lautstark. 08.08.2022

So bewertet die GEW NRW den Koalitionsvertrag

BildungsgewerkschaftBildungsfinanzierungBelastungLehrkräftemangel

Luft nach oben für gute Bildung

Die erste schwarz-grüne Landesregierung in NRW steht. Die Grundlage dafür bildet der 146 Seiten lange Koalitionsvertrag – von CDU und BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN als Zukunftsvertrag angepriesen. Wie sind die Aussichten für Bildung in NRW? Wir haben genau hingeschaut.

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  • Ausgabe: lautstark. 04/2022 | Ehrenamt: Füreinander das Miteinander gestalten
  • Autor*in: Ayla Çelik
  • Funktion: Vorsitzende der GEW NRW
Min.

Inwieweit der Koalitionsvertrag tragen und die Richtung für eine sichere Zukunft des Landes vorgeben wird, hängt nicht zuletzt vom (Zusammen-)Wirken beider Parteien im Politikalltag ab. Lang ist es nicht her, dass es in Ausschuss- und Plenardebatten zwischen den beiden Koalitionär*innen zum Teil hoch herging. Noch kurz vor der Wahl wurde ein Vorschlag der GRÜNEN von der CDU als „weitere Luftblase Ihrer ideologischen Vorstellungen“ bewertet. Nun wird zusammen regiert. Was ist davon in dem Politikfeld zu halten, in dem es die größten Gestaltungsmöglichkeiten für die Landespolitik gibt – in der Schulpolitik?

Gewerkschaft wirkt

Zunächst wird klar: Gewerkschaft wirkt. Die neue Landesregierung hat die Korrektur der in Teilen verfassungswidrigen Bezahlung der Lehrkräfte zugesagt. Zwar kritisiert die GEW NRW das in Aussicht gestellte Modell mit Zulagen, bewertet es aber als Erfolg, dass die CDU ihre Forderungen nach Hürden für bereits im Dienst befindliche Kolleg*innen fallen lassen musste. Es scheint undenkbar, dass dieses erneute Versprechen ein weiteres Mal gebrochen wird.

Die Bestandsgarantie für Talentschulen ist akzeptabel, wenn zeitgleich eine sozial indizierte Ressourcensteuerung mithilfe eines überarbeiteten Sozialindexes eingeführt wird und es dann tatsächlich Ressourcen zu verteilen gibt. Die Aussagen zum Ganztag oder zur gesetzlichen Verankerung der Schulsozialarbeit scheinen eine gute Grundlage zu sein, hier die notwendigen Reformen endlich umzusetzen. Und last, but not least: Die pauschale Beihilfe kann die Grundlage einer echten Wahlmöglichkeit für Beamt*innen zwischen gesetzlicher und privater Krankenversicherung sein.

Diese Beispiele zeigen, dass der Koalitionsvertrag grundlegende Forderungen der Bildungsgewerkschaft berücksichtigt und wir gute Gründe haben, ihn als geeignete Grundlage für Schul- und Bildungspolitik in NRW zu bewerten. So weit, so gut. 

Schwarz-grüne Formelkompromisse

Wie weit der Weg zu einem Koalitionsvertrag gewesen sein muss, verdeutlichen manche schwarz-grünen Formelkompromisse: Lange heftig umstritten und kontrovers diskutiert waren zum Beispiel die Schulstruktur und die Gestaltung des Übergangs am Ende der Grundschulzeit. Und nun in gemeinsamer Regierung? Beide Seiten kriegen etwas, wobei egal zu sein scheint, ob die Kompromisse in sich stimmig sind.

DIE GRÜNEN setzen bei der Schulstruktur etwas mehr auf längeres gemeinsames Lernen durch die dauerhafte schulrechtliche Absicherung der PRIMUS-Schule. Die CDU bekommt die gewünschte „gezielte und nachhaltige Verbesserung in unserem vielfältigen Schulsystem“ durch das Ermöglichen von Hauptschulbildungsgängen ab Klasse 5 an Realschulen. Fast wie die Verbundschule seligen Andenkens. Konsistenz geht anders.

