lautstark. 12.03.2021

Nachhaltigkeit ist heute universelles Leitbild

Nachhaltigkeit

Das Konzept der Nachhaltigkeit

Das Konzept der Nachhaltigkeit ist schillernd, wird vielfach verwendet – ist aber auch ein Kulturgut mit Tradition. Eines, an dem sich einige möglichst gewinnbringend bedienen wollen. Ohne emotionale Motive. Doch die braucht die aktuelle Nachhaltigkeitsdebatte, um Greenwashing entgegenzuwirken und den unumstrittenen Grundwertunserer postmodernen Gesellschaft zu festigen.

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  • Ausgabe: lautstark. 02/2021 | Nachhaltig leben, lehren und lernen
  • Autor*in: Prof. Dr. Torsten Schäfer
  • Funktion: Buchautor und Umweltjournalist sowie Professor für Journalismus an der Hochschule Darmstadt
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Von nachhaltiger Nutzung in der Forstwirtschaft zu Nachhaltigkeit in der Weltpolitik

1713 machte sich der sächsische Oberberghauptmann Hans Carl von Carlowitz in Freiberg Gedanken darüber, wie es dauerhaft genügend Holz geben könne. Es war für den Bau von Silberminen nötig. Seine Idee: nicht mehr Bäume schlagen als nachwachsen können. Er sprach von „nachhaltender Nutzung“. Der Begriff gelangte in forstwirtschaftliche Schriften und wurde ins Englische mit „sustainable“ übersetzt.

Der Begriff Nachhaltigkeit prägt sich weltpolitisch erst 1987 ein: Da legte die frühere norwegische Ministerpräsidentin Gro Harlem Brundtland für die Vereinten Nationen den nach ihr benannten Brundtland-Report vor. Darin steht eine Definition von Nachhaltigkeit, die heute für viele Politiker*innen und Wissenschaftler*innen immer noch stimmig ist. Demnach ist die Entwicklung nachhaltig, wenn sie „die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können.“ Seit Mitte der 1990er-Jahre wird das Thema Nachhaltigkeit auch außerhalb der Wissenschaft diskutiert – die Politik und eine breite Gesellschaftsschicht entdeckten den Begriff für sich. Der wichtigste Antrieb dafür war der Weltgipfel der Vereinten Nationen 1992 in Rio de Janeiro. Er formulierte etwa die Agenda 21 als ein globales Leitbild für eine nachhaltige Entwicklung.

Donut statt Dreieck: Wirtschaftsmodell rückt Nachhaltigkeit in den Fokus

Das Drei-Säulen-Modell oder das Dreieck der Nachhaltigkeit setzt die Elemente Ökologie, Ökonomie und Soziales gleich. Manche nennen das „schwache Nachhaltigkeit“. Von „starker Nachhaltigkeit“ sprechen Wissenschaftler*innen, die dieses Konzept kritisieren und die Ökologie als vorrangig sehen. Ihr Argument: Alle anderen Dimensionen hängen von intakten natürlichen Ressourcen ab.

Die bekannteste unter den Wissenschaftler*innen ist die Kate Raworth, die das Modell der Donut-Ökonomie entwickelt hat. Ein Wirtschaftsmodell, das erstmals Menschen und ihr nachhaltiges Denken und Handeln statt Wachstum in den Fokus rückt: Es gibt die innere Schicht – einen sicheren und gerechten Raum für den Menschen und die nachhaltige ökonomische Entwicklung. Darüber die Belastbarkeitsgrenzen des Planeten mit verschiedenen Parametern wie Klimawandel, Artenverlust und Wasserkonsum; darunter der Entwicklungsraum des Menschen, das soziale Fundament mit Grundbedürfnissen wie Gesundheit, Einkommen oder Bildung.

