lautstark. 14.04.2022

Landtagswahl 2022: Wen wählen für gute Bildung in NRW?

LehrkräftemangelFachkräftemangelBildungsfinanzierungChancengleichheitDigitale AusstattungInklusionOffene Ganztagsschule

Der große Parteiencheck

Bildungspolitik spielt traditionell bei den Landtagswahlen eine zentrale Rolle. Doch in diesem Wahlkampf scheint das nicht so zu sein. Da sind die großen globalen Probleme: Krieg in der Ukraine, die Klimakrise, die Pandemie. Und über die Schulstrukturfrage wollen die großen Parteien seit dem Schulkonsens von 2011 ohnehin nicht mehr reden. Wir haben die Wahlprogramme der fünf großen demokratischen Parteien auf ihre bildungspolitischen Vorstellungen und Ziele hin abgeklopft.

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  • Ausgabe: lautstark. 02/2022 | Mehr für Bildung: Deine Stimme zählt
  • Autor*in: Karl-Heinz Heinemann
  • Funktion: freier Journalist
Min.

Die einen brauchen 20 Seiten für ihr Bildungsprogramm, andere nur acht. Und dennoch gibt es bei den Parteiprogrammen eine ganze Reihe von Schnittmengen, sogar bei der FDP und der LINKEN: mehr Lehrer*innen einstellen und sie gerecht bezahlen, für alle Lehrämter gleich; Klassen verkleinern; Digitalisierung voranbringen; keine Abschlüsse ohne Anschluss, also: mehr Durchlässigkeit; mehr Kitaplätze; mehr Ganztag; bessere Bezahlung und an den Hochschulen die Umwandlung von befristeten in unbefristete Stellen. Gewerkschafter*innen könnten ja schon zufrieden sein, wenn wenigstens das nach den Wahlen umgesetzt würde, worüber sich anscheinend alle Parteien einig sind. Aber glaubt das jemand ernsthaft?

Konzentrieren wir uns stattdessen auf die Aussagen, anhand derer sich die Parteien unterscheiden lassen. Aufschlussreicher als der Überbietungswettbewerb – wer bietet mehr Lehrer*innenstellen, wer die kleineren Klassen, wer mehr individuelle Förderung und mehr Talentschulen – ist dabei die Lyrik, in die das Ganze gekleidet ist: Welche Vorstellung von Bildung, von der Aufgabe von Lehrer*innen und Schulen steckt eigentlich hinter den Programmen?
 

FDP: Chancen für alle durch weltbeste Bildung

Interessant ist schon mal, an welcher Stelle das Bildungsthema auftaucht. Bei der FDP fängt das Programm mit dem Bildungskapitel an. „Wir wollen ein NRW, das Chancen für alle durch weltbeste Bildung bietet.“ Man wäre ja schon froh, wenn NRW wenigstens bundesweit nicht mehr das Schlusslicht bei der Finanzierung der Schulen und den Klassengrößen wäre. Wie bei der FDP zu erwarten, wimmelt es von Innovation, Fortschritt, Wachstum und Digitalisierung. Das fängt in der Kita an: Das Anmeldeverfahren soll digitalisiert werden, dann müssten Eltern nicht mehr nervenaufreibend suchen. Klar, dass digitale Bildung und die Vorbereitung auf die MINT-Fächer in der Schule neben der Sprachförderung zu den Aufgaben der Kitas gehören. Der Run auf die besten Plätze im Leben muss schon für die Kleinsten organisiert werden.

Kommen wir mit der FDP in die Schule. Hier schreibt sich Schulministerin Yvonne Gebauer die Einführung der Talentschulen und des schulscharfen Sozialindexes auf ihre Fahne. Talente, das seien nicht nur der angehende Nobelpreisträger, heißt es da, sondern auch der künftige Bäckereifachverkäufer. Auch ihm könne eines der 100.000 Stipendien für „förderbedürftige und -würdige Schüler“ zugutekommen, die die FDP für den Fall ihrer weiteren Mitregierung in Aussicht stellt. „Wir wollen Aufsteiger-Geschichten als Hoffnungs-Booster bekannt machen.“ Fragt sich nur, warum man davon bisher nichts gesehen hat. In Zeiten des Fachkräftemangels plädiert die FDP dafür, dass nicht alle Abitur machen müssen. Vielmehr sollten die mittleren Abschlüsse gestärkt werden. Das von der FDP als „Schulvielfalt“ bezeichnete mehrgliederige Schulsystem müsse erhalten bleiben – bloß keine ideologischen Strukturdebatten! 

