lautstark. 22.06.2021

Achtsamkeit in Schule und Unterricht

Arbeits- und GesundheitsschutzEntlastungGrundschule

Bis zum letzten Ton der Zimbel

Achtsamkeit hat Hochkonjunktur und hält auch Einzug in die Schulen. Zwei Modellprojekte weisen Erfolge achtsamkeitsbasierter Methoden nach: Sie zeigen gesundheitsfördernde Auswirkungen bei Kindern und Erwachsenen und einen besseren Teamzusammenhalt. Ein ganzes System auf einen solchen Kurs einzustimmen, ist ein langwieriger Prozess.

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  • Ausgabe: lautstark. 04/2021 | Stress und Achtsamkeit: Jetzt mal langsam!
  • Autor*in: Anne Petersohn
  • Funktion: freie Journalistin
Min.

Barfuß laufen, den Vögeln zuhören, Bäume umarmen: In Karen Klevers Klasse beginnt ein guter Schultag im Park. Ein achtsamer Rundgang durch die Natur habe einen nachhaltigen Effekt, betont die Lehrerin der Solinger Grundschule Gerberstraße: „Gerade in diesen Zeiten, wo viel seelische Unruhe da ist, sind solche Übungen wichtig. Die Kinder kommen ruhig und lernbereit wieder im Klassenraum an.“

Seit 2016 ist Achtsamkeit „ständige Begleiterin“ im Schulalltag der Solinger Lehrerin. Damals startete an allen 21 Grundschulen ihrer Heimatstadt das dreijährige Landesmodellprojekt „Gesundheit, Integration, Konzentration“ (GIK). Kernfragen der Initiator*innen und des wissenschaftlichen Begleitteams: Wie kann Achtsamkeit im Bildungssystem gefördert werden? Kann sie Stress im Schulalltag reduzieren, die Gesundheit der beteiligten Menschen fördern und die Grundschulkultur zum Positiven verändern? Über Fragebögen und Interviews behielt das interdisziplinäre Team aus Wissenschaftler*innen diese Aspekte im Blick.

Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion

Im Vordergrund stand die Schulung der Lehrkräfte. Sie erlernten die Grundlagen der achtsamkeitsbasierten Stressreduktion (Mindfulness-Based Stress Reduction, kurz: MBSR), um daraus Anregungen für Unterricht und Schulalltag abzuleiten. Das Programm beinhaltet Elemente aus Yoga, Meditation, Körperund Atemwahrnehmung und soll Teilnehmenden einen achtsamen Umgang mit sich selbst und anderen ermöglichen. „Erwachsene sind unsere primäre Zielgruppe: Erst wenn sie es schaffen, selbstfürsorglich ihren Alltag zu gestalten, können sie diese Haltung auch an die Kinder weitergeben“, betont Dr. Nils Altner.

Der Bildungs- und Gesundheitswissenschaftler am Lehrstuhl für Naturheilkunde und Integrative Medizin der Universität Duisburg-Essen war maßgeblich an der Planung, Umsetzung und Evaluation des Modellprojekts beteiligt. Bundesweit hat er inzwischen über 500 Multiplikator*innen aus dem pädagogischen Bereich in achtsamkeitsbasierter Bildungsarbeit geschult. Gerade in Zeiten zunehmender Digitalisierung sei es laut Nils Altner wichtig, die Fähigkeiten zur Selbsterkenntnis und Selbstregulation zu fördern. „Die meisten Menschen verbringen viel Zeit damit, online zu sein und auf Bildschirme zu starren. Das erzeugt Stress, und es braucht Wege, damit umzugehen“, erklärt der Wissenschaftler. Die Grundsätze der Achtsamkeit entsprächen dabei einer zutiefst kindlichen Herangehensweise. „Kleine Kinder gehen in einen sinnlichen Kontakt mit sich und der Welt, sie greifen nicht auf vorgefertigte Konzepte zurück.“ Gerade deshalb nähmen sie achtsamkeitsbasierte Methoden so dankbar an. „Diese Art der Bildungsarbeit ermöglicht es ihnen, ihre Potenziale zu entfalten.“

Klassenklima und Konzentrationsfähigkeit verbessern sich

Das Solinger Modellprojekt habe die positiven Grundannahmen bestätigt: „Wir haben festgestellt, dass bei den Erwachsenen die Werte für Achtsamkeit, Selbstmitgefühl und Emotionsregulation steigen“, betont Nils Altner. Mehr Achtsamkeit und Selbstmitgefühl gingen mit einer verbesserten Fähigkeit einher, auch negative Gefühle zuzulassen – und sich besser erholen zu können. Ein gestärktes Selbstmitgefühl ermögliche zudem Empathie. „Wir konnten dadurch mehr wahrgenommenen kollegialen Zusammenhalt und eine höhere Bereitschaft feststellen, Verantwortung im Team zu übernehmen.“ Dank einer zunehmend mitfühlenden Kommunikation habe sich die Beziehungsgestaltung zu Kindern und Kolleg*innen intensiviert; Klassenklima und Konzentrationsfähigkeit der beteiligten Schüler*innen verbesserten sich.

