lautstark. 22.06.2021

Belastung am Arbeitsplatz Hochschule

Wissenschaft und ForschungHochschullehreBelastungArbeits- und Gesundheitsschutz

Wenn Leidenschaft nicht reicht

Die vertiefte Arbeit an eigenen Forschungsprojekten, an wissenschaftlichen Herzensthemen – das soll Stress sein? Unter #IchBinHanna schildern junge Wissenschaftler*innen im Netz, wie existenziell ihre berufliche Belastung tatsächlich ist.GEW-Hochschulexperte Andreas Keller kennt die Hintergründe.

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  • Ausgabe: lautstark. 04/2021 | Stress und Achtsamkeit: Jetzt mal langsam!
  • Autor*in: Andreas Keller
  • Funktion: Hochschulexperte und stellvertretender Vorsitzender der GEW
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Wissenschaft als Leidenschaft, Berufung und Selbstverwirklichung: Kann man es denn besser erwischen? Tatsächlich wissen wir, dass Wissenschaftler* innen besonders hoch zufrieden mit den Inhalten ihrer Arbeit und daher in der Regel auch besonders motiviert sind. Deshalb sind sie auch bereit, die Nachteile ihrer Tätigkeit in Kauf zu nehmen – allen voran: das Befristungsunwesen.

Befristung hat gesundheitliche Folgen

Die Befristungsquote beim wissenschaftlichen Nachwuchs liegt bei 92 Prozent. Die durchschnittliche Dauer eines Zeitvertrags beträgt gerade mal rund zwei Jahre. Das ergibt sich aus dem jüngsten „Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs 2021“. 

Die Befristung der Arbeitsverträge und die daraus resultierende berufliche Unsicherheit sind zugleich ein zentraler Belastungsfaktor für die Gesundheit im akademischen Mittelbau. Das ergibt sich aus der Studie „Arbeitsbelastungen, Ressourcen und Gesundheit im Mittelbau“, die Tino Lesener und Burkhard Gusy 2017 auf einer gemeinsamen Tagung der GEW und des Arbeitskreises Gesundheitsfördernde Hochschulen vorgestellt haben. Als weitere Belastungsfaktoren identifizieren sie die zeitlichen Anforderungen, die mit Mehrarbeit kompensiert werden, sowie die fehlende Vereinbarkeit von Familie und Beruf.

Wer sich auf das Wagnis einer wissenschaftlichen Laufbahn eingelassen hat, weiß, wovon die Rede ist. Wie ein Damoklesschwert schwebt das Risiko einer Nichtverlängerung des Zeitvertrags über Lehre und Forschung. Vor der Berufung auf eine Professur gibt es in der Regel keine dauerhafte Perspektive. Und die Konkurrenz um die wenigen Lehrstühle ist enorm.

Bestleistungen ohne Pause

Es reicht nicht aus, einen guten Job in Forschung und Lehre zu machen und die Doktorarbeit, später die Habilitationsschrift erfolgreich zu verteidigen. Es kommt darüber hinaus darauf an, möglichst viele Publikationen in begutachteten Zeitschriften unterzubringen, Drittmittel für die Forschung einzuwerben, Auslandserfahrung zu sammeln, Einladungen zu Kongressen der Fachgesellschaften zu ergattern. Gute Leistungen in der Lehre sind nebenbei über kontinuierliche Evaluationen und hochschuldidaktische Zertifikate nachzuweisen. 

Nicht allein der schiere Workload ist das Problem, sondern der kontinuierliche Druck, Bestleistungen zu erbringen, um auf der wissenschaftlichen Karriereleiter eine Sprosse weiter nach oben zu klettern, statt jäh abzustürzen, was jederzeit droht. Wer nichts für die Forschung tut, hat das Gefühl, die Zeit zu vergeuden und im Wettbewerb in den Rückstand zu geraten – selbst am Feiertag oder am Wochenende. Die Entgrenzung von Arbeits- und Privatleben ist weit fortgeschritten.

Die Coronakrise hat die Missstände noch verschärft. Über Nacht mussten Konzepte für die digitale Lehre entwickelt, Homeschooling oder Homekindergarten für den eigenen Nachwuchs organisiert werden. Das schlechte Gewissen wurde zum ständigen Begleiter.

Große Reformen und simple Maßnahmen

Was tun? Wer die Belastung von Wissenschaftler* innen abbauen möchte, kommt nicht um eine Reform von Karrierewegen und der Beschäftigungsbedingungen herum: Dauerstellen für Daueraufgaben, verlässliche Karrierewege, Mindeststandards für Zeitverträge dort, wo sie vertretbar sind, etwa in der Promotionsförderung.

Darüber hinaus müssen die Arbeitgeber in der Wissenschaft Beschäftigungsunsicherheit als Belastungsfaktor und Gesundheitsgefährdung ernst nehmen und zum Gegenstand von arbeitsschutzrechtlichen Gefährdungsbeurteilungen machen. Einfache Maßnahmen wie die rechtzeitige Ankündigung von Vertragsverlängerungen oder die Vermeidung von Mehrfachbelastungen für befristet Beschäftigte können der gesundheitlichen Belastung entgegenwirken.