lautstark. 14.04.2022

Kita: Ein Arbeitsalltag am Rand der Belastungsgrenze

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Fachkräftemangel und schlechter Personalschlüssel

Fachkräftemangel und Unterfinanzierung – kaum ein Bericht über Kitas, der ohne diese Begriffe auskommt. In der Praxisbedeuten sie große Belastungen für Beschäftigte und Familien, wie ein Besuch im Kinderhaus Großstadtkrokodile verdeutlicht. Das Team der Essener Einrichtung hat viele Wünsche an die neu zu wählende Landesregierung – ebenso wie der Landeselternbeirat der Kindertageseinrichtungen in NRW.

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  • Ausgabe: lautstark. 02/2022 | Mehr für Bildung: Deine Stimme zählt
  • Autor*in: Anne Petersohn
  • Funktion: freie Journalistin
Min.

Herausfordernde Situationen gehören zum Alltag im Familienzentrum Großstadtkrokodile in Essen. Leiterin Hemalatha Grundmann und ihre Kolleg*innen arbeiten täglich am Rande ihrer Belastungsgrenze. 44 Kinder zwischen drei und sechs Jahren besuchen die zweigruppige Kindertageseinrichtung im Stadtteil Altenessen. Alle, bis auf zwei, sind aus einem anderen Land nach Deutschland gekommen, zwei haben besonderen Förderbedarf. Bei den Großstadtkrokodilen sollen sie eine gute frühkindliche Bildung erfahren: „Chancengleichheit für eine bessere Zukunft“ hat sich der Träger der Einrichtung, der Verein für Kinder- und Jugendarbeit in sozialen Brennpunkten Ruhrgebiet (VKJ), auf die Fahne geschrieben. Doch die Rahmenbedingungen machen die Umsetzung praktisch unmöglich. „Wir kommen in vielerlei Hinsicht nicht hinterher“, sagt Hemalatha Grundmann.

Schlechter Personalschlüssel sorgt für erhebliche Engpässe

Das liegt zunächst einmal am schlechten Personalschlüssel: Vier Erzieher*innen und zwei Kinderpfleger*innen versehen täglich ihren Dienst in der Kita – im Schnitt drei Erwachsene pro Gruppe. „Sobald eine Fachkraft ausfällt, wird es knapp“, erzählt Erzieherin Sylvia Pratzka. Zwar gebe es mittlerweile Springer*innen für den Urlaubs- und Krankheitsfall, die trägerweit eingesetzt würden. „Trotzdem muss der Fachkraft-Kind-Schlüssel endlich verbessert werden“, fordert die 62-Jährige.

Für zusätzliche Fachkräfte schöpft der VKJ verschiedene Bundes- und Landesmittel aus, etwa zur Sprachförderung. Doch gerade im sprachlichen Bereich seien die Defizite vieler Kinder so hoch, dass wirksame Förderangebote nur durch aufwendige Spendenakquise finanziert werden könnten. So prägen fehlende Sprachkenntnisse bei Kindern und Eltern auch den Gruppenalltag. „Wir haben mit mindestens zehn verschiedenen Muttersprachen zu tun. Da bleibt in vielen Fällen nur die Verständigung mit Händen und Füßen“, sagt Hemalatha Grundmann.

Mit Bilderbüchern versucht das Kitateam, grundlegende deutsche Begriffe zu vermitteln. Doch eine intensive und vor allem individuelle Förderung jedes Kindes sei nicht mehr leistbar, betont Sylvia Pratzka. „Wir erleben Kinder, die sich aufgrund der Sprachbarrieren nur schlecht in die Gruppe integrieren können. Hier wünschen wir uns, diese Kinder intensiver begleiten zu können. Ich denke oft, dass ich den Kindern nicht ausreichend helfen kann, im Leben Fuß zu fassen. Und dann blutet mir das Herz.“

Mangelnde Ressourcen sorgen für psychische Belastungen

Neben diesen psychischen Belastungen sind es auch die äußeren Umstände, die den Alltag so herausfordernd machen: Einst als Pfarrheim genutzt, wird das Kitagebäude den heutigen Anforderungen nur unzureichend gerecht. Voraussichtlich im Sommer 2023 soll deshalb ein Neubau an einem anderen Standort bezugsfertig sein. Bis dahin müssen Team und Kinder improvisieren: Zum Turnen räumen sie Matten und Spielgeräte in die große Halle im Eingangsbereich, zum Essen nutzen sie die Tische in den Gruppenräumen, die vor jeder Mahlzeit von Stiften und Papier befreit werden müssen.

