lautstark. 29.04.2021

Kitas in Vierteln mit besonderem Entwicklungsbedarf

Frühkindliche BildungSozial- und ErziehungsdienstBelastungFachkräftemangelGehaltMigration und FluchtCorona

Professionalisierung auf allen Ebenen notwendig

Pädagog*innen, die in Kitas in Vierteln mit besonderem Entwicklungsbedarf arbeiten, stehen in ihrem Berufsalltag vor einigen Herausforderungen. Darüber haben wir mit Erzieher und GEW-Mitglied Stefan Raffelsieper gesprochen.

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  • Ausgabe:
  • im Interview: Stefan Raffelsieper
  • Funktion: Erzieher und GEW-Mitglied
  • Interview von: Denise Heidenreich
  • Funktion: freie Journalistin
Min.

Du kennst die Situation in Stadtteilen mit besonderem Entwicklungsbedarf – wie stellt sie sich dar?

Stefan Raffelsieper: Es gibt in diesen Stadtteilen eine multikomplexe Bevölkerungsschicht. Solche Viertel sind geprägt von Arbeitslosigkeit, das heißt, viele Familien leben mit zahlreichen Ängsten und Sorgen. Zudem ist die Kriminalitätsrate hoch: Von Drogenhandel bis hin zu Islamist*innen, die radikale religiöse Ansichten hinsichtlich der Erziehung ihrer Kinder – speziell der Mädchen – haben, ist einiges dabei, was sich auch auf unsere Arbeit in der Kita auswirkt. Viele kinderreiche Familien leben beengt, der Wohnraum ist knapp und teuer. In vielen Großstädten sind so weitere Probleme vorprogrammiert, es gibt oft Konflikte oder gewaltsame Auseinandersetzungen. Allerdings gibt es in diesen Kitas auch Kinder aus Familien mit einem anderen sozioökonomischen Hintergrund. Für diese Mittelschicht ist es wichtig, Arbeit und Beruf in Einklang zu bringen. Zudem steht oft die Förderung der Kinder in der Kita im Vordergrund, da es zu Hause keine Zeit für gemeinsame Aktivitäten gibt.

Vor welchen Herausforderungen stehst du in deinem Arbeitsalltag?

Stefan Raffelsieper: Viele Kinder sind entwicklungsverzögert – im Bereich des sozial-emotionalen Lernens oder beim Spracherwerb. Außerdem kommen viele bei uns zum allerersten Mal mit der deutschen Sprache in Kontakt, da in den Familien kein oder nur gebrochenes Deutsch gesprochen wird. Das erschwert natürlich auch die Kommunikation mit den Eltern. Hier greifen wir auf Übersetzungsprogramme auf unseren Privathandys zurück oder schalten Kolleg*innen und andere Eltern als Dolmetscher*innen ein. Zudem stehen wir vor der Herausforderung, den Kindern soziale Werte und Normen zu vermitteln, für die ihnen in ihrem Alltag oft die Vorbilder fehlen. Denn – wie oft in sozial benachteiligten Stadtteilen – leben dort Familien mit den gleichen Problemen beziehungsweise Kinder mit den gleichen Auffälligkeiten. Dadurch fehlt es ihnen an sicherer Orientierung. Zu guter Letzt gibt es in der Kita, die ich beschreibe, noch eine heilpädagogische Gruppe, in der neben den Erzieher*innen auch Logopäd*innen sowie Physiotherapeut*innen arbeiten. Die Therapeut*innen sind sehr wichtig und die Zusammenarbeit mit allem Drumherum zu organisieren und guten, ständigen Kontakt zu halten, ist ebenfalls ein anspruchsvolles Aufgabenfeld – gerade jetzt in der Corona-Pandemie.

Wie schaffen du und deine Kolleg*innen diesen Spagat?

Stefan Raffelsieper: Durch Abgrenzung. Die Arbeit mit entwicklungsverzögerten Kindern oder Kindern mit einer erhöhten Bedürftigkeit ist einfach anstrengend und arbeitsintensiv. Sie benötigen viel Aufmerksamkeit und Zuwendung, aber eben auch klare Strukturen und Grenzen. Gerade, wenn die Eltern beratungsresistent sind oder nicht kooperieren. Es ist wichtig, gut auf sich zu achten, denn neben meiner beruflichen Rolle habe ich auch ein Privatleben mit all seinen Anforderungen und Verpflichtungen. Die Familien in Vierteln mit besonderem Entwicklungsbedarf haben oft andere Werte und Normen. Die gilt es zu respektieren. Wir als Fachkräfte können unsere Ansichten nicht einfach übertragen. Das ist wichtig, damit sich die Eltern mit ihren Problemen angenommen fühlen und als Grundlage für die Erziehungspartnerschaft, zu der wir gesetzlich verpflichtet sind. Es ist oft ein schmaler Grat zwischen der Entscheidung der Eltern und beginnender Kindeswohlgefährdung. Das war gerade in den Zeiten der Fall, in denen die Kinder wegen der Pandemie permanent zu Hause waren. Doch es ist und bleibt immer ein schmaler Grat. Denn die entsprechenden Stellen mit ihrem staatlichen Auftrag erwarten von der Kita, dass sie die Erstgespräche führen, Termine in Erziehungsberatungsstellen vereinbaren und kontrollieren, ob diese wahrgenommen werden. Das ist eigentlich nicht unser Auftrag und für uns oft grenzwertig, da wir die Kinder und Eltern kennen und oft wissen, wo Probleme entstehen können.

