lautstark. 29.04.2021

Plädoyer für Inklusion

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Gemeinsames Lernen an Schulen

Thomas Höchst, GEW-Mitglied, Schulleiter und Autor zahlreicher Bücher zum Thema Inklusion, nimmt in seinem Plädoyer für das Gemeinsame Lernen an Schulen den aktuellen Stand unter die Lupe und zeigt, dass die immer noch nicht zufriedenstellende Umsetzung inklusiven Unterrichts an den immer noch mangelnden Rahmenbedingungen liegt. Er fordert schnelles Handeln, damit die Inklusion nicht scheitert.

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  • Ausgabe: lautstark. 03/2021 | Arm und Reich: Schieflagen ausgleichen
  • Autor*in: Thomas Höchst
  • Funktion: GEW-Mitglied im Saarland, Schulleiter der Gesamtschule Contwig und Autor von Büchern zu Inklusion
Min.

Ist Inklusion gescheitert oder kann sie gerettet werden? Sie wundern sich über meine Fragestellung? Ist diese zu provokant oder haben wir gerade andere Probleme? Ich habe diese Frage allerdings schon länger gestellt, lange, bevor im November 2020 die Ergebnisse einer repräsentativen Forsa-Umfrage zu Inklusion mit 2.127 Lehrer*innen vorlagen. Diese zeigt deutlich, dass auch zwölf Jahre nach Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention der inklusive Unterricht noch immer nicht als zufriedenstellend analysiert wird.

Obwohl 56 Prozent der Befragten die gemeinsame Beschulung von Kindern mit und ohne Behinderung grundsätzlich als sinnvoll erachten, denken gerade mal 27 Prozent, dass dies auch in der Praxis sinnvoll ist, 69 Prozent verneinen dies. Die logische Folge ist, dass sich 83 Prozent für einen Erhalt der Förderschulen aussprechen. Und wundert es uns deshalb, dass die Zahl der Förderkinder in den Förderschulen wieder zunimmt?

Insofern ist die Punktion meiner Fragestellung angebracht und brandaktuell. Vor allem, wenn 75 Prozent dieser Forsa-Befragten im Jahr 2020 der Ansicht sind, dass die schulischen Maßnahmen der Corona-Einschränkungen zur Eindämmung der Pandemie für die Inklusion einen (weiteren) Rückschritt bewirkt haben. Dies ist um so erschreckender, wenn man sich bewusst macht, dass Inklusion für die bestmögliche Förderung und Unterstützung heterogener Schülergruppen steht und in den meisten Schulgesetzen verankert ist.

Bereitschaft und Haltung

Es wird also deutlich, dass es eine grundsätzlich positive Haltung zu Inklusion gibt, aber ebenso deutlich signalisiert wird, dass die Rahmen- und Gelingensbedingungen für eine erfolgreiche Umsetzung in der Praxis nicht vorhanden sind. Ein ähnliches Untersuchungsergebnis bei Elternbefragungen untermauert die Bedenken der Lehrer*innen. In einer Untersuchung der Bertelsmann Stiftung von 2016 sehen 67,5 Prozent der Eltern positive Effekte einer inklusiven Beschulung, mehr als die Hälfte aller befragten Eltern ist der Meinung, dass Kinder mit Förderbedarf in Förderschulen besser gefördert werden. Ihre Befürchtungen sind mit der konkreten Umsetzung der Inklusion zu begründen.

Eine negative Haltung gegenüber Inklusion hängt bei Eltern sowie Lehrkräften nicht an dem Inklusionsgedanken selbst, sondern an den aktuellen Umsetzungsmöglichkeiten. Umso mehr wird meine Frage auch noch untermauert von einer aktuellen Prognose der Kultusministerkonferenz, die die Bertelsmann Stiftung aufgreift. Darin wird prognostiziert, dass die Inklusionsquote bis zum Jahr 2030 stagnieren soll und Exklusion im deutschen Schulsystem immer noch aktuell bleiben wird.

Die Frage der Gelingensbedingungen

Dass es zahlreiche Untersuchungen gibt, die die positiven Auswirkungen inklusiver Beschulung zeigen, spielt für Menschen, die in der täglichen Unterrichtspraxis Inklusion umsetzen dürfen, sollen oder müssen zunächst keine Rolle. Denn viel wichtiger ist es, die Gelingensbedingungen für erfolgreiche Inklusion zu thematisieren, Problemlagen deutlich zu benennen und die notwendigen Maßnahmen umzusetzen.

