lautstark. 24.04.2020

Seiteneinstieg an Grundschulen – Teil I

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Zwischen Theorie und Praxis klafft eine Lücke

Anfang 2020 waren nach Berechnungen der GEW NRW circa 5.000 Seiteneinsteiger*innen an Grundschulen in Nordrhein-Westfalen beschäftigt – aufgrund des hohen Lehrkräftemangels werden sie dringend gebraucht, arbeiten aber unter unzureichenden Voraussetzungen. Hier sieht die GEW NRW Handlungsbedarf.

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  • Ausgabe: lautstark. 03/2020 | Respekt ist Wertschätzung
  • Autor*in: Iris Müller
  • Funktion: freie Journalistin
Min.

Einige Seiteneinsteiger*innen werden ins kalte Wasser geschmissen, bekommen einen befristeten Vertrag als Vertretungskraft und fangen ohne jegliche pädagogische Einführung mit dem Unterricht an. Diejenigen, die ein abgeschlossenes Hochschulstudium in den Fächern Musik, Sport, Kunst oder Englisch vorweisen können und auf Grundlage des Erlasses zum Seiteneinstieg eingestellt werden, nehmen parallel zum Unterricht an einem Tag in der Woche an einem Seminar teil. Nach einem Jahr haben sie die Chance auf Entfristung.

Susanne Huppke, Mitglied im Leitungsteam der Fachgruppe Grundschule der GEW NRW, erklärt: „Für alle gilt, dass Theorie und Praxis weit auseinanderklaffen. Kolleg*innen, die beispielsweise mit der Lehrerlaubnis für das Fach Sport eingestellt werden, unterrichten in der Praxis zumeist auch weitere Fächer und werden sogar als Klassenlehrkraft eingesetzt. Kolleg*innen, die befristet eingestellt werden, beispielsweise als Elternzeitvertretung, bleiben häufig jahrelang im Schuldienst und erhalten immer wieder neue befristete Verträge.“

Angebote für eine berufliche Weiterbildung gibt es kaum. Weitere Fächer müssen sich die Seiteneinsteiger*innen selbst aneignen, ebenso die entsprechenden Methoden. Die GEW NRW kritisiert, dass die Unterstützung bei der Einarbeitung häufig auf dem ehrenamtlichen Engagement von Kolleg*innen basiert, weil die Schulen wenig Zeitressourcen dafür erhalten.

Susanne Huppke weiß, dass sich viele Seiteneinsteiger*innen in den Kollegien durch ihren persönlichen Einsatz einen anerkannten Platz erobert haben. Sie leiten Fachkonferenzen, wirken mit in Steuergruppen oder im Lehrerrat. Ihr Fachwissen, beispielsweise in Sport oder Musik, wird geschätzt. „Eine finanzielle Anerkennung ihres Engagements erhalten sie aber leider nicht, denn Beförderungen sind ausgeschlossen“, so Susanne Huppke.

In einem offenen Brief an die NRW-Bildungsministerin Yvonne Gebauer mahnt Maike Finnern, Vorsitzende der GEW NRW, die Realitäten in den Blick zu nehmen, und formuliert Forderungen für den Seiteneinstieg:

  • Die spezifischen Fähigkeiten, die Seiteneinsteiger*innen mitbringen, müssen mehr Wertschätzung erfahren und als Ressource begriffen werden.
  • Seiteneinsteiger*innen müssen die Möglichkeit erhalten, sich für weitere Fächer zu qualifizieren.
  • Möglichkeiten des berufsbegleitenden Lehramtserwerbs müssen geschaffen werden.
     

Für befristet Beschäftigte fordert die GEW NRW zudem:

  • eine didaktisch-pädagogische Einführung,
  • Unterstützung durch erfahrene Kolleg*innen an den Schulen, für welche diese Kolleg*innen Entlastung erhalten,
  • eine landesweit geltende Handreichung, die Einstellung und Einsatz besser regelt,
  • den Spielraum der Bezirksregierungen, Entfristungen aufgrund von Einzelfallentscheidungen vorzunehmen, zu erweitern.

Maike Finnern bringt es in ihrem offenen Brief auf den Punkt: „Prekäre Arbeitsverhältnisse an Schulen darf es nicht geben.“

Die Situation der Seiteneinsteiger*innen und befristet Beschäftigten müsse dringend verbessert werden. Davon profitieren letztlich alle: die Seiteneinsteiger*innen selbst, die Kollegien, in denen sie arbeiten, und nicht zuletzt die Schüler*innen.

Erfahrungsberichte von Seiteneinsteiger*innen

„Ich spüre dauernd diese Unsicherheit, ob es weitergeht“


Tina Bücheler, befristet angestellte Seiteneinsteigerin als Vertretungskraft

Tina Bücheler hangelt sich von Vertrag zu Vertrag. Die 47-jährige Seiteneinsteigerin unterrichtet seit September 2018 an einer Grundschule in Duisburg. „Ich habe Anglistik und Romanistik studiert. Vor meinem Abschluss kam allerdings das Leben in Form von Ehe und drei Kindern dazwischen“, erklärt Tina Bücheler, die noch vor dem Studium eine Ausbildung zur Kinderkrankenschwester absolviert hat. Als ihre drei Kinder größer waren, hat sie Deutschkurse für Asylbewerber*innen in ihrer Kirchengemeinde gegeben und sich irgendwann auf die Stelle an der Grundschule beworben. Zunächst bekam sie einen Vertrag für zwei Monate, danach für sechs Monate und dann laufend weitere befristete Verträge. Immer an derselben Schule, aber immer befristet. „Ich spüre dauernd diese Unsicherheit, ob es weitergeht, aber ich habe gelernt, damit zu leben“, sagt die Rheinbergerin.

