lautstark. 23.03.2023

Chancengleichheit darf keine Illusion bleiben

ChancengleichheitBildungsfinanzierung

Kommentar zu Lernleistungsstudien

Seit Jahren nehmen Studien, aktuell die Fortschreibung der Hattie-Studie, die Lernleistungen von Schüler*innen unter die Lupe. Seit Jahren kennen die bildungspolitisch Verantwortlichen diese Studien. Und seit Jahren stellen wir fest – nichts ändert sich. Zeit, endlich das grundlegende Problem im deutschen Bildungswesen anzugehen: die Reproduktion sozialer Ungleichheit!

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  • Ausgabe: lautstark. 02/2023 | Wie willst du studieren?
  • Autor*in: Ayla Çelik
  • Funktion: Vorsitzende der GEW NRW
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Das deutsche Bildungssystem ist im Jahre 2023 in einem desolaten Zustand: Begriffe wie Bildungsnotstand und Bildungskrise sind in aller Munde. Und nachdem der Bildungsgipfel der Bundesregierung im März 2023 seinem Namen nicht gerecht wurde, werden Forderungen nach einem echten nationalen Bildungsgipfel an den Bundeskanzler und die Länderchef*innen laut. Wie schlimm es um das deutsche Bildungssystem gegenwärtig bestellt ist, offenbart sich überdeutlich: eklatanter Fach- und Lehrkräftemangel, Raummangel, Sanierungsstau in Milliardenhöhe, chronische Unterfinanzierung, Leistungsdefizite, eine Schulabbrecher*innenquote von derzeit 6,3 Prozent.

Unser Bildungssystem ist auf Kante genäht und die Beschäftigten aufgrund der Mängel am Limit. Immer mehr Arbeit muss von wenigen geschultert werden. Die Arbeitsquantität geht zulasten der Qualität. Das bedeutet, dass weder Kitas noch Schulen ihrem Bildungs- und Erziehungsauftrag gerecht werden können. Der im Herbst 2022 veröffentlichte Bildungstrend des Instituts für Bildungswesen (IQB) und die aktuelle Fortschreibung der Hattie-Studie von März 2023 machen den Kompetenzabfall einmal mehr zum zentralen bildungspolitischen Thema. Schnell liegt die Vermutung nahe, dass der Kompetenzabfall auf die Corona-Pandemie zurückzuführen ist.

Die aktuelle IQB-Studie, aber auch die Untersuchungen des IQB aus den Jahren 2011 und 2016 zeigen jedoch, dass an den Grundschulen die Leistungen seit Jahren zurückgehen, vor allem in den Basiskompetenzen Lesen, Schreiben, Zuhören und Rechnen. Auch die Hattie-Studie führt den Kompetenzabfall nicht allein auf die Pandemie zurück: Zwar habe die Pandemie einen Einfluss auf den Rückgang der Lernleistungen gehabt, jedoch sei der Rückgang in Deutschland nicht einzig darauf zurückzuführen. Die negative Kompetenzentwicklung, die den deutschen Schüler*innen immer wieder attestiert wird, muss also andere Ursachen haben.

Studien weisen seit 60 Jahren die Reproduktion sozialer Ungleichheit nach

Gehen wir in der Geschichte etwas zurück, kommen wir den tatsächlichen Gründen näher: Denn die zahlreichen Studien, die ab dem Jahr 2000 dem Schock der PISA-Studie folgten, bescheinigen, dass unser Bildungssystem nicht leistungsfähig ist und dass darüber hinaus auch ein Ausgleich herkunftsbedingter Nachteile durch das Bildungssystem augenscheinlich nicht aufgefangen werden kann. Somit kann Bildung als das grundlegende Versprechen zur Entfaltung eines jeden Menschen und zur mündigen Teilhabe an gesellschaftlichen und demokratischen Prozessen – unabhängig von der sozialen Herkunft – nicht eingelöst werden. Mehr noch: Soziale Ungleichheiten in Deutschland werden vom Bildungssystem nicht nur nicht neutralisiert, sondern verschärft und verstetigt.

Und gehen wir noch weiter in der Geschichte zurück, dann sehen wir, dass sogar bereits viele Jahre vor PISA schon benannt wurde, dass das Versprechen des Aufstiegs durch Bildung eine Illusion ist und soziale Ungleichheit im Bildungssystem reproduziert wird: 1964 rief der Pädagoge Georg Picht die Bildungskatastrophe aus, ein Jahr danach sprach Soziologe Ralf Dahrendorf über das Bürgerrecht auf Bildung und selbst Erzkonservativen wie dem Soziologen Helmut Schelsky war im gleichen Jahr klar, dass Schule die „zentrale soziale Dirigierungsstelle“ ist und als „bürokratische Zuteilungsapparatur von Lebenschancen“ fungiert.

Bis heute müssen wir feststellen, dass Schule, aber auch unsere anderen Bildungseinrichtungen, über Lebenschancen entscheiden – und das leider nicht ausgehend von einer gerechtfertigten Grundlage, sondern meistens aufgrund sozialer Herkunft. Erst mit den PISA-Studien bekam dieses alte Problem schließlich in der Öffentlichkeit wieder Gehör. Seitdem scheint die Empörung über die ungerechten Strukturen nur noch kurzweilig und anlassbezogen aufzutauchen – zur Veröffentlichung von Vergleichsstudien etwa.

Die soziale Spaltung ist die offene Wunde des deutschen Bildungssystems

Dennoch – allen Erkenntnissen der über 60-jährigen Bildungsforschung zum Trotz – hält die Politik hartnäckig an einem System fest, das selektiert und Ungleichheiten reproduziert. So bleibt die hohe Bedeutung des Herkunftsmilieus für den Bildungserfolg in Deutschland eine richtungsweisende Konstante und der bestimmende Faktor. 

Um die soziale Spaltung in Deutschland noch mal anhand von Zahlen zu verdeutlichen: nur 27 Prozent der Kinder aus Nicht-Akademiker*innenfamilien bekommen die Zugangsberechtigung für die Hochschule und nur 1 Prozent dieser Gruppe schafft es, zu promovieren! Gleichzeitig sehen wir Effekte des Statuserhaltes bei Kindern aus Akademiker*innenfamilien: So stammen beispielsweise 75 Prozent aller Medizinstudierenden selbst aus Akademiker*innenhaushalten. Offenbar sind es also nicht in erster Linie die schulischen Leistungen, die den Zugang zu bestimmten Bildungswegen regulieren, es ist vielmehr die soziale Herkunft. Dadurch bleibt die soziale Spaltung die offene Wunde unseres Bildungssystems und die soziale Schieflage spitzt sich dramatisch zu.

Für Chancengleichheit und sozialen Aufstieg muss die Systemfrage gestellt werden

Blicken wir noch mal auf die vielen, vielen Studien, die es vor und nach PISA gab, ist klar: Wir haben kein Erkenntnis-, sondern ein Handlungsdefizit. Das grundlegende Problem des Bildungswesens ist nicht der Kompetenzverlust, sondern die Reproduktion sozialer Ungleichheit. Das System braucht nicht eine Leistungsstudie nach der anderen, sondern politischen Veränderungswillen. Solange wir uns der Systemfrage nicht stellen, wird das Versprechen der Chancengleichheit und des sozialen Aufstiegs durch Bildung eine Illusion bleiben.