lautstark. 24.04.2020

Seiteneinstieg an Grundschulen – Teil II

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Zwischen Theorie und Praxis klafft eine Lücke

Seiteneinsteiger*innen werden an Grundschulen in NRW aufgrund des hohen Lehrkräftemangels dringend gebraucht, arbeiten aber unter unzureichenden Voraussetzungen. Hier geben zwei weitere Seiteneinsteiger*innen Einblicke in ihren Werdegang.

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  • Ausgabe: lautstark. 03/2020 | Respekt ist Wertschätzung
  • Autor*in: Iris Müller
  • Funktion: freie Journalistin
Min.

Nils Sondermann, unbefristeter Seiteneinsteiger mit abgeschlossenem Sportstudium

Nils Sondermann hat neben seinem Studium zum Diplom-Sportwissenschaftler sein Geld als Eishockeyprofi in Iserlohn, Berlin und Hannover verdient. Nach dem Studium hat er zunächst im Fitnessstudio gearbeitet, bevor ihn sein Weg nach der Geburt seines Sohnes als Seiteneinsteiger an die Schule führte. Zunächst war er als Vertretungskraft an einer Förderschule im Einsatz, 2017 wechselte er hat er an eine Grundschule und nahm nebenbei jede Woche fünf Stunden im Seminar an der Pädagogische Einführung teil. Nach dem ersten Schuljahr folgte die Entfristung. Täglich steht er seitdem in der Sport- und Schwimmhalle und unterrichtet insgesamt 350 Schüler*innen. Nebenbei ist er Medienbeauftragter an der Grundschule, kümmert sich also um 50 Computer, 32 iPads, 16 interaktive Beamer und leitet eine entsprechende AG.

Aus seiner Sicht bringen Seiteneinsteiger*innen einer Schule viele Vorteile: „Wir bringen oft mehr Lebenserfahrung mit als junge Kollegen*innen, die frisch aus dem Referendariat kommen, und wir haben meistens selbst schon Kinder und entsprechend viel Einfühlungsvermögen in diesem Bereich.“ Wertschätzung fehlt Nils Sondermann manchmal. Nicht im Kollegium, aber in der Außenwahrnehmung von Seiteneinsteiger*innen. „Wir leisten die gleiche Arbeit, wollen aber nicht untergebuttert werden“, erklärt der 32-Jährige. Das gelte auch für die Bezahlung. Wenn jemand neben ihm an einer Maschine stehen würde und genau die gleiche Arbeit mache wie er selbst, wäre es doch auch deprimierend, wenn der andere mehr verdiene. „So fühlen wir uns als Seiteneinsteiger*innen aber oft. Viele meiner Kollegen*innen aus dem Seminar arbeiten, bedingt durch den Lehrkräftemangel, als Klassenleitungen – verbunden mit allen Pflichten einer ausgebildeten Grundschullehrkraft – verdienen aber zwei Gehaltsstufen weniger (A12 zu E10).“

Für Nils Sondermann ist zudem die langfristige Perspektive nicht zufriedenstellend, da Zertifikatskurse oder eine berufsbegleitende Weiterbildung zum vollständigen Erwerb des Lehramtes bisher nicht vorgesehen sind. „Wahrscheinlich sollen keine Begehrlichkeiten auf eine Verbeamtung geweckt werden“, vermutet der Familienvater. Derzeit stehe er 28 Stunden in der Woche in einer lauten Turnhalle, da sei die persönliche Gesunderhaltung auf Dauer schwierig. Nils Sondermann: „Ich bin mir unsicher, ob ich das machen kann, bis ich 67 bin. Zumal für Zusatzaufgaben wie die des Medienbeauftragten, die eigentlich ein eigenständiger Full-Time-Job sind, an den Grundschulen keine Entlastungsstunden vorgesehen sind.“

Natascha Müller*, unbefristete Seiteneinsteigerin mit abgeschlossenem Musikstudium

Natascha Müller* ist studierte Opernsängerin. Die heute 29-Jährige hat nach ihrem Bachelor of Music zudem verschiedene Chöre geleitet, an Opern und Musicals mitgewirkt und an mehreren Musikschulen gearbeitet. Doch die Sache hatte einen Haken: „Man wird nur bezahlt, wenn die Aufführung auch stattfindet“, erklärt sie. Sieben Tage die Woche habe sie gearbeitet, sieben verschiedene Arbeitgeber, das sei auf Dauer zermürbend gewesen. So fing sie 2017 als Seiteneinsteigerin an einer Grundschule an. Doch es blieb nicht bei der einen Schule, denn der Lehrkräftemangel, gerade im Fach Musik, ist so eklatant hoch, dass sie noch an zwei weiteren Schulen Unterricht gab und nebenbei an der Pädagogischen Einführung teilnahm. „Ich habe jede Woche 800 Schüler*innen in unterschiedlichen Klassen unterrichtet“, erinnert sich Natascha Müller. Als es am Schuljahresende darum ging, Zeugnisnoten für die Schüler*innen zu schreiben, sei es ihr schwer gefallen, sich an jedes Gesicht zu erinnern. Doch die Kollegen*innen schätzen ihre Arbeit sehr, ebenso die Schulleitung.

Nach einem Jahr wurde Natascha Müller entfristet, nach zwei Jahren kam dann der nächste Schritt: Seit Sommer vergangenen Jahres ist Natascha Müller nur noch an einer Schule tätig und hat dort eine Klassenleitung übernommen. Der Vorteil: Die Anzahl der Schüler*innen ist geringer geworden. Der Nachteil: „Ich muss jetzt nicht nur Musik, sondern auch Deutsch, Mathe, Religion, Sport und Sachkunde unterrichten.“ Studiert hat sie keines der Fächer. Kurse, in denen eine Qualifikation für zusätzliche Fächer erworben werden kann, sind für Seiteneinsteiger*innen nicht geöffnet. Ein Grund dafür, dass sie hier anonym bleiben möchte. Sie befürchtet Probleme, falls die Eltern ihrer Schüler*innen davon erfahren. Natascha Müller beklagt: „Die fehlende Lehramtsqualifikation führt dazu, dass ich mich für meine Tätigkeit nicht qualifizieren kann. Wie soll ich aus diesem Kreislauf jemals rauskommen? Dabei käme jede Fortbildung doch meinen Schüler*innen zugute.“

Die 29-Jährige ist derweil gezwungen, sich die Inhalte und Methoden selbst anzueignen: „Ich arbeite jeden Samstag und Sonntag, um aufzuholen. Mit 41 Stunden Arbeitszeit in der Woche komme ich längst nicht hin.“ Gleichzeitig verdiene sie weniger als ihre Kollegen*innen und habe keine Aussicht auf einen beruflichen Aufstieg. „Ein sicherer Arbeitsplatz ist schön, aber ohne Berufstiegsmöglichkeiten fühle ich mich wie in einer Sackgasse. Das lockt sicherlich nicht die besten Bewerber*innen in den Seiteneinstieg.“ Natascha Müller wünscht sich zudem eine bessere Wertschätzung: „Seiteneinsteiger*innen bringen schließlich auch wertvolle Erfahrungen mit, die den schulischen Alltag bereichern.“

*Name von der Redaktion geändert