Immerhin kann das Familienzentrum einen Koch beschäftigen, der die Mahlzeiten täglich frisch zubereitet. Das sei nicht selbstverständlich, sondern ein besonderes Anliegen des VKJ, berichtet die Pressesprecherin des Vereins, Mareike Schulz: „Um frisch gekochtes Essen in unseren Einrichtungen anbieten zu können, müssen wir jährlich immer noch 50.000 Euro Spendengelder auftreiben. Das bedeutet einen riesigen Aufwand.“ Doch die Mühe mache sich bezahlt: „Für viele Kinder ist das warme Mittagessen in der Kita die einzige warme Mahlzeit des Tages. Montags und zum Ende des Monats kommen viele Kinder mit Hunger hierher, da es zu Hause wenig zu essen gibt. Wir legen großen Wert auf die frische Küche – sie stellt einen wichtigen Bildungsbereich für die gesunde Entwicklung der Kinder dar.“

Der Träger bemühe sich, Kinder und Beschäftigte bestmöglich zu unterstützen – und könne den Fachkräftemangel der Kindertageseinrichtungen trotzdem kaum auffangen. „Obwohl wir nach Tarif bezahlen und bis zu vier zusätzliche Urlaubstage im Jahr anbieten, haben wir Sorge, nicht genug Fachkräfte für unsere neuen Kitas zu finden“, erzählt Mareike Schulz. Der Kitaalltag schrecke häufig schon Praktikant*innen ab, die sich für eine Erzieher*innenausbildung interessierten. Auch Hemalatha Grundmann und Sylvia Pratzka würden sich heute nicht mehr ohne Weiteres für ihren Job entscheiden, berichten die beiden übereinstimmend. „Ich mache die Arbeit gerne, würde aber jungen Leuten vermutlich eher davon abraten“, sagt Hemalatha Grundmann.

Fachkräfte erwarten von neuer Landesregierung Verbesserungen in vielen Bereichen

Mit Blick auf eine neue Landesregierung kommen der 36-jährigen Hemalatha Grundmann auf Anhieb diverse Verbesserungsvorschläge in den Sinn: mehr pädagogische Fachkräfte mit fundiertem Wissen im Bereich der Integration, kleinere Gruppen und ein besserer Personalschlüssel. Man hoffe auf noch mehr positive Veränderungen, wie sie mit der Revision des Kinderbildungsgesetzes (KiBiz) im vergangenen Jahr bereits angestoßen wurden, erklärt Mareike Schulz. Mit der Überarbeitung sei die Finanzierung insgesamt auskömmlicher geworden, weil mehr Geld ins System komme, und es gebe neue Programme zur Entlastung der Fachkräfte, wie etwa die Alltagshelfer*innen im Zuge der Corona-Pandemie.

„Wir machen die politisch Verantwortlichen immer wieder auf Missstände aufmerksam und hoffen, dass eine neue Landesregierung endlich auch den Fachkräfte-Kinder-Schlüssel anpasst“, so Mareike Schulz. Mit Blick auf die Zukunft müsse außerdem die Ausbildung für künftige Erzieher*innen attraktiver gemacht werden. Dazu gehöre auch die Vergütung. „Bislang wird nur das Anerkennungsjahr vergütet, nicht aber der vorherige dreijährige schulische Teil. Das muss sich unbedingt ändern – schließlich trägt der aktuelle Fachkräftemangel maßgeblich zur Überlastung unserer heutigen Fachkräfte bei.“

Eltern unterstützen Forderungen der Beschäftigten

Das bestätigt auch Daniela Heimann, Sprecherin des Landeselternbeirats der Kindertageseinrichtungen NRW. Gerade bereitet die zweifache Mutter, deren ältere Tochter eine städtische Kita in Mülheim an der Ruhr besucht, das zehnjährige Bestehen des Elterngremiums vor. „Dabei stelle ich fest, dass die aktuellen Themen eigentlich dieselben sind wie die von damals. Man hat das Gefühl, dass nichts passiert.“ 

