lautstark. 08.08.2022

Chancen und Grenzen des Ehrenamts

Der besondere Wert des Tuns

Ehrenamt steht hoch im Kurs – denn viele Menschen engagieren sich ehrenamtlich in den unterschiedlichsten Bereichen und es werden sogar mehr. Zugleich klagen schon seit Jahren gerade Großorganisationen wie Kirchen, Parteien und Gewerkschaften, dass die Anzahl der Engagierten zurückginge. Wie passt das zusammen? Muss Ehrenamt gefördert werden? Und wenn ja, für welche Formen von Ehrenamt gilt das? Und wo kommt ehrenamtliches Engagement an seine Grenzen?

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  • Ausgabe: lautstark. 04/2022 | Ehrenamt: Füreinander das Miteinander gestalten
  • Autor*in: Prof. Dr. Bettina Hollstein
  • Funktion: Geschäftsführerin des Max-Weber-Kollegs für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien
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Im Deutschen Freiwilligensurvey (FWS) werden seit 1999 alle fünf Jahre eine Fülle von Daten zum ehrenamtlichen Engagement im Auftrag der Bundesregierung erhoben. Es handelt sich dabei um die umfassendste Erhebung zum freiwilligen Engagement in Deutschland. Die aktuellsten Zahlen stammen aus dem Jahr 2019. In Deutschland engagieren sich demnach 39,7 Prozent der Personen ab 14 Jahren. Das entspricht etwa 28,8 Millionen Menschen. In Nordrhein-Westfalen liegt die Engagementquote etwas unter dem Durchschnitt. Laut dem Länderbericht zum Deutschen Freiwilligensurvey 2019 engagieren sich hier 36,3 Prozent.

Zum Vergleich: Die höchste Engagementquote der Länder hat Baden-Württemberg mit einem Anteil von 46,1 Prozent, die niedrigste Sachsen mit 34,9 Prozent. Insgesamt scheint es einen Trend zu geben, der darauf hindeutet, dass ehrenamtliches Engagement seit 1999 zugenommen hat. Allerdings ist dabei der Effekt der „sozialen Erwünschtheit“ zu berücksichtigen. Das heißt: Je mehr Ehrenamt und Engagement im gesellschaftlichen Diskurs gelobt werden, umso eher antworten die Befragten im Sinne der angenommenen Wünsche der Interviewer*innen, was sich in höheren Engagementquoten niederschlägt.

Frauen und Männer sind in unterschiedlichen Engagementbereichen aktiv

Während in früheren Jahren mehr Männer ehrenamtlich engagiert waren als Frauen, haben sich die Engagementquoten der Geschlechter inzwischen angenähert. Allerdings unterscheiden sich die Engagementbereiche: Männer engagieren sich stärker im Sport sowie in Rettungsdiensten, während Frauen stärker in familienbezogenen und sozialen Bereichen ehrenamtlich aktiv sind, beispielsweise in Kindergärten und Schulen. Am engagiertesten ist die Gruppe der 30- bis 49-Jährigen mit einem Anteil von 44,7 Prozent. Im Durchschnitt verfügen Ehrenamtliche über eine höhere Bildung und auch über ein höheres Einkommen.

Erwerbstätige, insbesondere in Teilzeit, sind stärker ehrenamtlich tätig als Nichterwerbstätige; Personen mit Migrationshintergrund sind deutlich weniger ehrenamtlich engagiert als Personen ohne einen solchen Hintergrund. Menschen im ländlichen Raum engagieren sich etwas mehr als solche in Städten. Auch Religionszugehörigkeit spielt eine Rolle: Am häufigsten engagieren sich laut FWS Mitglieder der christlichen Kirchen mit jeweils einem Anteil von über 45 Prozent. Ehrenamtliche engagieren sich in vielfältigen Bereichen, wobei Sport und Bewegung mit Abstand der größte Engagementbereich ist. Den höchsten Zuwachs seit der letzten Erhebung im Jahr 2014 hatte der Bereich Umwelt, Naturschutz und Tierschutz zu verzeichnen.

Drei Motivarten sind für Engagierte ausschlaggebend

Die grundsätzlichen Motive für ehrenamtliches Engagement können grob in drei Kategorien unterteilt werden, wobei sich in der Regel Motivbündel aus allen drei Kategorien bei den Engagierten zeigen: 

  • Nutzenorientierte Motive bestehen beispielsweise darin, eine nützliche Qualifikation zu erwerben, wichtige Kontakte zum potenziellen Arbeitsmarkt zu knüpfen, mögliche Arbeitsfelder zu erproben, Ansehen oder Einfluss zu gewinnen sowie eine Aufwandspauschale oder sonstige Vergünstigungen zu erhalten.
  • Wertorientierte Motive entsprechen dem Wunsch etwas für das Gemeinwohl zu tun, zu helfen oder Solidarität zu zeigen. Religiösität sowie Altruismus zählen beispielsweise hierzu.
  • Geselligkeitsorientierte Motive drücken sich in der Tätigkeit an sich aus. Hierzu zählt Spaß haben, mit Menschen zusammenkommen, etwas zurückgeben, Selbstwirksamkeit und Anerkennung erfahren.

