lautstark. 29.04.2021

Armut und Reichtum: Sozialbericht NRW 2020

ChancengleichheitPolitische Bildung

Überblick unerwünscht?

Berichte über Armut und Reichtum in Deutschland gibt es in schöner Regelmäßigkeit. Was sagen sie uns? Und was nicht? Michael Klundt, Professor für Kinderpolitik, führt uns durch den aktuellsten Report für NRW: den Sozialbericht NRW 2020.

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  • Ausgabe: lautstark. 03/2021 | Arm und Reich: Schieflagen ausgleichen
  • Autor*in: Prof. Dr. Michael Klundt
  • Funktion: Professor für Kinderpolitik an der Hochschule Magdeburg-Stendal
Min.

Haben Sie noch einen Überblick? Während Sie diese Zeilen lesen, ist bereits der „Sechste Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung“ erschienen und vor ihm der „Familienreport 2020“, der nationale „Bildungsbericht 2020“, der „16. Kinder- und Jugendbericht 2020“, der „Neunte Familienbericht 2021“ sowie der „Datenreport 2021“ der Bundeszentrale für politische Bildung und des Statistischen Bundesamtes. Und fast jeder dieser hochinteressanten Berichte gleicht im Gewicht mindestens einem Ziegelstein und beinhaltet locker 1.000 Seiten. Inzwischen ist auch mal wieder ein Sozialbericht für Nordrhein-Westfalen erschienen und wurde Ende Februar digital vorgestellt.

Im Unterschied zu vielen anderen Berichten, die lange vor ihm veröffentlicht und vorgestellt wurden, konnte der „Sozialbericht NRW 2020“ noch nicht auf Corona und die Folgen eingehen, wie Minister Karl-Josef Laumann im Vorwort schreibt. Das ist leider nicht nur ziemlich langsam, sondern auch etwas seltsam.

Armutsanlässe nicht mit Armutsursachen verwechseln!

Bei der Frage, warum die Schere zwischen Arm und Reich weiter auseinandergeht und welche Rolle Corona dabei spielt, ist der Sozialbericht einigermaßen ratlos. So schreibt er etwa zur Kinder- und Jugendarmut: „Im Vergleich zum Jahr 2014 ist die Armutsrisikoquote der Kinder und Jugendlichen um 0,7 Prozentpunkte gestiegen. Ein überdurchschnittliches Armutsrisiko wiesen die Kinder und Jugendlichen auf, deren Eltern gering qualifiziert sind, die bei einem alleinerziehenden Elternteil aufwachsen, die aus einer kinderreichen Familie stammen und / oder einen Migrationshintergrund haben.“ Hier ließe sich einhaken, dass Armutsanlässe nicht vorschnell mit Armutsursachen verwechselt werden sollten. Oft bringen Politik, Wissenschaft und Medien immer noch überwiegend Anlässe und Ursachen von (Kinder-)Armut durcheinander: So erscheinen Armutsanlässe wie Scheidung, Alleinerziehendenstatus, Migrationshintergrund oder sogar Arbeitslosigkeit als Problemursachen, obwohl die tatsächlichen Ursachen an ganz anderer Stelle liegen: in der Politik. Eine sozial gerechte Familien- und Sozialpolitik und eine gute Bildungs-, Betreuungs- und Arbeitsmarktpolitik können auch für Kinder von arbeitslosen, alleinerziehenden oder migrantischen Eltern ein armutsfreies Leben ermöglichen. Vor allem die skandinavischen Staaten zeigen, wie es geht.

Mit Abstrichen könnte dies selbst für die Corona-Pandemie gelten, welche weniger die Ursache, sondern der Anlass verschärfter Verarmungsprozesse landes- und weltweit ist. Die Pandemie sollte nicht vorschnell allein verantwortlich gemacht werden. Vielmehr sind die darunterliegenden sozio-ökonomischen sowie bildungs- und gesundheitssystemischen Ursachen zu beachten, auch wenn sie allzu oft in Medien, Politik und Wissenschaft von der Pandemie überstrahlt werden.