Spezielle Fortbildung für Lehrkräfte

Mit den Projekterfahrungen ist unter Federführung von Nils Altner eine Fortbildung an der Universität Duisburg-Essen entstanden: „GAMMA – Gesundheit, Achtsamkeit und Mitgefühl“ im menschenbezogenen Arbeiten richtet sich an Lehrkräfte aus ganz Deutschland. Auch Annette Gieß hat das Programm durchlaufen. Die Lübecker Gymnasiallehrerin beschäftigt sich seit über zehn Jahren mit dem Thema Achtsamkeit und hat verschiedene Aus- und Weiterbildungen in diesem Bereich absolviert. In ihrer zehnten Klasse arbeitet sie täglich mit achtsamkeitsbasierten Übungen.

„Ich binde immer wieder Einheiten ein, bei denen die Schüler*innen in Kontakt mit ihrem Atem kommen und darüber ihren Fokus ausrichten. Das hilft ihnen nicht nur in schulischen Stresssituationen.“ Gerade Jugendliche in der Pubertät profitierten davon, ihre Emotionen regulieren zu können. „Sie können besser reflektieren, gehen freundlicher miteinander um, und sie haben einen positiven Blick auf die Welt – auch jetzt, in der Pandemie.“ Angesichts dieser Effekte sei es wünschenswert, Achtsamkeit in der Lehrerausbildung zu verankern – „damit die gesamte Schullandschaft davon erfasst wird“.

Beitrag für die Lehrer*innengesundheit

Genau diese Meinung vertritt Susanne Dannhorn, Grundschullehrerin und Fachleiterin am Zentrum für schulpraktische Lehrerausbildung in Duisburg. Gemeinsam mit ihrer Kollegin Amaya Santos Contreras hat auch sie an der GAMMA-Fortbildung teilgenommen. Beide waren so begeistert, dass sie nicht nur ein Achtsamkeitsritual vor Konferenzen etabliert haben. Sie machen auch den angehenden Grundschullehrer* innen ihres Seminars ein freiwilliges Angebot. „Wir sehen darin die Chance, ihr pädagogisches Handeln zu prägen und einen Beitrag zur Lehrer*innengesundheit zu leisten“, erklärt Susanne Dannhorn. In den monatlichen Achtsamkeitsstunden werden neben Übungen zur Selbsterfahrung auch wissenschaftliche Erkenntnisse vermittelt sowie Anregungen für den Unterricht gegeben. „Schon kleine Dinge verändern etwas“, betont Susanne Dannhorn.

Sie selbst habe zu mehr Ruhe und Ausgeglichenheit gefunden. „In stressigen Situationen halte ich inne, fokussiere mich auf meinen Atem und überlege dann, wie ich reagiere.“ Diese Haltung vermittelt sie auch Schüler*innen. Die Übungen sind vielfältig: morgens als Erstes dem Klang der Zimbel lauschen und dabei ganz leise sein oder den Mitschüler*innen eine „warme Dusche“ aus Komplimenten schenken. „Die Kinder genießen diese Momente und sind danach viel eher bereit, sich auf den Lerninhalt einzulassen.“

Achtsamkeit zur Suchtprävention

Ähnliche Erfahrungen hat Marion Busch gemacht. Sie arbeitet in der offenen Ganztagsbetreuung der Bonner Michaelschule und hat mit drei Kolleginnen am Projekt „AmSel – Achtsamkeits- und mitgefühlsbasierte Suchtprävention in Schulen“ teilgenommen. Dieses Landesmodellprojekt hat Dr. Nils Altner in Kooperation mit den Fachstellen für Suchtprävention in Bonn, Köln und dem Rhein-Sieg-Kreis entwickelt. Ausschlaggebend waren die Erfahrungen aus den Solinger Grundschulen und der GAMMA-Fortbildung. Die Idee ist hier wie dort dieselbe: Pädagog*innen lernen die Qualitäten eines achtsamen Alltags kennen und geben ihre Erfahrungen weiter. „Durch Lernen am Modell stärken die Schüler*innen ihre Fähigkeiten zur Selbstregulation, Beziehungsgestaltung und Gesundheit. Dadurch sinken die Risiken für Suchterkrankungen“, sagt Dr. Nils Altner.