Die nutzenorientierten Motive sind diejenigen, die am wenigsten häufig von den Engagierten genannt werden. Lediglich bei jüngeren Ehrenamtlichen kommt der Aspekt der Qualifikation und des Erprobens von bestimmten Tätigkeitsfeldern häufiger vor – insbesondere als Motivation für Freiwilligendienste. Wertorientierte Motive spielen für viele Menschen eine große Rolle. Denn Wertvorstellungen sind mit den individuellen Vorstellungen eines guten Lebens und einer guten Gesellschaft verbunden und ganz zentral mit der Entwicklung einer eigenen Persönlichkeit verknüpft. 88,5 Prozent der Befragten des FWS geben beispielsweise an, anderen helfen zu wollen. Die dritte Kategorie bezieht sich nicht auf externe Ziele wie Nutzen oder Werte, sondern auf das Tun an sich. Dass die Tätigkeit Spaß macht, ist dabei mit 93,9 Prozent das am häufigsten genannte Motiv der Engagierten. Damit kommt dem Engagement an sich, den dabei gemachten Erfahrungen und Begegnungen, eine eigene und zentrale Bedeutung zu.

Ehrenamtliches Engagement definieren

Will man die Chancen und Grenzen von Engagement und dessen Förderung beschreiben, muss man zuerst klären, was eigentlich ehrenamtliches Engagement ist. In erster Linie handelt es sich um freiwilliges Engagement, das nicht entlohnt wird. Das bedeutet auch, dass niemand dazu verpflichtet wird und dass es wegfallen kann, wenn niemand mehr dieses Engagement für wichtig hält. Damit ist Ehrenamt nicht geeignet für Tätigkeiten, die die Gesellschaft für notwendig erachtet. Pflege von Alten und Kranken oder Kinderbetreuung nach der Schule beispielsweise sind Aufgaben, die wir heute in unserer Gesellschaft als unabdingbar betrachten. Diese Aufgaben müssen durch den Sozialstaat garantiert werden und können nicht auf das Ehrenamt verlagert werden.

Ehrenamtliches Engagement ist gemeinwohlorientiert und findet im öffentlichen Raum statt. Nicht entlohnte Familienarbeit oder Nachbarschaftshilfe und die Unterstützung von Freunden und Bekannten, also Arbeit im sozialen Nahraum, fällt damit ebenfalls nicht in den Bereich des Ehrenamts. Schwerer zuzuordnen ist die spontane Hilfe im Zuge von Krisen, zum Beispiel bei der Flutkatastrophe im Ahrtal oder bei der Unterstützung von ukrainischen Flüchtlingen. Spontane Krisenintervention zählt nicht zum Ehrenamt – so wie man auch die Hilfe bei einem Unfall auf der Autobahn nicht dazuzählen würde. Aber sobald Organisationen versuchen, diese spontane Hilfe in bestimmte Abläufe zu lenken und sie in Strukturen zu integrieren, wird daraus projektförmiges ehrenamtliches Engagement. Denn die Tatsache, dass Engagement gemeinschaftlich mit einem gewissen Organisationsgrad ausgeübt wird, ist ein weiteres Merkmal von Ehrenamt.

Zeitlich befristetes Engagement nimmt zu

Seit dem Ende der 1990er-Jahre lässt sich feststellen, dass projektförmiges, zeitlich befristetes Engagement zunimmt, weil die zeitlichen Möglichkeiten, sich dauerhaft und regelmäßig ehrenamtlich zu engagieren, immer begrenzter werden. Die zunehmende – meist beruflich bedingte – Mobilität in zeitlicher und räumlicher Hinsicht führt dazu, dass ein regelmäßiges Engagement immer schwerer wird: Wer seine Arbeitszeit, beispielsweise wegen Bereitschaftszeiten, nicht genau planen kann oder immer wieder an neue Arbeitsorte versetzt wird, kann zum Beispiel nicht jeden Freitagnachmittag das Fußballtraining der Bambini-Mannschaft übernehmen. Fehlende Zeit ist auch der am häufigsten genannte Hinderungsgrund in der Erhebung des FWS für ehrenamtliches Engagement.

Vor diesem Hintergrund sind neue Engagementformen interessant, wie beispielweise Service Learning, einer Lehr-Lern-Form, bei der Schüler*innen und Studierende im Rahmen ihrer Schul- beziehungsweise Studienzeit ehrenamtliche Projekte durchführen und zugleich lernen, wobei das Engagement in die Schul- beziehungsweise Studienzeit integriert ist. Eine Alternative für Beschäftigte ist das sogenannte Corporate Volunteering, bei dem Unternehmen ihren Mitarbeitenden ermöglichen, sich während der Arbeitszeit einem Ehrenamt zu widmen.

Ehrenamt trägt zum gesellschaftlichen Zusammenhalt bei

Warum sollten Bildungseinrichtungen oder Unternehmen ehrenamtliches Engagement ermöglichen? Nicht weil auf diese Weise bestimmte Aufgaben erledigt werden können, für die eigentlich der Staat verantwortlich ist, sondern, weil Menschen im Engagement sich ihrer Vorstellungen vom guten Leben und einer guten Gesellschaft vergewissern. Denn so vielfältig wie sich das Engagement darstellt, so vielfältig ist auch die Gesellschaft. Mit dem ehrenamtlichen Engagement zeigen Menschen, was ihnen in der Gesellschaft wichtig ist: Fairness, Solidarität, Gesundheit, gemeinsam Freude haben und vieles mehr. Der besondere Wert des Engagements liegt dabei im Tun, denn damit bezeugen die Engagierten glaubwürdiger als nur mit Worten, dass ihnen ihr Anliegen so wichtig ist, dass sie sich mit Leib und Seele dafür einsetzen.

Demokratische Gesellschaften brauchen nicht nur geschriebene Verfassungen, um zusammengehalten zu werden, sondern sie müssen auch Ausdrucksformen finden, um die pluralen Vorstellungen vom Guten zu leben. Daher trägt das Ehrenamt zum gesellschaftlichen Zusammenhalt bei und drückt in seiner Vielfalt glaubwürdig aus, wie wir uns eine „gute Gesellschaft“ vorstellen können.