lautstark. 29.04.2021

Anti-Bias-Ansatz: Bildungsgerechtigkeit aktiv gestalten

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Vielfaltsorientierte und nicht-diskriminierende Schulpraxis

Schulen sind Orte der Vielfalt und zugleich Orte von Benachteiligungen. Was können alle Lehrer*innen, Sozialarbeiter*innen und andere pädagogische Fachkräfte in Schule tun, um Schüler*innen unabhängig von ihrem sozioökonomischen Status zu unterstützen und Benachteiligung entgegenzuwirken? Der Anti-Bias-Ansatz gibt Anregungen.

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  • Ausgabe: lautstark. 03/2021 | Arm und Reich: Schieflagen ausgleichen
  • Autor*in: Nele Kontzi | Jetti Hahn
  • Funktion: Fortbildnerin und Beraterin Anti-Bias | freiberufliche Anti-Bias-Trainerin
Min.

Benachteiligungen auszugleichen – diesem Auftrag wird Schule nicht immer gerecht. Manchmal verstärkt sie Ungleichheiten sogar. Denn Schüler*innen und Pädagog*innen bringen unterschiedliche soziale Hintergründe, Erfahrungswelten, Sprachen, Talente und Zugänge zu Ressourcen mit in die Schule. Doch diese Vielfalt wird nicht immer wahrgenommen oder kann aufgrund mangelhafter Rahmenbedingungen nicht immer im benötigten Maße berücksichtigt werden. Stattdessen richtet sich das System Schule oft an Normvorstellungen von einsprachigen Mittelschichtsschüler*innen aus, die für alle Schüler*innen zu Verengungen ihrer Entwicklungsmöglichkeiten führen. Damit umzugehen, ist für Pädagog*innen nicht einfach.

Dafür gibt es zahlreiche Methoden, mit denen Pädagog*innen das Selbstwertgefühl, die Lernmotivation und erfolgreichere Bildungswege aller Schüler*innen fördern, damit der sozioökonomische Status von Familien nicht mehr so einen gravierenden Einfluss auf die Bildungschancen von Kindern in Deutschland hat. Der Anti-Bias-Ansatz, der hier vorgestellt wird, verfolgt das Ziel einer vorurteilsbewussten Bildung, die Vielfalt, Mitbestimmung und Chancengerechtigkeit fördert und fordert. Lehrkräfte und andere Pädagog*innen erhalten im Folgenden Impulse zur Selbstreflexion und für ihr eigenes Handeln.

Zugehörigkeitsgefühl als wichtiger Teil für Lernen

Um erfolgreich lernen zu können, brauchen Schüler*innen in all ihrer Verschiedenheit ein Gefühl von Zugehörigkeit. In der Praxis führen allerdings einseitige Materialien, abwertende Botschaften über bestimmte soziale Gruppen oder auch Auslassungen – also das Nicht-Vorkommen – oft unbewusst zu Distanzierungen. Auf ihrem Weg der Persönlichkeitsentwicklung machen sich Kinder und Jugendliche ein Bild von sich selbst und von anderen. Schüler*innen fragen sich: Wo stehe ich in der Klassengemeinschaft? Welche Bedeutung hat es, wenn meine Eltern arbeitslos sind oder dass wir in einem Stadtteil leben, von dem als „sozialer Brennpunkt“ gesprochen wird? Die Antworten darauf sind von gesellschaftlichen Bewertungen und Beurteilungen beeinflusst. Erhalten sie regelmäßig Botschaften, die ihr Selbstbild abwerten, spricht die Forschung vom so genannten „Stereotype threat“, der Bedrohung durch Vorurteile. 