Heute hat der Donut dem Dreieck praktisch den Rang abgelaufen, weil das Modell des Dreiecks doch große Mitschuld am gestiegenen Greenwashing im Neoliberalismus der letzten 40 Jahre trägt. Denn Unternehmen konnten auf dieser unklaren Grundlage fast alles als nachhaltig bezeichnen. Das geht nun nicht mehr. Glücklicherweise nimmt die Zahl nachhaltiger Unternehmen zu, die ihre Geschäfte planetengerecht aufstellen, in dem sie etwa keine fossilen Gelder mehr in ihre Prozesse nehmen. In Firmen selbst geht es darum, schrittweise eine Kultur anzulegen, die auf Wiederverwertung, umweltgerechte Produkte und vor allem transparente Lieferketten setzt. Und auf Faktoren wie Kinderbetreuung, Zeitwohlstand oder gerechte Arbeitsplatzregelungen. Gerade nach der Corona-Pandemie wird vieles neu sein und die Faktoren werden noch mal an Bedeutung gewinnen.

Gefahren durch Greenwashing

Solch eine soziale und ökologische Unternehmenskultur ist das Gegenteil von Greenwashing, das unter dem kontextlosen Nachhaltigkeitsmarketing leidet. Nachhaltigkeit braucht kein Marketing, wenn sie ernsthaft verankert wird in den Strukturen von Unternehmen, Bildungseinrichtungen, Behörden und Stiftungen. Greenwashing beginnt dann, wenn Falschaussagen entstehen. Ein Produkt ist nur nachhaltig, wenn es von der Herstellung und Verarbeitung über die Lieferkette bis hin zum Vertrieb umweltschonend und sozial gerecht gemacht ist. Werbung pickt sich oft nur einen Aspekt heraus und nennt das Produkt nachhaltig. Der gesamte Betrieb muss dem Leitbild folgen – mit Nachhaltigkeitsberichten, Klimakonzepten, Schulungen oder anderen strukturellen Dingen. Irgendwo ein bisschen Energie sparen oder zwei E-Autos im großen Fuhrpark reichen nicht aus. Institutionen sollten dabei nur das versprechen, was sie einlösen können, und auch erkennbar machen, dass sie die aktuelle Definition von Nachhaltigkeit im Sinne des Donut-Modells verfolgen.

Soziale Nachhaltigkeit ist stark verknüpft mit Gerechtigkeitsvorstellungen

Nachhaltigkeit ist vor allem in Kommunikation und Bildung mit Lebensqualität zu verbinden. Diese Zusammenhänge sind grundlegend. Daher soll noch mal eine andere Perspektive mittels der Nachhaltigkeitspyramide eingenommen werden, die die natürlichen Grenzen aufzeigt. Das Modell ist ein Ergebnis aus dem Projekt „Grüner-Journalismus“ an der Hochschule Darmstadt: Basis einer nachhaltigen Entwicklung in den natürlichen Grenzen ist hiernach die Erfüllung materieller Grundbedürfnisse für alle Menschen (ökonomische Nachhaltigkeit). Während die meisten von ihnen in westlichen Industrieländern – ungeachtet aller dortigen Verteilungsprobleme – bereits ein hohes materielles Niveau erreicht haben, leben global Milliarden Menschen weiterhin in absoluter Armut. Die nächste Stufe der sozialen Nachhaltigkeit ist stärker verknüpft mit Gerechtigkeitsvorstellungen. Dabei geht es letztlich um die Frage, ob Menschen gesellschaftlich und sozial verankert sind. Die Spitze der Pyramide bilden alle Ansätze einer Selbstverwirklichung oder genauer gesagt, die eines persönlichen Wachstums.