Für Marion Busch hat mit der Achtsamkeitsschulung ein neuer Alltag begonnen. „Ich bin viel ruhiger geworden und mache mir nicht schon auf dem Weg zur Schule Gedanken“, erzählt sie. Gemeinsam mit ihren Mitstreiterinnen aus dem AmSel-Projekt nimmt sie einmal wöchentlich an einer Meditation teil. „Wir nutzen diese Stunde, um uns auszutauschen und zu schauen, wo Achtsamkeit im Schulalltag verankert ist.“

In der offenen Ganztagsbetreuung der Bonner Michaelschule gibt es nun täglich einen stillen Beginn. Dafür wurde ein Achtsamkeitskorb mit Zimbel, Achtsamkeitsbuch und einer Schneekugel etabliert. „Wir schlagen die Zimbel an oder stellen die Schneekugel in die Mitte. Die Kinder sind dann so lange leise, bis der Ton verklungen oder die letzte Flocke auf den Boden gesunken ist. Danach sind sie gut in der Lage, sich an ihre Hausaufgaben zu setzen.“ Gerade „zappelige“ Schüler*innen kämen leichter zur Ruhe. „Außerdem achten die Kinder mehr aufeinander und können ihre Bedürfnisse artikulieren,“ sagt Marion Busch.

Doch trotz der positiven Erfahrungen ist es noch ein weiter Weg, Achtsamkeit in der Schullandschaft zu verankern, so der Tenor der Fachkräfte. „Ein Kollegium ist viel zu heterogen, um alle auf einen Schlag davon zu überzeugen, und dann kommt noch der stressige Schulalltag hinzu. Man braucht deshalb eine Führung und eine Schulaufsicht, die diese Ansätze befürworten und systematisch umsetzen möchten“, sagt beispielsweise Karen Klever. Sie setzt sich immer wieder für einen achtsamen Schulalltag ein und führt das Erreichte im Kleinen weiter. Vor jeder Klassenarbeit zündet sie eine Kerze an – „für ein achtsames Lernklima, in dem man selbstsicher arbeiten kann“.

Achtsamkeit üben

Bewusst seinen Platz einnehmen

Ihren Unterricht beginnt Annette Gieß gerne mit einer Lauschübung für ihre Schüler*innen, um sie auf das Lernen vorzubereiten:

  • Nehmt wahr, wie ihr sitzt. Spürt den Stuhl unter euch, das Gesäß auf der Sitzfläche.
  • Spürt eure Füße auf dem Boden.
  • Spürt euren Atem, für ein paar Atemzüge, so wie er jetzt gerade ist.
  • Beim Erklingen des Zimbeltons richtet ihr eure Aufmerksamkeit ganz auf den Ton. Hebt den Arm, wenn ihr den Klang nicht mehr hören könnt.

Bewusst seinen Stand einnehmen

Um sich selbst auf den Unterricht vorzubereiten, empfiehlt Lehrerin Annette Gieß diese Übung. Sie eigent sich für Lehrkräfte gleichermaßen wie für Schüler*innen, die vor der Klasse eine Präsentation halten:

  • Spüre deine Füße auf dem Boden.
  • Nimm die Aufrichtung deines Oberkörpers sowie der Körper-Mittelachse wahr. Spüre deinen Körper.
  • Nimm deinen Atem wahr.
  • Nimm einen bewussten Atemzug und beginne erst dann zu sprechen.

 

Augenblick mal – Achtsam im Miteinander

In seinem Buch „Wege zu mehr Achtsamkeit und Mitgefühl in der Schule“hat Dr. Nils Altner zahlreiche Übungen für Schüler*innen und Lehrkräfte zusammengestellt. Wir präsentieren in gekürzter Fassung eine daraus, die sich insbesondere für Schüler*innen eignet:

  • Bildet ein Zweier-Team und schaut euch an. Seid dabei ganz bei euch selbst und ganz beieinander. Vielleicht müsst ihr lachen, vielleicht fühlt sich das Anschauen ungewohnt an, vielleicht aber auch schön. → Dosiert gut, wie intensiv ihr euch anseht. Wenn es zu viel wird, schaut kurz woanders hin oder schließt die Augen.
  • Bemerkt, was sich in eurem Körper verändert, wenn ihr Augenkontakt habt, und beschreibt euch gegenseitig eure Wahrnehmungen.
  • Entscheidet dabei selbst, wie lange ihr euch austauschen wollt.
  • Zum Abschluss der Übung schließt ihr eure Augen und lasst diese intensive Begegnung einen Moment lang ausklingen.
  • Öffnet dann die Augen wieder und bedankt euch beieinander.
  • Wenn ihr mögt, könnt ihr euch darüber austauschen, was ihr während der Übung erlebt habt.

Dr. Nils Altner: Wege zu mehr Achtsamkeit und Mitgefühl in der Schule. Klett-Kallmeyer 2021.