Soziale Spaltung schlägt sich in Bildung und politischer Teilhabe nieder

Schon im viele Monate vor dem NRW-Sozialbericht erschienenen Nationalen Bildungsbericht 2020 steht, dass „die Corona- Krise 2020 […] die Gefahr einer weiteren Schere zwischen sozial benachteiligten und privilegierteren Kindern und Jugendlichen vor Augen geführt hat“. Wie bereits der Armutsbericht 2020 des Paritätischen Wohlfahrtsverbands gezeigt hat, wird darüber hinaus auch im Sozialbericht deutlich, dass NRW und besonders das Ruhrgebiet unter der marktgerechten Politik der vergangenen Jahre leiden. Bei sehr hoher Armutsquote sind die Kommunen zugleich oft pleite und die öffentliche Infrastruktur ist mangelhaft, was besonders an maroden Schulgebäuden sichtbar wird. Darauf, dass diese soziale Spaltung nicht nur für sich schon dramatisch genug ist, sondern auch eine politische Spaltung bewirkt, macht der NRW-Sozialreport aufmerksam. Er zeigt, dass es eine Polarisierung hinsichtlich politischer Partizipation und Wahlbeteiligung gibt, die auf eine Krise der Repräsentanz hinzuweisen scheint: „Eine Analyse der Wahlbeteiligung bei der Landtagswahl 2017 […] zeigt, dass trotz des Anstiegs der Wahlbeteiligung gegenüber den Landtagswahlen 2012 die soziale Spaltung nicht geringer wurde, sondern sich sogar noch weiter verschärft hat. Je höher der Anteil von Haushalten mit einem hohen sozioökonomischen Status in einem Stimmbezirk ist, desto höher fiel die Wahlbeteiligung aus. Für Haushalte mit niedrigem sozioökonomischen Status gilt das Gegenteil.“

Mit Blick auf die digitale Spaltung des Landes vor Corona liefert der Bericht ebenfalls wichtige Informationen. „Auch digitale Teilhabe variiert nach sozioökonomischem Status: Personen in einem Alter von 10 Jahren oder älter, die von relativer Einkommensarmut betroffen sind, lebten 2018 zu einem überdurchschnittlich hohen Anteil in einem Haushalt ohne Internetzugang (26,5 %). Zum Vergleich: Auf Personen, die in einem Haushalt mit einem Einkommen über der Armutsrisikoschwelle lebten, traf dies auf 11,9 % zu.“ Wer eins und eins zusammenzählen kann, ahnt die Konsequenzen zum Beispiel für Distanzunterricht im Corona-Lockdown.

Sozialräumliche Schieflagen treffen vor allem Kinder und Jugendliche

Der Sozialreport hebt auch hervor, dass in NRW die sozialräumliche Segregation in vielerlei Hinsicht deutlich wird. Nicht nur zwischen Kreisen und Gemeinden werden signifikante Unterschiede ermittelt, sondern auch eine höhere soziale Segregation zwischen Familien mit Kindern im Verhältnis zum Durchschnitt der Gesamtbevölkerung. „Betrachtet man die Mindestsicherungsquote Minderjähriger auf Gemeindeebene, zeigen sich zum Teil deutliche Unterschiede in den Kreisen: So variierten z. B. die Mindestsicherungsquoten Minderjähriger 2018 im Kreis Recklinghausen von 9,9 % in Haltern am See bis 31,3 % in Gladbeck.“

Eine ähnliche sozialräumliche Schieflage lässt sich mit Blick auf die SGB-II-Quoten feststellen: „Während in manchen Stadtteilen SGB II-Bezug fast nicht vorkommt, sind in benachteiligten Quartieren Kinder und Jugendliche mit SGB II-Bezug in der Überzahl. Dies ist problematisch, denn ‚folgt man der Literatur zu Nachbarschaftseffekten, dann hat diese Konzentration sozial benachteiligter Kinder das Potenzial, sich negativ auf die Lebenschancen der jungen Bewohner in diesen Quartieren auszuwirken‘.“

