lautstark. 22.06.2021

Was hilft bei Überlastung in pädagogischen Berufen?

BelastungArbeits- und GesundheitsschutzEntlastung

Heavy Metal und Termine mit der Badewanne

Nicht nur die Arbeitsbedingungen an Schulen und Kitas können sehr unterschiedlich sein. Auch die Art und Weise, wie Beschäftigte Stress und Belastungen empfinden, ist individuell. Expert*innen erklären, was dennoch jede*r selbst tun kann, um gesund zu bleiben.

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  • Ausgabe: lautstark. 04/2021 | Stress und Achtsamkeit: Jetzt mal langsam!
  • Autor*in: Nadine Emmerich
  • Funktion: freie Journalistin
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Als Sebastian Ehlen noch an einer Förderschule mit den Schwerpunkten Lernen und emotionale und soziale Entwicklung in Aachen arbeitete, musste er nach Feierabend oft erst mal eine Stunde Heavy Metal hören. „Danach war es dann wieder gut“, sagt der Sozialpädagoge, der inzwischen wissenschaftlicher Mitarbeiter der Gesellschaft für Forschung und Beratung im Gesundheits- und Sozialbereich (FOGS) in Köln ist. Wege, um nach einem anstrengenden Tag Druck abzulassen, gibt es viele. Unterschiedlich ist auch, ob jemand im Job überhaupt Stress empfindet. Konsens besteht derweil: Die Arbeit in pädagogischen Berufen kann mit großen Belastungen verbunden sein.

Die Stressoren sind vielfältig – und längst bekannt

Die Fragebogenstudie „Berufsbezogene Stressbelastungen und Burnout-Risiko bei Erzieherinnen und Erziehern“ von Prof. Dr. Johannes Jungbauer und Sebastian Ehlen bilanzierte bereits 2013: Stressquelle Nummer eins ist in vielen Kitas die mangelhafte Personalausstattung. Weitere Stressoren sind Elternarbeit, Lärm und Dokumentationspflichten. „Wenn ich zu Hause selbst noch Betreuungs- oder Pflegeaufgaben habe, führt das schnell zu Überforderung“, sagt Sebastian Ehlen.

Simone Friedrich leitet als Diplompädagogin an einer Volkshochschule in Norddeutschland die Programmbereiche Gesellschaft und Gesundheit und gibt freiberuflich für die GEW Seminare zum Arbeits- und Gesundheitsschutz. Sie kann rund 20 Belastungsfaktoren nennen, die Lehrkräfte ihr regelmäßig schildern. Sie reichen von Arbeitsverdichtung und Zeitdruck über Lärm und Raumnot bis zu mangelnder Solidarität im Kollegium und der Art der Vertretungsregelung.

„Flächendeckend herrschen in den Bildungseinrichtungen strukturell ungünstige Arbeitsbedingungen“, sagt die kommissarische Vorsitzende der GEW NRW, Ayla Çelik. „Dieser Umstand lässt die Wertschätzung der Beschäftigten und ihrer Arbeit vermissen.“ Die GEW fordert die Senkung der quantitativen Arbeitsbeanspruchung, eine bessere Bezahlung von Erzieher*innen und die gleiche Vergütung aller Lehrämter nach A13/E13.

Ein gutes Betriebsklima wirkt Stress entgegen

Stress ist jedoch nicht schlicht ein Merkmal der modernen Arbeitswelt, vergessen werden darf nicht: „Wenn ich dauerhaft über Grenzen gehe, kann das zu chronischer Erschöpfung, Schlafstörungen, Gereiztheit und Panikattacken führen“, sagt Sebastian Ehlen. Zwar sind Erzieher*innen laut Studie nicht öfter krank als andere Arbeitnehmer*innen. Offensichtlich verfügten die meisten von ihnen über eine ausreichende psychische Widerstandsfähigkeit. Fast ein Fünftel könne aber als stark Burn-out-gefährdet gelten. 40 Prozent der Befragten gaben an, in hohem oder sehr hohem Maße beruflichen Stress zu erleben.

Wie der Arbeitsalltag in einer Kita aussehe, hänge jedoch von vielen Faktoren ab, erklärt Sebastian Ehlen: Ist die Einrichtung eine städtische oder private? Liegt sie in Berlin-Prenzlauer Berg oder Oberhausen-Lirich? Auch Simone Friedrich kennt Belastungsunterschiede je nach Schulform. In sozioökonomisch benachteiligten Quartieren kämen Folgen von Armuts- und Bildungsproblemen dazu, sagt Sebastian Ehlen. Was Erzieher*innen dort in der Kinderbetreuung und Elternarbeit leisteten, sei schon fast Jugendhilfe.

Umgekehrt zeigte die Studie: Gute Arbeitsbedingungen zeichnen sich durch ein realistisches Pensum, angemessene Gruppengrößen, Möglichkeiten für Pausen, kollegiale Beziehungen im Team, eine konstruktive Zusammenarbeit mit der Leitung und Lösungen bei Personalausfall aus. „Ein gutes Betriebsklima ist das wirksamste Mittel gegen Stress“, bilanziert Sebastian Ehlen. Auch in Simone Friedrichs Seminaren geben die Teilnehmenden an, sie wünschten sich mehr Personal und Fachkräfte, kleinere Klassen, ein Recht auf Pausen, Ruhezonen sowie Beratungsangebote und Supervision.

