lautstark. 29.04.2021

Schule: Kreative Lernmodelle für mehr Chancengleichheit

SozialpädagogikGrundschuleGesamtschuleCorona

Lernen außerhalb der Norm

Chancengleichheit für alle Schüler*innen – unabhängig von Herkunft, Bildungsstand und Einkommen der Eltern – ist gerade in Pandemiezeiten immer schwerer umzusetzen. Corona hat die Schere zwischen Kindern aus verschiedenen sozialen Milieus noch weiter auseinandergehen lassen. Doch schon lange vor der Pandemie haben Schulen versucht, mit kreativen Modellen gegenzusteuern: Zwei positive Beispiele sind die Libellen-Grundschule in Dortmund und die Gesamtschule Körnerplatz in Duisburg-Rheinhausen.

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  • Ausgabe: lautstark. 03/2021 | Arm und Reich: Schieflagen ausgleichen
  • Autor*in: Simone Theyßen-Speich
  • Funktion: Diplom-Journalistin
Min.

„Lernen neu denken“– unter diesem Motto hat das Lehrer*innen-Team um Schulleiterin Christiane Mika gemeinsam mit der benachbarten Nordmarkt-Grundschule, der Stadtteilschule und dem Bildungsbüro der Stadt einen ganz anderen Ansatz von Lernen gewagt. Hier, an der Libellen-Grundschule im Dortmunder Norden, haben 96 Prozent der 370 Schüler*innen eine familiäre Migrationsgeschichte.

„Es hat uns sehr beschäftigt, dass Unterrichtskonzepte, die das Kollegium immer wieder überarbeitet und an die veränderten Lernvoraussetzungen angepasst hat, nicht wirksam werden konnten. Den Kindern fehlte es an Lern- und Lebenserfahrungen, an die Unterrichtskonzepte häufig anknüpfen. Außerdem ist in den großen Lerngruppen kaum erfolgreiches Lernen möglich, da viele Kinder deutlich mehr Zeit, direkte Rückmeldung, Ermutigung und Zuwendung brauchen, um ihre Potenziale entfalten zu können. Eine Ursache sehen wir in dem übermäßigen Konsum von Computerspielen, durch die die Kinder im Sekundentakt Blink- und Geräusch-Rückmeldungen bekommen, was ihre Konzentrationsfähigkeit massiv beeinträchtigt. 10 oder 20 Minuten alleine konzentriert arbeiten, das konnten viele unserer Kinder gar nicht mehr“, erklärt Christiane Mika die Ausgangssituation. Deshalb haben die Kollegien der Libellen-Grundschule und der Nordmarkt-Grundschule den Entschluss gefasst, Kindern mehr Könnenserfahrungen zu vermitteln und Kompetenzen herauszukitzeln, die im Regelschulalltag nicht abgefragt werden. „Die Kinder sollen spüren, was in ihnen steckt, mit viel Zeit, um Dinge zu verstehen.“

Lernen neu denken: Kleingruppen, natürliche Klassenzimmer und mehr Bezugspersonen

Der erste Schritt: Raus aus der Schule. Gemeinsam mit dem Verein Stadtteil-Schule in Dortmund als freiem Träger wurden Studierende zur Unterstützung organisiert. Geld für Wald-, Erlebnis-, Kunst- und Theaterpädagog*innen wurde beantragt. Die Erlebniswelt Fredenbaum, eine handlungsorientierte Kinder- und Jugendeinrichtung, oder ein Lernbauernhof wurden zu neuen Klassenzimmern. Im Herbst 2020 lief das Projekt Lernen neu denken insgesamt acht Wochen lang. Dank eines privaten Sponsors konnte es bis zu den Osterferien verlängert werden.

Konkret werden die vier Klassen des dritten Jahrgangs der Libellen- und vier Klassen der Nordmarkt- Grundschule an drei Tagen pro Woche geteilt. Für eine Hälfte steht statt des normalen Unterrichts ein Ausflug auf dem Stundenplan. Sechs Stunden lang sind die Kinder gemeinsam mit den Student*innen auf Tour. In der Natur, bei Theaterangeboten und bei Kunstaktionen können die Grundschüler*innen ganz neue Lernerfahrungen machen. „Die Kinder holen dabei auch fehlende Erfahrungen nach“, schildert die Schulleiterin. „Leider ist ein Ausflug am Wochenende, Fahrradfahren lernen oder das Vorlesen am Abend in vielen unserer Familien nicht selbstverständlich.“

Die Studierenden sind dabei nicht nur „Aufpasser* innen“. Sie haben einen „pädagogischen Auftrag“, sind die Brücke zwischen dem, was in der Schule stattfindet, und dem, was an den außerschulischen Lernorten passiert. Sie nehmen sich Zeit für Gespräche, haben sich zu festen Bezugspersonen entwickelt. Schon der Weg zum Klassenzimmer außerhalb, zu Fuß oder im Bus, wird für Gespräche genutzt. „Die Studierenden sind im intensiven Kontakt mit den Kindern, fragen, wie es ihnen geht, was sie beschäftigt, worauf sie sich freuen“, skizziert Christiane Mika den „pädagogisch genutzten Gang“.

Die Kinder genießen die besondere Lernzeit: „Drei Viertel unserer Kinder sind zuvor noch nie im Wald gewesen. Das jetzt zu erleben, hat ihr Leben und Lernen grundlegend bereichert. Auch einige Eltern haben positive Rückmeldung gegeben“, so Christiane Mika. Manche von ihnen seien jetzt in der Corona-Zeit kaum mit den Kindern rausgegangen, weil sie nicht wussten, was erlaubt ist und was nicht.

