerkt und eine Szeneaktivität vermutet, können sich diese vertrauensvoll an das Projekt NinA NRW wenden. Zusammen mit den Mitarbeiter*innen werden Strategien entwickelt, die zu mehr Handlungssicherheit im persönlichen Umfeld führen.

Kontakt

Telefon: 02361 / 3021-0
E-Mail: nina.nrw[at]reinit.de
Ausstiegsberatungsstelle: nina-nrw.de