An einem Seminar zur pädagogischen Einführung oder einer anderen Qualifizierungsmaßnahme darf Tina Bücheler nicht teilnehmen, solange sie als Vertretungskraft beschäftigt wird. Ursprünglich wurde sie für das Fach Englisch eingestellt, mittlerweile unterrichtet sie aber noch diverse andere Fächer. Tina Bücheler: „Darin liegt doch das Hauptproblem der Schulen und der Seiteneinsteiger*innen. Der Notstand ist so groß, dass es gar nicht anders geht. Ich glaube, dass wir Seiteneinsteiger*innen durchaus gute Arbeit leisten, indem wir uns Hilfe und Unterstützung von vielerlei Seiten holen, um den Kindern – und um die geht es ja schließlich – einen guten Unterricht zu gewährleisten.“

Tina Bücheler hat freiwillig drei Wochen vor Vertragsbeginn ihre Arbeit aufgenommen, um Schüler*innen, Kolleg*innen und Abläufe kennenzulernen. „Mein Kollegium unterstützt mich ganz toll und die Schulleiterin ist auch absolut engagiert“, erklärt die Seiteneinsteigerin, die sich deutlich intensiver auf den Unterricht vorbereiten muss als ausgebildete Lehrer*innen. „Besonders am Anfang fehlen einem die Grundlagen“, schildert sie.

Tina Bücheler wünscht sich die Möglichkeit, beispielsweise an einem Studienkolleg eine Weiterbildung machen zu dürfen. „Wir sollen den Job von vollwertigen Lehrkräften ausfüllen, bekommen aber keine fachspezifische oder pädagogische Weiterbildung“, klagt sie. Eine schnellere Entfristung und das gleiche Gehalt wie die angestellten Lehrkräfte wären auch schön. Und dennoch: „Der Spaß beim Unterrichten überwiegt, und ich fahre jeden Tag mit einem Lächeln im Gesicht zur Schule“, sagt Tina Bücheler.

 

Julia Weinstock, Seiteneinsteigerin in unbefristeter Teilzeit mit abgeschlossenem Designstudium

Julia Weinstock hatte Glück. Die 42-Jährige hat im vergangenen Jahr als Seiteneinsteigerin an einer Grundschule in Oberhausen angefangen und durfte zu Beginn viel hospitieren. „Ich wurde sanft eingeführt“, erinnert sich Julia Weinstock. Das ist keineswegs üblich, da durch Seiteneinsteiger*innen meistens ein erheblicher Lehrkräftemangel ausgeglichen werden soll. Oft ist schlicht niemand da, der die Neuen in die Stelle einführt. Bevor Julia Weinstock an die Schule kam, hat sie ihren Uni-Abschluss als Diplom-Designerin im Bereich Mode gemacht und selbstständig gearbeitet, Stelzenkostüme entworfen und hergestellt. „Mal hatte ich super viel zu tun, und mal wenig. Die Aufträge waren sehr unregelmäßig verteilt“, erklärt die Essenerin. Als sie dann einen Sohn bekam, habe die Selbstständigkeit mit dem Familienleben nicht mehr so gut zusammengepasst. Daher habe sie sich für den Weg an die Schule entschieden.

Dort hat sie eine Teilzeitstelle ergattert – auch das keine Selbstverständlichkeit bei Seiteneinsteiger*innen. Neben den 17 Unterrichtsstunden, die sie erteilt, besucht sie an einem Tag in jeder Woche das Seminar, um selbst zu lernen. „Die Teilnahme an der Pädagogischen Einführung nimmt wahnsinnig viel Zeit in Anspruch“, findet Julia Weinstock. „Ich bekomme zwar keine Note, wie das bei Referendar*innen der Fall ist, will aber natürlich trotzdem gute Arbeit abliefern.“ Bisher unterrichtet sie nur Kunst. Wenn eine Klassenleitung und damit weitere Fächer dazukommen würden, sei ihrer Meinung nach „zwingend eine zusätzliche Ausbildung nötig“.

Grundsätzlich genießt die Designerin jetzt in der Corona-Krise die Arbeitsplatzsicherheit. Als Selbstständige wäre sie in dieser Zeit ins Schlingern geraten. Das Schulsystem empfindet Julia Weinstock dennoch manchmal als starres Korsett: „Meine Idealvorstellung wäre, Kunst in Teilzeit zu unterrichten und nebenbei weiter Kostüme zu entwerfen.“ Eine Nebentätigkeit müssen sich die Lehrkräfte extra genehmigen lassen, gerne gesehen wird es nicht. Im Gegenteil, aufgrund des Lehrkräftemangels an Grundschulen würden Teilzeitkräfte gedrängt, aufzustocken. Julia Weinstock findet aber, zwei berufliche Standbeine zu haben, würde für sie zu einer besseren Work-Life-Balance führen und wäre ein Ausgleich für ihre Seele. „Dann kann ich mir vorstellen, auch bis ins hohe Alter Lehrerin zu bleiben.“