Aber auch für die Lerngruppe in der Schule bietet das Projekt Lernen neu denken neue Möglichkeiten. In den kleinen geteilten Gruppen wird besonders in den Fächern Deutsch und Mathematik die Zeit für individuelle Vertiefungen und Erklärungen genutzt.

Die Grundschulleiterin wünscht sich, dass es nicht bei dem Projekt bleibt, sondern dass daraus ein dauerhaftes Angebot einmal pro Woche wird. „Es ließe sich beispielsweise leichter finanzieren, wenn die Student*innen nicht als Honorarkräfte gewonnen werden müssten, sondern wenn sie das als Praktikum im Rahmen ihres Lehramts- oder Sozialpädagogikstudiums leisten könnten.“

Gesamtschule Körnerplatz: Fokus auf Teams und Zusammenhalt

Kindern und Jugendlichen vielfältige Lernangebote zu machen, damit sie emotional berührt werden und das, was sie in sich tragen, zeigen können – das hat sich auch die Gesamtschule Körnerplatz in Duisburg zum Ziel gesetzt. Im August 2020 ist sie aus der Sekundarschule Rheinhausen entstanden, 70 Prozent der 935 Schüler*innen haben einen Migrationshintergrund.

Mit dem Schwerpunkt „Zusammenarbeit in Teams stärken“ ist die Schule als eine von 18 bundesweit für den Deutschen Schulpreis 2021 nominiert. Um die besonderen Herausforderungen in der Pandemie zu bewältigen, setzt die Schule – wie auch schon vor Corona – auf Kollaboration als Kerngedanke der Schul- und Unterrichtsentwicklung. Nicht nur die Lehrer*innen arbeiten konsequent in Teams zusammen. Auch die Schüler*innen praktizieren kooperatives Lernen nach Norm Green.

„Es gibt keine Lehrkraft an der Schule, die nicht in einem Team organisiert ist“, erklärt Schulleiterin Martina Zilla Seifert den Kerngedanken. Der „Topf“ mit Lehrer*innen-Zusatzstunden wird beispielsweise genutzt, um an der gemeinsamen Organisation zu arbeiten. Die Teamarbeit an der Gesamtschule Körnerplatz ist strukturell verankert. Ein „Wir müssten mal“ oder „Wir könnten mal“ gibt es nicht. An der erst fünfeinhalb Jahre alten Schule arbeiten viele junge Lehrer*innen und Quereinsteiger*innen. „Die Teamstruktur ist Philosophie, war anfangs aber auch Teil des Überlebens“, blickt Martina Zilla Seifert zurück.

Bei den Lehrer*innen hat jede Teamsitzung klare Strukturen. Nach einem Warm-up werden die pädagogischen Ziele formuliert und kreative Konzepte entwickelt, wie sich diese erreichen lassen. Dann folgt der Transfer auf den Unterricht. „Alle am Tisch unterrichten sich gegenseitig, alle lernen voneinander“, betont die Schulleiterin.

Das gilt auch für die Schüler*innen. Sie arbeiten ebenfalls in Kleingruppen zusammen. Der gute Unterricht folgt dabei wissenschaftlichen Erkenntnissen, etwa denen der Hirnforschung von Prof. Dr. Manfred Spitzer: Demnach behalten Schüler*innen 5 Prozent dessen, was sie hören, 10 Prozent dessen, was sie lesen, aber 75 Prozent dessen, was sie selbst anwenden, und 90 Prozent dessen, was sie anderen beibringen oder erklären.

Schulfächer außerhalb der Norm und Lernen mit allen Sinnen

Auch ungewöhnliche Schulfächer sind Teil des Erfolgs. Etwa das Fach „Glück“. An der Gesamtschule Körnerplatz gibt es dafür eine speziell ausgebildete Pädagogin. „Wir möchten den Kindern vermitteln, dass es im Leben immer zwei Möglichkeiten gibt“, erklärt Martina Zilla Seifert. Die Schüler*innen sollen ihren Weg finden über persönliche Stärken, Visionen, ganzheitliche Entscheidungen und Selbstwirksamkeit.

Ein anregungsreiches Ganztagsangebot ist ein weiterer Schwerpunkt. Die Schule setzt darauf, dass Kinder sich selbst erfahren können. In diesem Kontext probieren sich 150 Schüler*innen in Theater- und Musikprojekten aus. „Dahinter steckt der Gedanke, dass Menschen, die auf einer Bühne stehen, nicht zu übersehen sind“, so Martina Zilla Seifert.

Auch wenn man an der Gesamtschule Körnerplatz schon weit ist auf dem Weg, mit allen Sinnen, im Team und in demokratischen Strukturen zu lernen, so hat die Schulleiterin noch Wünsche. „Die Notwendigkeit von Teamarbeit in Schulen müsste institutionell abgesichert werden. Team- und Beratungszeit sowie Fortbildung in den Teams müssen in die Lehrer*innenarbeitszeit aufgenommen werden.“

Auf verschiedenen Wegen arbeitet die Schule viel fachliche Expertise in ihr Konzept ein. „Beispielsweise habe ich von dem im vergangenen Herbst verstorbenen Erziehungswissenschaftler Matthias von Saldern viel gelernt“, so Martina Zilla Seifert – auch ihre Überzeugung, dass jede Schule sich der gesellschaftlichen Realität stellen muss. Und sie hat Träume: „Ich träume von einer Schule ohne Fächer, ohne Noten, ohne Stundenraster, wo Kinder von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang lernen können – auch indem sie an einem Auto schrauben, Theater spielen oder im Garten arbeiten.“