Doch Bildung ist für die Liberalen mehr als ein Aufstiegsmotor. Die FDP will auch „mehr Verbraucherbildung, um auf ein selbstbestimmtes Leben vorzubereiten“. Eine verräterische Verkürzung des aufklärerischen Postulats eines selbstbestimmten Lebens. Es ist nur konsequent, dass die FDP als einzige Partei sehr bestimmt die Einführung des Fachs Wirtschaft statt Sozialwissenschaften / Politik fordert. Das sei ein überfälliger Schritt, um das „Verständnis der Aktienmärkte und der Wege von langfristiger Eigentumsbildung“ voranzutreiben.

Häufiger als bei anderen Parteien liest man bei der FDP über Schulautonomie und „Schulfreiheit“, vor allem für die Schulleitungen. Über innerschulische Demokratie dagegen findet man nichts. Man müsse ein neues Verhältnis finden zwischen landesweiten Standards einerseits und Schulfreiheit andererseits. Wer in den letzten Jahren unter Yvonne Gebauer den Mix aus bürokratischer Gängelung und Wettbewerbsideologie erfahren hat, liest das sicher gern.
 

SPD: Lernen, das lehrreich ist und glücklich macht

Während die FDP sich an Digitalisierung und „Hoffnungs-Boostern“ abarbeitet, meint die SPD: „Lernen in NRW soll lehrreich sein und glücklich machen.“ Schon! Aber wieso ausgerechnet in NRW? Immerhin zeigt sich hier ein anderes Verständnis von Bildung. Die pädagogische Lyrik wird auch mit konkreten Desideraten unterfüttert. Zum Beispiel soll jedes Kind den Anspruch auf eine*n Bildungslots*in ab der Geburt haben. Eine gute Idee. Aber wie soll sie umgesetzt werden? Man darf gespannt sein.

Großes Gewicht wird auf die Förderung der Familien gelegt: Arbeitszeiten sollen familienfreundlich gestaltet, Partner*innenfreistellung in der Elternzeit soll erleichtert werden. Schließlich sollen Familienbüros helfen, etwa beim Beantragen von Elterngeld, um damit auch etwas gegen Kinderarmut zu tun. Mit einem Gesetz für frühkindliche Bildung soll ein besserer Personalschlüssel in den Kitas erreicht werden, deren Finanzierung nach Pauschalen für Buchungszeiten soll durch eine Sockelfinanzierung abgelöst werden.

In den Grundschulen werden 200.000 zusätzliche Ganztagsplätze benötigt, um dem gesetzlichen Anspruch ab 2026 Genüge zu tun. Aber wie sollen sie geschaffen werden? Das bedeutet sehr viel mehr Personal, das braucht Räume – eine gewaltige Aufgabe! Da hilft es erst einmal wenig, wenn in schönen Worten der Wert von individueller Förderung beschrieben wird: „Jedes Kind, das in eine Bibliothek geht, macht etwas richtig!“

Wohl wahr, aber das ist nichts, woran man etwa den Erfolg einer möglichen künftigen SPD-geführten Landesregierung messen könnte. Dann schon eher so ein mutiges Postulat: „Unterricht ist gut, wenn er stattfindet. Deshalb machen wir Schluss mit dem Unterrichtsausfall!“ Mit Unterrichtsausfall hatte die damals noch in der Opposition sitzende CDU die rot-grüne Landesregierung in der vorigen Legislaturperiode vorgeführt. CDU und FDP haben ihn in gemeinsamer Regierungsverantwortung jedoch auch nicht beseitigen können. Nun also zumindest verbal ein neuer Anlauf. Viel Glück!

Vor allem, da noch an jeder (!) Schule ein pädagogisches Zentrum mit Expert*innen eingerichtet werden soll, das auch im Hinblick auf Inklusion pädagogische und sonderpädagogische Expertise, Therapeut*innen und Angebote der Jugendhilfe vorhalten soll. Hinzukommen soll eine „Schnelle Unterstützungsgruppe“ in jedem Schulbezirk. Schließlich soll sich noch eine Bildungskommission um Bildungsinhalte kümmern, die „gesellschaftliche Teilhabe und ein selbstbestimmtes Leben“ ermöglichen sollen. Anders als die Liberalen betrachten die Sozialdemokrat*innen Bildung also nicht nur als Aufstiegsvehikel und definieren Selbstbestimmung nicht nur über die Rolle als Konsument*in.
 