DIE GRÜNEN woll(t)en eine Kultur des Behaltens, sie kämpf(t)en gegen die Abschulung und für längeres gemeinsames Lernen. Und die CDU? Wer am Ende der Grundschulzeit aus Prinzip sortieren will, muss wenigstens möglichst gut sortieren. Mit der FDP versuchte sich die CDU schon einmal an der Einführung eines Prognoseunterrichts. Zum Glück scheiterte der Plan damals und war natürlich undenkbar für DIE GRÜNEN. Was steht nun im Koalitionsvertrag? Die Schullaufbahnberatung ab Klasse 4 soll intensiviert und erzwungene Schulformwechsel sollen auf das pädagogisch notwendige Maß reduziert werden. War es etwa bislang anders?

Gewerkschaft wirkt: Die neue Landesregierung hat die Korrektur der in Teilen verfassungswidrigen Bezahlung der Lehrkräfte zugesagt.

Lösungsvorschläge für die großen Fragen fehlen

Sicherlich ist die Gestaltung von Übergängen für viele Familien von entscheidender Bedeutung. Die schul- und bildungspolitisch zentralen Fragen bleiben im sogenannten Zukunftsvertrag jedoch unbeantwortet. Dass DIE GRÜNEN den Wahlkampfschlager der CDU „10.000 zusätzliche Lehrkräfte“ im Koalitionsvertrag akzeptiert haben, ist schwer erträglich. Wie illusionär dieses Versprechen ist, wird dadurch deutlich, dass es direkt stark relativiert wird. Nicht sofort besetzbare Stellen will die Koalition „temporär durch weitere pädagogische Fachkräfte und unterstützendes Personal besetzen“. Zusätzliche Aufgaben in Hülle und Fülle, falsche Bedarfsprognosen und nichts Konkretes im Koalitionsvertrag zur Bedarfsdeckung. Der Druck in den Schulen und den Kollegien wird leider weiter steigen.

Vermutlich haben nur die größten Optimist*innen daran geglaubt, ein Zukunftsvertrag für NRW enthielte Vorschläge, wie Belastung und Arbeitszeit der Beschäftigten reduziert werden können. Was hat Schwarz-Grün stattdessen zu bieten? Die 41-Stunden-Woche für die Beamt*innen bleibt, genauso wie das erneut wiederholte Versprechen, die Lehrer*innen von Bürokratie und Verwaltungsaufgaben zu entlasten und die Notwendigkeit neuer Aufgaben kritisch zu prüfen. Und dann noch dies: „Wir initiieren einen Dialog mit den Verbänden über die Definition der Lehrerarbeitszeit, um sie an die aktuellen Erfordernisse anzupassen.“ Unsere gewerkschaftliche Haltung ist klar: Wir brauchen eine Senkung der Arbeitszeit, und der entscheidende Faktor ist die Unterrichtsverpflichtung.

Es erscheint zweifelhaft, ob den Koalitionär*innen der Handlungsdruck bei der Schulfinanzierung bewusst ist. Sieben Zeilen von mehr als siebentausend zum Schulbau, der Infrastruktur und der Schulfinanzierung. Das System der Schulfinanzierung gehört auf den Prüfstand, kommunale Spitzenverbände haben die Bereitschaft signalisiert, das System der inneren und äußeren Schulangelegenheiten sowie die Zuständigkeiten der staatlichen Ebenen neu zu justieren. Das geht weit darüber hinaus zu klären, wie endlich der weitere Verfall der Infrastruktur gestoppt werden soll. 