Was aber sind nun die Gelingensbedingungen für Inklusion, die Vielfalt willkommen heißt und die bestmögliche Förderung aller Schüler*innen ermöglicht? Mit Blick auf die aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse ergibt sich folgende Reihenfolge:

  • Unterstützungssysteme / Ressourcen
  • Differenzierender / Inklusiver Unterricht
  • Haltung
  • Vernetzung / Kooperation
  • Raumangebot
  • Sonderpädagogisches Grundwissen
  • Gute Fort- und Weiterbildungsangebote

Aus diesen Nennungen möchte ich zwei Punkte herausgreifen:

Haltung: Eine inklusionsfreundliche Haltung der Lehrer*innen ist eine Grundvoraussetzung, um Inklusion an Schulen erfolgreich umzusetzen. Zu dieser Haltung gehört, Erfolg nicht daran zu bemessen, wenn möglichst alle Schüler*innen gleichzeitig die allgemein gesteckten Lernziele erreichen. Im Vordergrund muss die Wertschätzung und Anerkennung jedes Einzelnen stehen. Zudem muss hier noch zwischen Haltung und Bereitschaft unterschieden werden. Denn während viele Kolleg*innen eine positive Haltung zu Inklusion haben, ist ihre Bereitschaft zur Umsetzung unter den jetzigen Bedingungen, fehlendem Fachwissen und Ressourcen nicht gegeben. Eine Inklusionspädagogik ohne ein Menschenbild der Inklusion ist jedoch nicht denkbar.

Ressourcen: Schulen brauchen ausreichende quantitative und qualitative Ressource, die nicht an die Etikettierung von Schüler*innen gebunden sein darf. Die Bertelsmann Stiftung stellt fest, dass gute inklusive Schulen auf Unterstützung von außen angewiesen sind, vor allem „durch ausreichende und sichere Ressourcen.“ (Bertelsmann 2016)

 

Aus- und Fortbildung von Lehrkräften auf Inklusion abstimmen

Soll Inklusion gerettet werden, braucht es folgende Maßnahmen:

Lehrerausbildung: Wir brauchen dringend eine inklusionsorientierte Lehrkräfteausbildung, die zukünftige Lehrkräfte für inklusiven Unterricht qualifiziert. Eine aktuelle Forsa-Umfrage sieht in der mangelnden Ausbildung der Lehrkräfte für Inklusion den drittwichtigsten Grund gegen ein gemeinsames Unterrichten von Schüler*innen mit und ohne Behinderung. In meiner eigenen Umfrage von Junglehrer*innen geben nur 7, 25 Prozent an, dass sie sich sehr gut oder gut für das inklusive Unterrichten ausgebildet fühlen.

Es reicht nicht aus, angehenden Lehrkräften die Theorie der inklusiven Bildung zu vermitteln. In einem ersten Schritt müssen die Lehrenden inklusionsfähig gemacht werden und sie dahingehend qualifizieren, Curricula weiterzuentwickeln, sodass eine Veränderung in der Lehr- und Lernkultur vorgenommen wird. Hierzu gehören stärkere Kooperationen, mehr Teamansätze, lehramtsübergreifendes Arbeiten und gemeinsame Qualifikationen.

Ein Problem besteht jedoch derzeit darin, dass fast überall Lehrer*innen auf bestimmte Bildungsstufen hin ausgebildet werden. Dies führt in der Regel dazu, dass Professionsbereiche der inklusiven Bildung in der Lehrerausbildung in der Sonderpädagogik verortet werden und nur vereinzelt in der Form von (theoretischen) Einzelseminaren in der allgemeinen Lehrerausbildung. Inklusion und Diversität müssen aber als Querschnittsaufgabe der Lehrerbildung gesehen werden.

Lehrerfortbildung: Für die vielen Lehrkräfte, die sich aktuell im Dienst befinden und verunsichert sind, was die Umsetzung von Inklusion betrifft, ergibt sich zwangsläufig ein hoher Fortbildungsbedarf. Das zurzeit existierende Fortbildungsprogramm zu Inklusion, falls ausreichend vorhanden, wird aber nur von 6 Prozent der Lehrkräfte (Forsa 2020) als sehr gut oder gut bewertet. Schulen und Lehrer*innen wollen mehr Fortbildungen, die qualitativ hochwertig sind und im Schulalltag helfen, beispielsweise zu Fragen wie „Wie schreibe ich gute Förderpläne für Schüler*innen mit einer Lese-Rechtschreib-Schwäche oder für ein Kind mit Lernbehinderung?“, „Wo können Noten auf welcher Grundlage welches Gutachtens mit welcher Förderkonsequenz ausgesetzt werden?“ oder „Wie gehe ich mit heterogenen Lerngruppen um?“.
Des Weiteren müssen Schulen auf ihrem inklusiven Weg bis hin zum schuleigenen Inklusionskonzept individuell begleitet werden. Denn Inklusion kann nur erfolgreich sein, wenn sie zur Angelegenheit der ganzen Schule wird.