Institutionelle Veränderungen und Selbstfürsorge

Sebastian Ehlen sieht die Kitaträger und -leitungen in der Pflicht, etwa über die Personalplanung für stressarme Arbeitsbedingungen zu sorgen. Zudem müssten die Kommunen die Einrichtungen kindgerechter sowie mit Rückzugsräumen für Erzieher*innen und Elternberatungen ausstatten. Vielerorts seien bauliche Mängel zu beseitigen. „Vor allem in klammen Kommunen ist der Investitionsstau groß.“

Schulleitungen rät Simone Friedrich, zuerst eine ausführliche Belastungsanalyse zu machen: Was sind die Probleme? Was bedrückt die Beschäftigten? Ist der Krankenstand bereits hoch? Erst danach könnten Lösungen entwickelt werden. Um langfristig gesundheitsförderliche Arbeitsstrukturen zu schaffen, sei allerdings mehr erforderlich als ein einmaliger Schulentwicklungstag.

Zudem geht es nicht nur um institutionelle, sondern auch um individuelle Veränderungen. „Stress ist erst mal nichts Schlimmes“, sagt Sebastian Ehlen. „Die Frage ist: Wie verarbeite ich ihn?“ Er rät: auf sich selbst achten, das eigene Befinden ernst nehmen, sich klar darüber werden, was genau als belastend empfunden werde. Wichtig sei es, sich nicht zurückzuziehen, sondern aktiv das konstruktive Gespräch zu suchen.

Simone Friedrich empfiehlt, alternative Möglichkeiten auszuloten. „Muss ich als Kunstlehrerin zum Beispiel plötzlich die Biologiekollegin vertreten, ist es vielleicht einfacher, mit der Schulleitung über die Unsicherheit des fachfremden Vertretungseinsatzes zu sprechen, als mir das fehlende Fachwissen anzueignen.“ Außerdem plädiert sie dafür, sich mit Kolleg*innen über Belastungen auszutauschen, sich Prioritäten zu setzen, auch mal Nein zu sagen oder Hilfe einzufordern. Dabei sei viel Geduld erforderlich: „Verhaltensmuster ändern sich nicht von heute auf morgen.“

Individuelle Copingstrategien

Wichtige Stichworte, um die alltäglichen Stress und Belastungssituationen gut bewältigen zu können, sind Selbsterfahrung und -wahrnehmung. „Ich hatte mal einen Professor, der hat jedem im Erziehungsberuf empfohlen, mal eine Analyse zu machen, um sich selbst und die eigenen Grenzen kennenzulernen“, erinnert sich Sebastian Ehlen. „Das ist nicht für jeden etwas, aber eine systemische Beratung oder Supervision kann bei Stress oder Konflikten entlastend wirken.“

Lehrer*innen scheuten derweil oft eine psychologische Beratung, weiß Simone Friedrich. Grund sei die Angst, als „krank“ und „hält nicht lange durch im Berufsleben“ abgestempelt zu werden und die Verbeamtung zu gefährden. „Im Arbeitsalltag werden Lehrkräfte und Erzieher*innen mit ihren Sorgen und Schwierigkeiten alleine gelassen. Was fehlt, sind niederschwellige Hilfsangebote“, sagt Ayla Çelik.

Unterdessen sind auch Copingstrategien fern des Arbeitsplatzes den Expert*innen zufolge individuell: Simone Friedrich versucht, mit jeder Person einzeln herauszufinden, was ihr guttut. Und bestärkt sie dann darin, sich genau dafür Zeit zu blocken. „Es geht darum, Auszeiten zu schaffen und Inseln im Alltag zu finden. Die kleinen Ruhepausen, um sich dann wieder dem Stress bei der Arbeit zu stellen.“ Das könne zum Beispiel auch schon sein, zu Hause zu sagen: „Am Donnerstag um 17 Uhr kann ich nicht kochen oder die Kinder abholen, da habe ich meinen Badewannen-Termin.“

Auch Sebastian Ehlen betont die Wirksamkeit schon kleiner Dinge – mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren, sich danach mit guten Freund*innen treffen, singen, raus in die Natur oder Yoga machen. „Lebensfreude ist wichtig: Ich sollte Sachen planen, auf die ich mich freue.“

Ayla Çelik fordert darüber hinaus, den Arbeits- und Gesundheitsschutz in Bildungseinrichtungen voranzubringen. Es gelte, von Beginn an die Bedarfe der jungen Berufseinsteiger*innen in den Fokus zu nehmen, Belastungen zu senken und Unterstützung anzubieten. „Wir dürfen nicht die nächsten Generationen ausbilden, die sich mit ihren Bedarfen nicht gesehen und gehört fühlen.“ Die GEW NRW bietet Referendar*innen und Junglehrer*innen zum Beispiel den Fortbildungstag „Senkrechtstart“ an, um die jungen Kolleg*innen so gut wie möglich auf den herausfordernden Schulalltag vorzubereiten.