Gesellschaftliche Vorurteile im Schulkontext

Bildungsgerechtigkeit geschieht nicht einfach, sie muss aktiv gestaltet werden. Sonst bleiben Vorurteile bestehen, die als gesellschaftlich anerkannte und akzeptierte Bilder und Bewertungen über bestimmte Gruppen hingenommen werden. Diverse Studien, beispielsweise die der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, zeigen, dass Kinder aus Akademiker*innenfamilien fast viermal häufiger ein Gymnasium besuchen als Kinder aus nicht-akademischen Haushalten. Auch weil erstere bei gleicher Leistung häufiger eine Gymnasialempfehlung ausgestellt bekommen.
Denn Lehrkräfte reproduzieren – bewusst oder unbewusst – bestehende gesellschaftliche Ungerechtigkeiten und Machtverhältnisse, die als Klassismus zu fassen sind: Eine Studie der Universität Oldenburg aus dem Jahr 2009 zeigte beispielsweise, dass die Benachteiligung aufgrund des tatsächlichen, vermuteten oder zugeschriebenen sozialen Status oder formalen Bildungsniveaus häufig verschränkt mit rassistischen Zuschreibungen. 

Eine vielfaltsorientierte und diskriminierungskritische Praxis dagegen respektiert die Vielfalt und Unterschiedlichkeiten der Schüler*innenschaft, statt sie als Problem zu verstehen. Sie nimmt Ausgrenzungen wahr und widersteht ausgrenzendem Handeln. Und sie setzt sich mit Ursachen von Konflikten und Lernbarrieren auseinander, um so präventiv zu einem besseren Lernklima beizutragen. Dafür bildet eine gute Beziehung zwischen Schüler*innen und Pädagog*innen die Grundlage. Hier kommt es besonders auf die Haltung der einzelnen Pädagog*innen an und die Bereitschaft, sich kritisch mit eigenen Vorurteilen und Privilegien zu beschäftigen: 

  • Sind sie sich bewusst, welche Position sie selbst in der Gesellschaft haben und wie diese mit Privilegien verbunden ist, zu denen ein Teil der Schüler*innen und ihre Familien nie oder nur selten Zugang haben werden? 
  • Was meinen die Pädagog*innen, wenn Sie von „bildungsfernen“ Eltern oder Familien sprechen und welche Botschaften werden damit an die Bezeichneten gesandt?

Die Macht der Worte

Armut wird häufig gleichgesetzt mit „bildungsfern“. Solche Verallgemeinerungen führen dazu, ganze Gruppen von Kindern zu stigmatisieren und abzustempeln, die in das gängige, normativ geprägte Bildungssystem nicht reinpassen. Hier wirkt ganz stark der defizitäre Blick auf das Individuum. Für Pädagog*innen ist es insofern hilfreich, sich sensibel mit ihrer eigenen Sprache auseinanderzusetzen, beispielsweise bei der Bezeichnung von Gruppen:

  • Wen schließen die Pädagog*innen als „Wir“ ein, wen sprechen sie als „Ihr“ an? Und welche auf- und abwertenden Botschaften gehen damit einher?
  • Wie können sie Unterschiede benennen, ohne automatisch abzuwerten? 

Diversitätsbewusster Umgang mit Materialien

Eine vielfaltsorientierte Praxis braucht Lehr- und Lernmaterialien, in denen sich alle Schüler*innen wertschätzend wiederfinden können. Hier haben Pädagog*innen die Wahl und Gestaltungsmacht und können sich folgende Fragen stellen: 

  • Wo finden sich stereotype Darstellungen von Schüler*innen und ihren Familien oder wo tauchen bestimmte Schüler*innen erst gar nicht auf?
  • Entsprechen die Darstellungen von Personen denen der Lebenswelt der Schüler*innen? Tauchen auch Menschen unterschiedlicher sozioökonomischer Hintergründe auf?

Auch bei bester Absicht wird es nicht gelingen, vollständig auf stigmatisierende Darstellungen und Stereotype zu verzichten. Hier gilt es, diese in den vorhandenen Materialien nicht zu beschönigen oder zu entschuldigen, sondern eine kritische Auseinandersetzung darüber zu führen. So kann die Wirkung dieser Darstellungen auf die davon betroffenen Schüler*innen thematisiert und ernst genommen werden. Gutes Bildungsmaterial und eine vorurteilsbewusste Lernumgebung vermitteln Kindern und Jugendlichen hauptsächlich positive Botschaften über sich und ihre Familien: Das stärkt ihr Selbstbewusstsein. 

