lautstark. 22.06.2021

Unterricht im Einklang mit dem Biorhythmus

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Gleitzeit am Gymnasium Alsdorf

Schlafmangel macht krank. Das wissen alle, die phasenweise schon einmal zu wenig Schlaf bekommen haben. Besonders Jugendliche sind betroffen, denn ihre innere Uhr geht stark nach. Dennoch scheint der Schulanfang um acht Uhr wie in Stein gemeißelt. Allerdings schert ein Gymnasium bei Aachen aus.

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  • Ausgabe: lautstark. 04/2021 | Stress und Achtsamkeit: Jetzt mal langsam!
  • Autor*in: Mirjam Baumert
  • Funktion: freie Journalistin
Min.

„Der Wecker surrt. Das alberne Geknatter / Reißt mir das schönste Stück des Traums entzwei. / Ein fleißig Radio übt schon sein Geschnatter. / Pitt äußert, daß es Zeit zum Aufstehn sei“, reimt die Dichterin Mascha Kaléko 1937 in ihrem „Langschläfers Morgenlied über die immergleiche Qual der jäh endenden Nachtruhe“. Auch heute bestimmt der Wecker unseren Tagesrhythmus. Kaum jemand bringt ihn zum Verstummen, ohne das Bett zu verlassen.

Ganz anders Christa Tetete aus Alsdorf bei Aachen. „Der Wecker klingelt, ich sehe – 7 Uhr. Und denke mir gleich: Das wird nichts. Es ist für alle Beteiligten das Beste, wenn du weiterschläfst und nicht zur Schule gehst.“ Was nach Blaumachen klingt, ist am Gymnasium Alsdorf regelkonform: Die Elftklässlerin kann völlig sorglos um neun Uhr ihren Schultag beginnen. Zu diesem Zeitpunkt ist ihre Mitschülerin Franca Meyer als bekennender Morgenmensch schon seit einer Stunde in der Schule.

Unterricht im Einklang mit dem Biorhythmus

Das besondere Konzept des Gymnasiums Alsdorf macht es möglich: In der Oberstufe können Schüler*innen sich eine feste Anzahl Selbsttätigkeitsstunden frei organisieren. Schulleiter Martin Wüller erklärt: „Wenn jetzt Frieda eine Langschläferin ist und lieber erst um neun Uhr kommt, dafür aber garantiert, dass sie die Zeit, in der sie dann nicht in der Schule ist, in eine ihrer Freistunden verlegt, dann ist im Grunde genommen die Sache geritzt.“

Christa Tetete kann als Oberstufenschülerin die erste Stunde später nachholen und verpasst nichts. Unkompliziert ist das in Alsdorf aber nur, weil die Schule sich der sogenannten Daltonpädagogik verschrieben hat. In Dalton, Massachusetts, wirkte um 1900 die Lehrerin Helen Parkhurst. Ihre Pädagogik bestimmte ein hoher Anteil an Selbstlernphasen. Nach ihrem Vorbild haben in Aachen sogenannte Daltonstunden schon lange Tradition: Selbsttätigkeitsstunden, die auch auf die erste Stunde gelegt sind.

Schulleiter Martin Wüller erinnert sich noch an verschlafene Gesichter in montäglichen ersten Stunden: „Was ist los, Leute?“ Die Antwort: „Ist doch mitten in der Nacht!“ Eine Fortbildung 2015 markierte die Geburtsstunde des Gleitzeitmodells: Dort stellte der Erziehungswissenschaftler Peter Struck Unterricht im Einklang mit dem Biorhythmus als ein Merkmal „guter Schulen“ vor. Bei Martin Wüller und seinem Vorgänger Wilfried Bock weckte er damit schlafende Hunde. Die Kolleg*innen waren schnell überzeugt – und die Schüler*innen erst recht: „Die waren wie ausgewechselt“, schildert Martin Wüller.

Innere Uhr und Chronotypen

„Bei Jugendlichen geht die biologische Nacht erst viel später los. Das heißt, wenn sie morgens aufstehen, um sechs oder sieben, ist bei ihnen noch tiefe biologische Nacht. Deshalb haben sie oft auch noch keinen Hunger. Sie sind noch nicht auf Tagesaktivität eingestimmt“, weiß Chronobiologin Eva Winnebeck. Seit fast zehn Jahren erforscht sie den menschlichen Schlaf. In Alsdorf begleitete sie 2016 als Projektleiterin die Umstellung auf Gleitzeit. Der damalige Schulleiter Wilfried Bock hatte Till Roenneberg, Professor für Chronobiologie an der Münchener Ludwig-Maximilians-Universität, um einen wissenschaftlichen Blick auf das neue Modell gebeten. Für Till Roenneberg und seine erfahrene Postdoktorandin Eva Winnebeck eine seltene Chance. Mit Aktivitätsuhren und Anleitungen zu Onlineschlaftagebüchern reiste ihr Team nach Alsdorf.