Jugendobdachlosigkeit klammert der Sozialreport aus

Bezahlbares und angemessenes Wohnen ist das zentrale Thema des „Sozialberichts NRW 2020“ und werde auch als sozialpolitische Aufgabe immer wichtiger, so Sozialminister Karl-Josef Laumann im Vorwort. „Wird es für einen wachsenden Teil der Bevölkerung schwierig, bezahlbaren und angemessenen Wohnraum zu finden, ist zu befürchten, dass die gesellschaftliche und sozialräumliche Spaltung befördert und gesellschaftlicher Zusammenhalt gefährdet wird.“ Wie wahr! Ebenso kennt sich der Bericht auch mit Kinder- und Jugendarmut aus: „Kinder und Jugendliche leben zu einem überdurchschnittlichen Anteil in Haushalten, die von relativer Einkommensarmut betroffen sind: Die Armutsrisikoquote der Minderjährigen lag 2018 bei 22,6 % und damit deutlich höher als in der Bevölkerung insgesamt (16,6 %).“ Auch regionale Unterschiede arbeitet der Bericht deutlich heraus und attestiert insbesondere Kindern und Jugendlichen im Ruhrgebiet ein überdurchschnittliches Armutsrisiko (28,7 %).

Was angesichts dieser Feststellungen verwundert: Trotzdem beachtet der Report Jugendobdachlosigkeit kaum und berücksichtigt nicht die Studie des Deutschen Jugendinstituts von 2017, wonach über 37.000 Jugendliche in Deutschland überwiegend auf der Straße leben. Ebenso wenig behandelt der Sozialbericht effektive Maßnahmen gegen Jugendobdachlosigkeit, etwa die „Werkstatt Solidarität Essen“. Erstaunlich, denn in Hamburg versucht man bereits, sich an diesem offensichtlich erfolgreichen Housing- First-Konzept zu orientieren. Wie schon die herausragende Präventionskette des „Dormagener Modells“im Kinderschutz stellt sich auch das „Essener Modell“ mittel- bis langfristig als günstiger heraus als alle bisherigen Vorgehensweisen.

Die Wurzeln der Wohnungsmisere beschreiben die Sozialverbände indes sehr zutreffend in dem von ihnen verantworteten Kapitel des Berichts: „Die wesentlichen Ursachen von Wohnungsnot und Wohnungslosigkeit liegen in einer seit Jahrzehnten fehlgeschlagenen Wohnungspolitik in Deutschland. Hinzu kommen geringe Löhne, zu geringe Regelsätze und die Unterdeckung von Mieten im Bereich des SGB II und SGB XII.“ Die Sozialverbände fordern zur Umsetzung des Menschenrechts auf Wohnen ein Maßnahmenpaket, zu dem unter anderem mehr sozialer Wohnungsbau, die Regulation von Mietschulden und die bedarfsgerechte Berechnung der Regelsätze in Hartz IV gehören.

Die Politik setzt zweifelhafte Prioritäten

Das erinnert an einen Gedanken des Dichters Bertolt Brecht. In seinem „Meti – Buch der Wendungen“ heißt es dazu: „Es gibt viele Arten zu töten. Man kann einem ein Messer in den Bauch stecken, einem das Brot entziehen, einen von einer Krankheit nicht heilen, einen in eine schlechte Wohnung stecken, einen durch Arbeit zu Tode schinden, einen zum Selbstmord treiben, einen in den Krieg führen. Nur weniges davon ist in unserem Staat verboten.“ Zum Reichtum und zu seiner steuerlichen Behandlung weiß der Report übrigens nicht einmal, dass von den 500 reichsten Deutschen rund jede*r Vierte in NRW lebt. Wer in NRW zur Schule geht, (auf Lehramt) studiert oder bereits lehrt, muss das alles aber auch gar nicht wissen. Die zuvorkommende Landesregierung und ihr FDP-Schulministerium haben ja beschlossen, dass Sozialwissenschaften sowieso nicht so wichtig sind wie BWL. Ein Überblick schadet somit nur der Regierbarkeit.