CDU: Bildung als Schlüssel für Aufstieg

Die CDU will zwar „machen, worauf es ankommt“, wie es im Titel ihres Programms heißt. Doch da man schon an der Regierung ist, kommt es vor allem auf eines an: weiter an der Regierung zu bleiben. Und so nimmt die Beschreibung dessen, was man schon erreicht hat, einen großen Teil des Programms ein. Das Bildungskapitel landet unter „Gedöns“ – zusammen mit Gleichstellung, Jugendlichen und Vielfalt, Ehrenamt und dergleichen. Die CDU hat andere Schwerpunkte: Innere Sicherheit steht an erster Stelle, auch Arbeit und Soziales sowie Bauen und Wohnen sind lediglich Unterkapitel von „Sicheres Nordrhein-Westfalen“.

Bildung als Schlüssel für ein selbstbestimmtes Leben? Nein: „Bildung bleibt der Schlüssel für Aufstieg“, lautet der erste Satz des Bildungskapitels. Es dürfe keine Sackgassen in der Schulkarriere geben. Und unmittelbar daran schließt sich an, worum es der CDU vor allem geht: „Daher halten wir an dem gegliederten und bewährten Schulsystem fest.“ Auch hier kein Wort über die Rolle von Gesamtschulen, Sekundarschulen oder über das Schicksal der Hauptschulen.

Das weltbeste Schulsystem, das die FDP sich noch wünscht, scheint für die CDU schon Wirklichkeit zu sein. Und so zeichnet das Programm unter der Überschrift „Das haben wir erreicht“ das Bild eines gut ausgestatteten Schulsystems: 10.000 Lehrkräfte mehr als 2017. Schulverwaltungsassistent*innen entlasten Lehrkräfte. Der schulscharfe Sozialindex hilft den belasteten Schulen. Mit 60 Talentschulen habe man auf soziale Herausforderungen reagiert. 700.000 Schüler*innen habe man mit digitalen Endgeräten ausgestattet.
 

DIE LINKE: Schule ohne Noten, Schule ohne Hausaufgaben

DIE LINKE bietet das Gegenprogramm zur selbstgefälligen Leistungsbilanz der CDU: Hierzulande habe man die schlechteste Versorgung mit Kitaplätzen, die größten Schulklassen und die geringsten Haushaltsmittel pro Schüler*in. Immer mehr Beschäftigte arbeiteten zu niedrigen Löhnen und unsicheren Bedingungen als Honorarkräfte.

Dann wird es sehr grundsätzlich: Das FDP-geführte Schulministerium habe eine neoliberale Politik betrieben, private Bildungseinrichtungen gefördert und mit der Einführung von „sogenannten Bildungsstandards“, der Propagierung der „sogenannten selbstständigen (Hoch-)Schule“ die öffentlichen Einrichtungen unter den Zwang von Ökonomisierung und Wettbewerb gestellt.

Gebührenfreiheit von der Kita bis zum Hochschulabschluss, bessere Finanzierung, mehr Personal, gebührenfreier Ganztag, möglichst in gebundener Form – alles, was das Herz engagierter Bildungspolitiker*innen höherschlagen lässt, findet sich im Wunschkatalog der LINKEN. Und selbstverständlich tritt die Partei für den bedarfsgerechten Ausbau der Gesamtschulen ein und will die Grundschuleinzugsbezirke wieder einführen.

Doch offenbar erschien den linken Bildungspolitiker*innen die Forderung nach der einen Schule für alle doch zu altbacken, die Forderung nach mehr Schulbau ein wenig zu prosaisch. Und so stellt das Wahlprogramm die Losung „Schule ohne Noten, Schule ohne Hausaufgaben“ in den Mittelpunkt – berechtigte Postulate, die aber eher pädagogisch umgesetzt werden müssten als per Gesetz.

In Köln beispielweise fehlen Tausende Schulplätze an Gesamtschulen und Gymnasien. Der Bauzustand der Schulen schreit zum Himmel. Niemand weiß, wo die in den nächsten Jahren fehlenden Lehrkräfte herkommen sollen. Für eine Partei mit dem Anspruch, Anwältin der sozialen Gerechtigkeit zu sein, liegen die Themen, die sich für einen Landtagswahlkampf anböten, buchstäblich auf der Straße. 

Doch auch wenn DIE LINKE mit ihrer Schwerpunktsetzung überrascht: An ihrem bildungspolitischen Programm liegt es nicht, dass ihre Chancen schlecht stehen, wieder in den Landtag einzuziehen.
 