Aber an keiner Stelle wird die dramatische Unterfinanzierung des Schulsystems augenfälliger als bei den Schulen mit undichten Dächern. Die Bereitschaft, kreative Lösungen – wie die der Ampel in Berlin – zu finden, um die dramatische Unterfinanzierung öffentlicher Dienstleistungen zu beenden, ist nicht vorhanden. „Wir werden Haushalte ohne neue Schulden aufstellen, wie es die grundgesetzliche Schuldenbremse samt Ausnahmen für Naturkatastrophen oder außergewöhnliche Notsituationen als Voraussetzung einer nachhaltigen und generationengerechten Haushaltspolitik vorsieht“, so steht es im Koalitionsvertrag für NRW. Die Schuldenbremse verhindert jedoch eine Trendwende in der Bildungspolitik.

Die Trendwende ist aber dringend erforderlich. Die Vorabauswertung des IQB-Bildungstrends 2021 zeigt, dass im Vergleich zu den letzten Erhebungen in den Jahren 2011 und 2016 signifikant weniger Viertklässler*innen in den Fächern Deutsch und Mathematik die Bildungsstandards der Kultusministerkonferenz erreichen. Der Anteil der Kinder, die die Mindeststandards verfehlen, ist teilweise deutlich gestiegen und die sozialen und zuwanderungsbezogenen Disparitäten haben sich verstärkt. Doch es ist zu kurz gedacht, die Corona-Pandemie als alleinige Ursache zu sehen. Auch in den früheren Kohorten haben zu viele Kinder nicht die Mindeststandards erreicht. Es ist dringender Handlungsbedarf angesagt. Wie will die neue Landesregierung hier gegensteuern?

Unsere gewerkschaftliche Haltung ist klar: Wir brauchen eine Senkung der Arbeitszeit und der entscheidende Faktor ist die Unterrichtsverpflichtung.

Auf gute Zusammenarbeit für gute Bildung!

Lange war unklar, wer das Schulministerium besetzen würde. Im Vorfeld gab es Debatten darüber, dass man sich an diesem Politikbereich, der von mächtigen Verbänden bestimmt sei, die Finger verbrennen werde. In einer großen Sonntagszeitung war direkt nach der Vorstellung des neuen Kabinetts zu lesen, Dorothee Feller stünde ein Überlebenskampf bevor und ihr Ressort gelte als ministerieller Feuerstuhl, der bei ihren drei Vorgängerinnen an der Spitze des Hauses zu irreparablen Imageschäden geführt habe. Das sehen wir anders! 

Für die GEW NRW gilt: Wir sind an erfolgreicher Regierungspolitik interessiert. Voraussetzung dafür sind eine schnelle Konkretisierung des Koalitionsvertrags und dessen zeitnahe, zuverlässige Umsetzung sowie eine tatsächliche Dialogbereitschaft und klare Kommunikation. Gute Bildung ist Grundvoraussetzung für den Fortschritt und jegliche Transformation des Industrielandes NRW. Doch die Bedingungen dafür stimmen nicht. Das Bildungssystem ist auf Kante genäht, geprägt von Fachkräfte- und Raummangel, von flächendeckend nicht gewährleisteter Digitalisierung, von Sanierungs- und Finanzierungsstau einhergehend mit einer immensen Belastung der Beschäftigten. 

Nicht zuletzt: Das Schulbarometer hat aufgezeigt, dass das System Schule am Limit ist und Kolleg*innen auf dem Zahnfleisch gehen, besonders gravierend in NRW. Hier ist die Landesregierung gefragt, mit tragfähigen und nachhaltigen Lösungen für eine sofortige Entlastung des Systems zu sorgen, damit gute Bildung für alle Kinder und Jugendlichen in NRW über das nächste Schuljahr hinaus unabhängig von ihren Startbedingungen ermöglicht wird. Bildungschancen sind schließlich Lebenschancen, deshalb braucht Bildung endlich den notwendigen Stellenwert und eine Verantwortungsgemeinschaft, um die immensen Herausforderungen zu stemmen. Die GEW NRW kennt ihre Verantwortung und wird ihren Beitrag für gute Bildung weiterhin leisten.