Reflexion im Kollegium

Eine andere Kultur des Miteinanders trägt zu einer Alltagspraxis des „sich gegenseitig aufmerksam Machens“ und der „Besprechbarkeit“ bei. Voraussetzung dafür ist die gemeinsame Zielsetzung, vorurteilsbewusst mit Diversität und Unterschiedlichkeit auf der Grundlage von Gemeinsamkeiten umgehen und in dem Sinne aktiv an schulischer Veränderung arbeiten zu wollen. Am Ausgangspunkt einer gemeinsamen Reflexion im Kollegium könnten diese Fragen stehen:  

  • Welche regelmäßigen Räume zur Praxisreflexion gibt es im Kollegium? Welche Formen der Kooperation und des kollegialen Austauschs sind dort üblich? Gibt es beispielsweise Hospitationen, Team-Teaching oder kollegiale Beratung?
  • Wie ist der Umgang an der Schule mit Situationen, in denen es zu Abwertungen oder Diskriminierungen kommt? An wen können sich Schüler*innen wenden, wenn sie sich unfair behandelt fühlen? Und was passiert dann? 

Für das Recht auf eine zukunftsfähige, diskriminierungskritische schulische Bildung, braucht es Sensibilität, die vielfältigen Formen von Benachteiligung und Diskriminierung zu erkennen, sowie die notwendigen Rahmenbedingungen, damit Pädagog*innen die Möglichkeit haben, Schüler*innen individuell zu fördern. Darüber hinaus ist eine entschiedene Auseinandersetzung mit den Barrieren, die bestimmte Schüler*innen auf Grund ihrer Gruppenzugehörigkeiten erfahren, wichtig – um nicht Gefahr zu laufen, diese erneut zu reproduzieren. Denn: Nichts tun ist nicht neutral, sondern diskriminiert bereits benachteiligte Schüler*innen.

In diesem aufwendigen Prozess eines schulischen Kultur- und Strukturwandels spielen Leitungen eine entscheidende Rolle. Diese benötigen als Rahmen entsprechende bildungspolitische Impulse, wie etwa die Anpassungen in der Ausbildung von Lehrkräften oder begleitende schulverwalterische Unterstützungsangebote. Dann werden die entsprechenden notwendigen Veränderungen nachhaltig und zuverlässig abgesichert.

Hintergrund

Infos und Material für die Praxis

In dem Buch „Un_mögliche Bildung. Kritische Stimmen und verschränkte Perspektiven auf Bildungsun_gleichheiten“, herausgegeben von Songül Bitiș und Nina Borst kommen un_gewöhnliche Stimmen und Perspektiven zu Wort. Stimmen, die gehört werden wollen und sollen! Die Comics bieten einen biografischen Zugang. Dazu ist auch eine Ausstellung entstanden. Arbeitsblätter mit Fragen zu den Geschichten können beim anti-bias-netz angefragt werden.

Das Themenheft „Klassismus“, herausgegeben von „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“, führt in die Diskriminierungsform Klassismus ein. Die Autor*innen zeigen, was Klassismus ist, wie er eine gerechtere Gesellschaft verhindert und was sich gegen Klassismus tun lässt.

Auf der Homepage der Initiative intersektionale Pädagogik i-Päd finden sich verschiedene Materialien und konkrete Praxisanregungen. Die Broschüre „Intersektionale Pädagogik“ enthält Methoden, Interviews, Erklärungen, Erzählungen aus der Praxis, und vieles mehr.

Das Landesinstitut für Schule und Medien Berlin-Brandenburg (LISUM) hat eine Handreichung für das übergreifende Thema „Bildung zur Akzeptanz von Vielfalt (Diversity)“ erstellt. Darin wird gezeigt, wie Vielfalt auf konstruktive und lebendige Weise zum Unterrichtsgegenstand gemacht werden kann.