DIE GRÜNEN: Bildung für eine friedliche, gerechte und nachhaltige Welt

DIE GRÜNEN können optimistischer in die Wahlen gehen: „Die beste Zeit für NRW liegt noch vor uns“, hoffen sie laut Untertitel ihres 119 Seiten starken Programms – noch vor dem Ausbruch des Kriegs in der Ukraine geschrieben. Auch bei ihnen ist Bildung eine soziale Frage: Corona hat die Jüngsten und Ärmsten besonders hart getroffen. „Wie sollen Bildungseinrichtungen Schritt halten, wenn nicht einmal das WLAN funktioniert und die Deutschlehrerin wieder nur einen Halbjahresvertrag bekommt?“

Neben der LINKEN sind DIE GRÜNEN die einzige Partei, die sich explizit für die eine Schule für alle ausspricht. Bei den meisten anderen findet sich zwar ein Bekenntnis zu Inklusion, wie sie aber im gegliederten Schulsystem sinnvoll umsetzbar ist, lassen sie offen. Großen Wert legt das Programm der GRÜNEN auf die Qualität der frühkindlichen Erziehungs- und Bildungsarbeit – die Ausbildung der Erzieher*innen, ihre Entlastung durch anderes Personal. Studiengänge an den Hochschulen und eine praxisintegrierte Ausbildung sollen den Beruf attraktiv machen.

Wie bei der LINKEN finden sich im Wahlprogramm der GRÜNEN einige Ideen, um Kinder und Jugendliche demokratisch stärker zu beteiligen – an der Landes- und Kommunalpolitik sowie in den Schulen selbst. DIE GRÜNEN wollen queere Jugendzentren und Regenbogenfamilien besonders fördern, die Arbeit gegen sexuelle, rassistische und antisemitische Diskriminierung ist ihnen ein Extrapunkt im Programm wert.

Um Bildung unabhängiger vom Geldbeutel zu machen, wollen DIE GRÜNEN die Lernmittelfreiheit auf digitale Lernmittel ausweiten. Für bedürftige Studienanfänger*innen soll es eine Studienstarthilfe von 1.000 Euro geben, und zwar „unbürokratisch und schnell“. Schnittmengen zum SPD-Programm finden sich etwa in der Betonung der Familie: Man müsse die Arbeitszeiten in den Betrieben, den ÖPNV und die Öffnungszeiten von Schulen und Kitas besser aufeinander abstimmen. Konkret wird es auch, wenn die GRÜNEN ankündigen, die Finanzierung von Ganztagsplätzen auf 4.000 Euro pro Platz zu verdoppeln und 200.000 zusätzliche Ganztagsplätze schaffen zu wollen.
 

Ideen mit Potenzial

Trotz der anfangs beschriebenen Gemeinsamkeiten: In ihrem Bildungsverständnis und in den bildungspolitischen Schwerpunkten unterscheiden sich FDP, SPD, CDU, LINKE und GRÜNE immer noch deutlich genug voneinander. Selbst Wähler*innen, die nicht daran glauben, dass nach der Wahl allzu viele Versprechen umgesetzt werden, finden immerhin eine Reihe interessanter Ideen, die es verdienen, weiterverfolgt zu werden, wie zum Beispiel die von der SPD erdachten Bildungslots*innen.

Woher das dringend benötigte pädagogische Personal kommen soll? Woher das Geld kommen soll, um die vielen großzügigen Versprechen auch zu erfüllen? Konkrete Antworten darauf bleiben alle fünf Parteien schuldig. Und die Frage nach der Schulstruktur in einem ziemlich unübersichtlichen System taucht bestenfalls als Merkposten auf.

Foulspiel: Parteien verletzen demokratische Regeln

Diskurs unerwünscht?

Neun Fragen auf der Grundlage unserer Wahlprüfsteine haben wir schriftlich an CDU, SPD, FDP, DIE GRÜNEN und DIE LINKE gerichtet. Die im Landtag vertretenen Parteien haben die Beantwortung verweigert.

Wir erhielten die Rückmeldung, man habe sich auf folgendes Verfahren verständigt: Antworten gebe es nur, wenn die Fragen über ein Internettool eingereicht würden – zugelassen seien höchstens acht Fragen mit jeweils nicht mehr als 300 Zeichen.

Wir bestimmen die Regeln. Diskurs, der Zeit und Mühe kostet, soll nicht sein – so die Botschaft. Wir bekamen auch Hinweise, wie die Fragen zusammengefasst und neu formuliert werden könnten. Ein peinliches Foulspiel in der demokratischen Auseinandersetzung. Zu Beginn der Legislaturperiode haben sich die Fraktionen von CDU, SPD, FDP und GRÜNEN mehr Steuergeld genehmigt. Die Parteien erhalten jährlich auf der Grundlage des Parteiengesetzes eine Teilfinanzierung in Millionenhöhe. Wählt uns, finanziert uns – und haltet euch an Regeln, die wir vorgeben, um den Diskurs zu standardisieren. Das ist schlechter Stil und sorgt für Verdruss.

Michael Schulte,
Geschäftsführer der GEW NRW