lautstark. 17.06.2020

Demokratie in der Pandemie

Arbeits- und GesundheitsschutzCorona

„Wir müssen in die freie Gesellschaft zurück.“

Die Demokratie ist stabil, aber wir müssen trotzdem wachsam bleiben, sagt der ehemalige Bundesminister und Rechtsanwalt Gerhart Baum. Im Interview mit der lautstark. erklärt er, worauf es jetzt in der Krise ankommt.

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  • Ausgabe: lautstark. 04/2020 | Gemeinsam durch die Krise
  • im Interview: Gerhart Baum
  • Funktion: ehem. Bundesminister und Rechtsanwalt
  • Interview von: Mirjam Baumert
  • Funktion: freie Journalistin
Min.
Gerhart Baum (Rechtsanwalt)

Sie haben sich gegen die Zwangsverpflichtung ärztlichen Personals in NRW ausgesprochen, die dann gekippt wurde, und die bayerische Ausgangssperre scharf kritisiert. Dabei haben Sie mahnend die Demokratie ins Feld geführt. Wie steht es um die Demokratie, ist sie ins Wanken geraten?

Gerhart Baum: Nein, überhaupt nicht. Die Bundesrepublik ist eine stabile demokratische Ordnung. Wir bewegen uns bei allem, was wir tun, im Rahmen des Grundgesetzes. Auch bei den Einschränkungen der Freiheit, die ja erheblich sind, also der Berufsfreiheit, der Religionsfreiheit, der Versammlungsfreiheit. Das alles ist abgewogen in Hinblick auf den Lebensschutz, der ein Höchstwert unserer Grundrechte ist. Wenn der Staat Leben retten kann, es aber unterlässt, verletzt er die Menschenwürde. Die Einschränkungen müssen aber auch immer wieder überprüft werden. Die Gerichte kommen dabei ihrer Aufgabe voll nach. Die Demokratie ist intakt, mit Meinungs-, Presse- und Rundfunkfreiheit. Selten ist so heftig diskutiert worden wie jetzt.

Gibt es dennoch eine Grenze, ab wann Maßnahmen nicht mehr verhältnismäßig sind?

Gerhart Baum: Das muss man von Fall zu Fall entscheiden. Dafür sollte man den Mut aufbringen, das Grundrecht auf Leben gegen andere Interessen zu verteidigen. Menschen retten hat Vorrang, auch wenn es sehr schwer fällt, etwa bei Maßnahmen zu Kitas und Schulen. Im Übrigen verhalten sich 115 Staaten auf der Welt in ihrer Grundeinstellung zur Seuchenbekämpfung wie wir. Andere sind viel rigoroser. Wir alle vertrauen der Wissenschaft. Was sollten wir denn sonst tun?

Haben sich Ihre Sorgen um die Demokratie in Deutschland also als unbegründet erwiesen?

Gerhart Baum: Die Demokratie ist durch Rechtsextremismus bedroht und nicht durch die Seuchenbekämpfung. Aber ich kritisiere nachdrücklich, dass sich die Parlamente bei der Seuchenbekämpfung zum Teil aus ihrer Verantwortung zurückgezogen haben. Sie diskutieren zwar, aber sie entscheiden zu wenig. Sie haben die Regierung mit Vollmachten versehen, die angesichts weitreichender Freiheitseinschränkungen viel zu unbestimmt sind.

Immerhin muss der Landtag in NRW alle zwei Monate feststellen, ob es überhaupt noch eine Epidemie gibt. Sonst verfallen die Maßnahmen.

Das Bundesinfektionsschutzgesetz ist meiner Meinung nach aber in seiner jetzigen Form nicht verfassungskonform. Das muss korrigiert werden. Das ist nicht nur die Stunde der Regierungen, sondern auch der Parlamente.

Welche langfristigen Auswirkungen könnte die aktuelle Situation haben?

Gerhart Baum: Ich frage mich, ob es einen Gewöhnungsprozess gibt, dass man es leichter hinnimmt, Freiheit für Sicherheit zu opfern. Also eine Art Sicherheitsvirus, das weiter wirkt. Dagegen muss man ankämpfen. Wir müssen in eine freie Gesellschaft zurück, die auch Risiken birgt. Und wenn die Menschen aus der Krise das Gefühl mitnähmen „Wir brauchen eigentlich mehr Sicherheit, wir brauchen mehr Staat“, dann würde mich das sehr stören – auch wenn der Staat eine wichtige Schutzfunktion hat. Wachsamkeit ist geboten.