Tauschst du dich mit Beschäftigten, die eine ähnliche Arbeitssituation haben, aus?

Stefan Raffelsieper: Wir stehen natürlich in engem Austausch mit den Therapeut* innen, zum Beispiel um Unterschriften einzuholen. Und aufgrund oft wechselnder Teamkonstellationen muss man sich sowieso immer neu finden. Zum Glück dürfen jetzt auch wieder Teambesprechungen in Präsenz stattfinden. Zwar tragen wir nun alle den ganzen Tag FFP2-Masken, was anstrengend ist, aber das persönliche Gespräch ist wichtig für die Qualität unserer Arbeit.

An welchen Stellen siehst du aktuell dringenden Unterstützungsbedarf?

Stefan Raffelsieper: In der Kita, die ich beschreibe, arbeiten gut 50 Mitarbeiter* innen. Es gibt elf Gruppen mit insgesamt über 160 Kindern. Das hört sich nach einer guten Erzieher*innen- Kind-Relation an. Aber: Darunter sind zu zwei Dritteln Teilzeit-Kräfte mit halben Stellen. Der zunehmende Fachkräftemangel macht es immer schwerer, die Betreuungszeit von 45 Stunden pro Woche aufrecht zu erhalten. So ist die derzeitige coronabedingte Wochenstundenreduzierung auch ein notwendiges Muss.

Ein weiteres Problem: Unsere komplette Personalwirtschaft läuft wie in den 1970er-Jahren ab, zum Beispiel muss unsere Leitung bei der Urlaubsplanung den Tischkalender aufklappen und händisch nachrechnen. Auch die Beantragung und Verwaltung der Förder- sowie heilpädagogischen Plätze raubt viele Kapazitäten. Wir brauchen dringend professionelle Verwaltungsprogramme, die uns bei dieser Verwaltungstätigkeit unterstützen, sowie eine zuverlässige Verwaltungskraft.

Coronabedingt übernimmt das Leitungsteam zudem auch noch Aufgaben des Gesundheitsamtes und schickt Erwachsene und Kinder in häusliche Quarantäne, verschickt E-Mails und Elternbriefe oder informiert Familien und Kolleg*innen, wenn eine Testung positiv verlaufen ist.

Und die Kinder und Eltern – was brauchen die?

Stefan Raffelsieper: Für die Kinder wären vor allem kleinere Gruppen, eine intensivere Begleitung und feste Ansprechpartner*innen wichtig – für die Gewährleistung der letzten beiden Aspekte wäre es dringend nötig, mehr Fachkräfte einzustellen. So wäre eine engere Beziehungsarbeit möglich und es gäbe auch weniger Konfliktpotenzial, da es für jedes Kind mehr Raum gäbe. Die Eltern benötigen ebenfalls viel Zuspruch. Teilweise haben sie schon selbst unsere Einrichtung besucht und um Unterstützung gebeten bei der Suche nach einem Ausweg aus dem Kreislauf von Armut, Arbeitslosigkeit und Kriminalität. Es gibt zahlreiche Forschungen, die sich mit dem Entwicklungsbedarf von benachteiligten Vierteln und dort befindlichen Einrichtungen beschäftigen.

Hat sich deine Arbeit in den letzten Jahren dadurch verändert?

Stefan Raffelsieper: Aufgrund des steigenden Fachkräftemangels steht immer mehr der Betreuungsaspekt im Vordergrund. Die Einführung des offenen Konzepts soll diesem Problem eigentlich begegnen, was ich persönlich gut finde. Es bietet den Kindern viel mehr Möglichkeiten, Lernerfahrungen zu machen. Die Funktionsbereiche beziehungsweise Räume können besser auf die einzelnen Anforderungen ausgerichtet werden. Es braucht dafür aber eine wesentlich intensivere Zusammenarbeit der Fachkräfte: Nicht alle Funktionsbereiche sind in einem Raum untergebracht, sondern auf verschiedene Räume aufgeteilt – in einem das Atelier, in einem anderen die Bauecke –, und die Kinder haben mehr Raum, sich auszuprobieren. Wenn dagegen alles in einem Raum stattfindet, müssen beispielsweise Dinge weggeräumt werden oder man kommt sich öfter in die Quere. Wissenschaftliche Ergebnisse gibt es sicherlich viele, doch leider sind es oft nur die Fachkräfte, die das interessiert.

Was wünschst du dir im Hinblick auf die Zukunft?

Stefan Raffelsieper: Ich wünsche mir eine Professionalisierung auf allen Ebenen. Leider ist der Wert frühkindlicher Bildung immer noch nicht allen Trägern bewusst. Auch Eltern arbeiten viel beruhigter, wenn sie ihre Kinder gut aufgehoben wissen. Ich würde mir eine Bezahlung wünschen, die unserer Arbeit entspricht und die Wertschätzung zeigt. Außerdem brauchen wir in der GEW NRW dringend mehr hauptamtliches Personal, das sich unserer Themen und Forderungen annimmt. Viele von uns arbeiten zu 100 Prozent und können eine permanente ehrenamtliche Arbeit nicht sicherstellen.