Dies erfordert 

  • qualifizierte Fachberater*innen, die aus der inklusiven Schulpraxis kommen, 
  • ein Hospitationsangebot an Schulen, die auf dem inklusiven Weg schon ein Stück weiter fortgeschritten sind,
  • den Schulen eine Fortbildungsmatrix zur Verfügung zu stellen, die ihre individuelle Ausgangslage berücksichtigt und anhand derer sie überprüfen können, welche inklusiven Bemühungen an der Schule schon erfolgreich umgesetzt werden, welche intensiviert werden sollten und welche neu installiert werden müssen.
  • ein eigenes Qualifizierungskonzept für Personen mit Leitungsfunktionen. Denn sie sind letztendlich der Garant und Motor für den Erfolg inklusiver Umsetzung.

Des Weiteren müssen folgende Punkte für ein gelingendes inklusives Lernen berücksichtig werden:

  • Wir benötigen eine Versorgung mit Förderlehrer*innenwochenstunden, die sich nicht allein an der Anzahl der Gutachtenkinder orientiert.
  • Die Klassengröße muss dringend verkleinert werden, um die zunehmend heterogener werdenden Klassen qualitativ gut inklusiv unterrichten zu können.
  • Wir brauchen Multiprofessionelle Teams mit Fachkräften, die an der Schule angestellt sind. Wir brauchen mehr Schulsozialarbeit, schulpsychologische Expertise, Förderberatung vor Ort und die Einbindung dieser Expert*innen in die (hoffentlich) vorhandenen Teamstrukturen.
  • Eine verstärkte Ausbildung von Förderlehrer*innen ist notwendig.
  • Zudem muss die Frage gestellt werden, ob es politisch in den nächsten Jahren gesichert gewährleistet sein kann, dass zwei nebeneinander laufende Systeme (Förderschule und Inklusive Regelschule) in ausreichendem Maße mit gut ausgebildeten Förderschullehrer*innen ausgestattet werden können. Zweifel sind hier angebracht.

Schnelles Handeln ist gefragt

Die Frage dieses Artikels braucht zum Ende eine Antwort: Ist Inklusion gescheitert oder kann sie gerettet werden? Für die Bejahung des Scheiterns sprechen eindeutig die Ergebnisse der Forsa-Forschung. Für eine Verneinung spricht, dass Inklusion nicht scheitern darf. Denn scheitert Inklusion, dann scheitert Bildungsgerechtigkeit. Und dies ist das Kernstück der sozialen Bildungsverantwortung

Inzwischen befürchte ich jedoch eine andere Dimension: Inklusion gerät in Vergessenheit. Sie verliert an Aktualität und Popularität, vor allem in der jetzigen Situation. Worum es jetzt nicht geht, sind Schuldzuweisungen. Was wir brauchen ist ein dringender Masterplan, der alle oben genannten Menschen und Gruppierungen an einen Tisch bringt mit dem Ziel, Maßnahmen festzulegen und umzusetzen – und dies alles in der Koordination einer zuständigen Behörde oder Institution zu verankern.

Insofern hoffe ich mit diesem Artikel etwas dagegen zu tun, dass Inklusion vergessen wird und viele Menschen für Inklusion zu erreichen, denn am Ende entscheidet auch über den Erfolg von Inklusion, für wie viele Menschen sie eine Herzenssache geworden ist.
 

Quellen:

Bertelsmann Stiftung (Hrsg.): „Inklusion kann gelingen! Forschungsergebnisse und Beispiele guter schulischer Praxis“, Gütersloh 2016

Bertelsmann Stiftung (Hrsg.): „Inklusive Bildung zwischen Licht und Schatten: Eine Bilanz nach zehn Jahren inklusiven Unterrichts“, Gütersloh 2020

Forsa: „Inklusion an Schulen aus Sicht der Lehrkräfte in Deutschland - Meinungen, Einstellungen und Erfahrungen“, Berlin 2020

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