Die Forschung wirbt schon lange dafür, den Acht-Uhr-Start zu verschieben. Denn die möglichen Folgen des chronischen Schlafmangels sind verheerend: Sie reichen von psychischen Beschwerden wie Depressionen über körperliche Krankheiten wie Diabetes und Adipositas bis hin zu einem erhöhten Unfallrisiko. Selbst gesellschaftliche Folgen zeichnen sich vermehrt ab: Schlafmangel verstärke soziale Unterschiede. Alarmierend, in einem Bildungssystem, das als Ungleichheitskatalysator bekannt ist. „Schüler*innen, die ohnehin schon benachteiligt sind, haben dann noch einen Faktor. Sie wohnen auch häufiger weiter weg und müssen mit öffentlichen Verkehrsmitteln zur Schule, während andere von den Eltern gebracht werden“, so Eva Winnebeck. „In prekären Verhältnissen herrscht meistens schon Schlafmangel vor, zum Beispiel aufgrund der Schichtarbeit der Eltern.“

Historische Bedingung für Schichtarbeit war im 19. Jahrhundert die Einführung des künstlichen Lichts. Heute bewirke die moderne Lichtwelt, dass wir als Gesellschaft eigentlich alle zu spät schlafen, also unsere innere Uhr nachgehe, erklärt die Schlafforscherin. Betroffen sind also nicht nur Jugendliche, sondern zum Beispiel auch Lehrkräfte – besonders diejenigen unter ihnen, deren innere Uhr sehr spät gehe. Das ist neben dem Einfluss des Lichts abhängig vom Alter und zu einem geringen Anteil auch genetisch bedingt. Wir kennen sie, die Eulen und die Lerchen. Sie markieren die extremen Enden eines Spektrums an Chronotypen. Besonders die Eulen unter den Lehrkräften gewinnen also mit dem Alsdorfer Modell: Das zeige sich in einer höheren Zufriedenheit, bemerkt Schulleiter Martin Wüller. Durch die geringere Auslastung in der ersten Stunde gehe es für einige Kolleg*innen auch mal später los und sogar das Kind könne noch schnell zur Kita gebracht werden.

Stigma der Langschläfer*innen

Für Jugendliche gilt: Egal ob Eule oder Lerche, sie profitieren so gut wie immer von einem späteren Schulstart um 9 Uhr. Das belegt die Münchener Chronobiologin mit ihrer Studie. Denn die innere Uhr bei Jugendlichen gehe meist so stark nach, dass eine Stunde später nur sehr wenig auffange. Egal ob Eule oder Lerche. Erst mit einem späteren Schulbeginn ab 10 Uhr fallen die Chronotypen der Jugendlichen sehr wahrscheinlich ins Gewicht. In anderen europäischen Ländern wie Finnland oder Frankreich ist ein späterer Schulstart deshalb längst Normalität.

In Alsdorf war Eva Winnebeck nach der Einführung des neuen Modells überrascht: Im Schnitt gingen die Schüler*innen nur an zwei Tagen die Woche später in die Schule. Die Gründe: Kaum jemand wollte länger bleiben und die Stundenpläne umfassten selten fünf Freistunden, die einen Ausgleich ermöglichen, ohne später nach Hause zu kommen. Doch die Flexibilität zu haben und zu wissen, länger schlafen zu können, erhöhte die Schlafdauer und subjektive Schlafqualität. Die Schlafmedizin weiß, wie wichtig Schlaf für die Konzentrationsfähigkeit und damit auch für die Lernfähigkeit ist. Eva Winnebeck fragt sich, wie wir längeres Schlafen attraktiver machen und vom gesellschaftlichen Stigma lösen können.

„Das mit der goldgeschmückten Morgenstunde / Hat sicher nur das Lesebuch erdacht. / Ich ruhe sanft. – Aus einem kühlen Grunde: / Ich hab mir niemals was aus Gold gemacht“, dichtet Mascha Kaléko weiter. Kurzer Schlaf und frühes Aufstehen stehen für hohe Leistungsbereitschaft. Spätes Aufstehen dagegen: ein Indiz für Faulheit. Die Autorin Margarete Stokowski beobachtete diese Überzeugung in Instagram-Posts. Dort brüsten sich Nutzer*innen mit Sechs-Uhr-Aufstehzeiten und höchst produktiven Morgenroutinen: Betten machen, meditieren, Zeitung lesen – schon richtig was geschafft. Der Kapitalismus raubt uns also den letzten Schlaf. Margarete Stokowski plädiert für eine neue Bewegung: liegen bleiben. Für längere und flexiblere Schlafzeiten, zum Erhalt der eigenen Ressourcen.

Eine Vorkämpferin dieser Bewegung hätte die ehemalige Stadtschülersprecherin Hannah Imhoff aus München werden können. 2016 war sie von Alsdorf inspiriert und rief zum Ausschlaf- Streik auf. Doch bisher ohne Erfolg. „Wir wundern uns, dass niemand auf die Barrikaden geht“, staunt die Schlafforscherin Eva Winnebeck. Die Beharrungskräfte des Acht-Uhr-Modells seien in Deutschland trotz erdrückender Beweislast sehr stark.

Neue Erfahrungen in der Pandemie

Doch in der Pandemie ticken die Uhren etwas anders. Auch in Alsdorf. Dort beginnt der Unterricht für Franca Meyer nun ebenfalls später. „Damit wir nicht immer gleichzeitig zur Schule kommen“, erklärt die 17-Jährige. „Da schlafe ich auch gerne mal etwas länger.“ Die Daltonstunde wurde in den Distanzunterricht verlegt. Jetzt nutzt auch Franca Meyer die Möglichkeit, liegen zu bleiben.

Ebensolche neuen Erfahrungen machen in der Pandemie auch andere Schüler*innen und Lehrerkräfte aus NRW. Das Schulministerium erlaubt seit November 2020 gestaffelte Anfangszeiten – zwischen 7 und 9 Uhr. Für einige wenige: eine Mütze Schlaf mehr. Weckt das vielleicht den Wunsch nach einem späteren Schulbeginn und mischt die Diskussion neu auf? Noch ist das reine Spekulation. Doch werden Schlafzeiten lediglich zur Leistungs- und Effizienzsteigerung ausgedehnt, bleibt das Problem einer übernächtigten Gesellschaft bestehen. Denn Schlaf ist widerspenstig, er lässt sich schwer erzwingen.