lautstark. 29.04.2021

Reichtum: Ein Blick hinter die Zahlen

Politische BildungChancengleichheit

Die Reichen und die Vorstellung in den Köpfen

Es lohnt ein Blick hinter die Zahlen, meint Kulturhistorikerin Dr. Eva Maria Gajek von der Universität Gießen. Sie untersucht, wie Reichtum historisch konstruiert und diskutiert wurde.

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  • Ausgabe: lautstark. 03/2021 | Arm und Reich: Schieflagen ausgleichen
  • Autor*in: Roma Hering
  • Funktion: freie Journalistin
Min.

Anfang der 1960er-Jahre fragte das Bielefelder Emnid-Institut für Meinungsforschung die deutsche Bevölkerung danach, ab wann ein Mensch reich sei. Ein Drittel der Befragten meinte, um reich zu sein, brauche man nicht einmal eine halbe Million. Davon wiederum hielt etwa jede*r Zweite den Besitz von 100.000 DM bereits für Reichtum. Ein weiteres Drittel sah erst Millionär*innen als reich an.

Umfragen wie diese zeigen, wie relativ der Reichtumsbegriff ist. Statistische und wissenschaftliche Vermessungen können sich von der Wahrnehmung der Bevölkerung deutlich unterscheiden. Eva Maria Gajek glaubt daher: „Der Blick auf die Zahlen reicht nicht aus. Wir müssen auch das Sprechen über Reichtum abseits der Wissenschaft in den Blick nehmen, um ein Gespür dafür zu bekommen, wie eine Gesellschaft soziale Ungleichheit und auch ihre vermögende Schicht verhandelt.“

Der Zugriff der Kulturhistorikerin unterscheidet sich damit von dem der wirtschafts- oder sozialwissenschaftlichen Forschung. Sie fragt danach, wie Zahlenerhebungen und Festlegungen von Reichtum entstanden sind und wie sie historisch diskutiert wurden. Dabei will sie vor allem zeigen, dass die Vermessung von Reichtum keineswegs ein linearer Prozess war.

Das staatliche Interesse an einer Erfassung der vermögenden Schicht begann in der Bundesrepublik erst Ende der 1950er-Jahre und verstärkte sich, als die CDU ihre Wirtschafts- und Sozialpolitik neu ausrichten wollte. Das Bundeswirtschaftsministerium gab eine Reihe von Studien in Auftrag, deren Ergebnisse Mitte der 1960er-Jahre große Sprengkraft hatten. Sie widersprachen nämlich der Annahme einer Mittelstandsgesellschaft, die Wirtschaftsminister Ludwig Erhard mit seinem Anspruch „Wohlstand für alle“ proklamiert hatte. „Die Studien machten eine Kritik an den Vermögensverhältnissen erst möglich. Sie machten die soziale Ungleichheit in Zahlen fassbar“, meint Eva Maria Gajek. Ende der 1970er-Jahre verlor sich das staatliche Interesse und das Problembewusstsein veränderte sich. Die wenigen Studien, die in den 1980er-Jahren entstanden, widersprachen vielmehr den früheren Studien. Erst Mitte der 1990er-Jahre setzte wieder ein Interesse an der vermögenden Schicht ein, dessen Ergebnis der Erste Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung war. Er stellte unter anderem fest: Über Reichtum war nur wenig bekannt. Es gibt also unterschiedliche Phasen der Sichtbarkeit und damit auch der Skandalisierung von Reichtum in der Geschichte der Bundesrepublik.

Was sich aber durch das gesamte 20. Jahrhundert ziehe, sei der Wille nach Wissen über die Reichen. Dabei interessiert Eva Maria Gajek vor allem, dass unter der Bezeichnung „die Reichen“ eine Gruppe zusammengefasst wird, die völlig heterogen sei und sich nicht allein über die Vermögenshöhe bestimmen lasse. „Wer konkret gemeint ist, bleibt oft im Dunkeln“, gibt die Historikerin zu bedenken.“ Die Kollektiv-Formulierung sei zugleich moralisch stark aufgeladen, deswegen bedienten sich Medien, Öffentlichkeit und Parteien ihrer so gerne. „Und dabei geht es nicht allein um Zahlen, sondern eben auch um die Vorstellung in den Köpfen.“