Die Forderungen der Elternschaft an die Politik seien in vielen Bereichen deckungsgleich mit denen der Fachkräfte. „Der Personalmangel in den Einrichtungen ist das größte Problem – auch für Eltern und Kinder“, betont sie. Eine zuverlässige Betreuung sei nur in den seltensten Fällen gewährleistet. „Als Eltern müssen wir immer darauf gefasst sein, die Kinder früher abzuholen oder gar keine Betreuung nutzen zu können. Und die Kinder vermissen einen geregelten Alltag und werden kaum noch gefördert. Bildungschancen hängen sehr stark vom finanziellen Hintergrund der Eltern ab.“

Die Politik habe es versäumt, Ausbildungskapazitäten zu erhöhen und Fachkräfte mit finanziellen Anreizen zu locken, erklärt Daniela Heimann. „Unterm Strich gilt es nicht nur, zusätzliche Kräfte einzustellen und dadurch die Teams in den Kitas zu entlasten. Wir brauchen auch eine neue Finanzierungslogik, damit das System Kita endlich auf stabilen Füßen steht.“ Wünschenswert sei dabei eine Sockelfinanzierung für fest abzudeckende Kernzeiten in der Betreuung, etwa von 9 bis 15 Uhr: „Derzeit ist die Finanzierung zu 100 Prozent variabel, und die Einrichtungen müssen jedes Jahr den Bedarf der Eltern abfragen. Die Sockelfinanzierung durch den Gesetzgeber würde mehr Planungssicherheit für die Einrichtungen und damit auch für uns als Eltern mit sich bringen.“

Nachgefragt

Die Situation in Kitas ist mangelhaft

Wie sollte die neue Landesregierung das System Kita verändern, damit Kinder von Beginn an faire Bildungschancen erhalten? Marion Vittinghoff, stellvertretende Vorsitzende der GEW NRW, erläutert die zentralen Missstände und die wichtigsten Forderungen an die Politik.

Wie bewertest du die aktuelle Situation in den Kitas?

Marion Vittinghoff: Sie ist mangelhaft – räumlich wie personell. Die Gruppen sind zu groß, der Lärmpegel ist gesundheitlich belastend. Angesichts der dünnen Personaldecke bringt jeder Krankheitsfall das System ins Wanken. Hinzu kommen unnötige Mehraufwände, etwa durch die schlechte Ausstattung: In vielen Einrichtungen gibt es nicht mal einen Speiseraum. So kann statt individueller Förderung oft nur eine „Verwahrung“ der Kinder gewährleistet werden – obwohl die ersten Lebensjahre entscheidend für Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit sind. Und die Lage wird sich weiter verschärfen: Bis 2030 fehlen rund 67.000 Fachkräfte. Diese Zahl berücksichtigt noch nicht den Mehrbedarf, der wegen der geflüchteten Kinder aus der Ukraine, die nun zu uns kommen, nötig sein wird.

Was bedeutet das für die Beschäftigten?

Marion Vittinghoff: Nicht nur, aber gerade in Pandemie- und Krisenzeiten gehen sie über ihre Leistungsgrenzen hinaus: Sie müssen immer mehr Aufgaben außerhalb ihres Tätigkeitsbereiches übernehmen, haben kaum Zeit für Teambesprechungen und leiden extrem unter Stress. Viele sind gesundheitlich angeschlagen. Hinzu kommt das Gefühl mangelnder Anerkennung – finanziell wie gesellschaftlich. Die Beschäftigten haben den Eindruck, von der Politik alleingelassen zu werden.

Was fordert die GEW NRW von der neu zu wählenden Landesregierung?

Marion Vittinghoff: Wir brauchen einheitliche Mindeststandards, damit Bildungs- und Teilhabechancen nicht von der Finanzkraft der Eltern oder den Kommunen abhängen. Dazu gehören eine Entlastung der Erzieher*innen, etwa durch Hauswirtschafts- und Verwaltungskräfte, sowie tragfähige Lösungen für Personalausfälle. Außerdem muss die räumliche Ausstattung verbessert und die Digitalisierung in den Kitas vorangetrieben werden: Es kann nicht sein, dass in manchen Einrichtungen nur ein PC ohne aktuelle Software vorhanden ist. Um dem Fachkräftemangel zu begegnen, benötigen wir ein umfassendes Fort- und Weiterbildungsangebot, auch für Kinderpfleger*innen oder Alltagshelfer*innen. Und nicht zuletzt geht es auch um die Vergütung: Sie muss schon während der Ausbildung gewährleistet sein und auch für Festangestellte verbessert werden, gerade bei der tariflichen Eingruppierung nach einer Beförderung.

Die Fragen stellte Anne Petersohn.