Nachhaltigkeit als zivilisatorische Errungenschaft und Leitbild

Aus der umfassenden Bedeutung der planetaren Grenzen, in der sich Gesellschaften entwickeln und die das Anthropozän, also das von Menschen gemachte Zeitalter, neu auf die Agenda setzen, neu auf die Agenda setzt, ergibt sich eine Sicht auf nachhaltige Entwicklung als eine zivilisatorische Errungenschaft und universelle Wertigkeit für alle Systeme. Sie steht seit 300 Jahren in der Öffentlichkeit, wird zunehmend diskutiert und bringt neue Lebensstile und Milieus hervor. Zudem hat Nachhaltigkeit bereits tiefen Eingang in regionale, nationale und globale Rechtsregime, Politikprogramme sowie in Märkte und Unternehmen gefunden. Nachhaltigkeit ist daher, verglichen mit der Demokratie, ein universelles Leitbild, das starke Wertedimension in sich trägt. Somit steht sie auch nicht in irgendeiner Art von Konkurrenz zu geschlossenen Einzelthemen. Die aus einem alten Denken entspringende, auch immer parteipolitische Frage, ob man sich für oder gegen Nachhaltigkeit entscheiden sollte, stellt sich nach diesem Verständnis nicht, da sie als Perspektive immer ihren Platz hat.

Herausforderungen von Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE)

Das ist wichtig, denn nicht immer, wenn es um Nachhaltigkeit geht, muss vorrangig mit dem Begriff geworben werden. Es steht auch nicht auf jeder politischen Kommunikation oder Bildungs-botschaft, die demokratische Werte und Ziele aussendet, „Demokratievermittlung“ drauf – ebenso verhält es sich mit der Nachhaltigkeit. In expliziten Diskursen der Wissenschaft und Bildung etwa darf sie das Etikett sein, vielfach stehen aber die Einzel-themen wie Energie, Teilhabe oder Mobilität vorne an, die dann aber in einigen Sätzen mit dem Konzept der Nachhaltigkeit verbunden sein müssen.

Darin liegt ein spezifisches Problem von BNE begründet: Sie muss stattfinden können, ohne ihren Herkunftsbegriff als permanenten Türöffner zu betrachten. Bildung wird dann nachhaltig, wenn sie Nachhaltigkeit als Dimension auffasst und auf ihre Wirkung als Bildungsgrundlage vertraut, ohne immer damit zu beginnen. Es kann also in Angeboten an Bildungseinrichtungen zuerst um Themen gehen, die Studierende direkt ansprechen – wie faires Einkaufen, Secondhand, Radfahren in der Stadt und viele andere Alltagstrends. Natürlich muss dann aber im Bildungskonzept irgendwann die Nachhaltigkeit als Begriff auftauchen, als universeller Wertekontext.

Empathie und Poesie statt Technokratie und Ökonomismus

Das Nachhaltigkeitsverständnis im öffentlichen Diskurs ist von technokratischen, ökonomischen und pragmatischen Perspektiven geprägt. Folglich sind viele Informationen und auch nachhaltigkeitsbezogenes Wissen entstanden. Gemessen daran ist entsprechendes politisches oder breites gesellschaftliches Handeln größtenteils ausgeblieben – allenfalls die Bewegung „Fridays for Future“ gibt seit 2018 Anlass zur Hoffnung. Verhaltensveränderungen basieren häufig auf emotionalen Identifikationen. Dabei hat die technokratische Nachhaltigkeitsdebatte wenig zu bieten. Es fehlt ihr an Motiven wie Empathie, Schönheit, Sehnsucht und Hingabe, an Poesie und Fantasie, Spiel und Freude – Bezüge, die wir als Naturwesen suchen.

Die Brücke zu einem lebendigeren Nachhaltigkeitsverständnis können neue Vermittlungsformen in Wissenschaftskommunikation, Bildung, Medien und Literatur schlagen, also literarische Erzählformen, die mehr Raum für Subjektivität und Empathie bieten. Der Autor hat selbst versucht, viele der hier notierten Grundsätze für eine ganzheitliche Nachhaltigkeitskommunikation mit Erdprimat, maximalem Alltagsgehalt sowie lokaler Anbindung und Emotionalität am Beispiel des Themas Wasser und der Menschen, die vor Ort mit ihm leben und arbeiten in Buchform zu realisieren. Die „Wasserpfade. Streifzüge an heimischen Ufern“ sind der Versuch, Klimafolgen und Artensterben im Kontext einer ökologischen Nachhaltigkeit anders und neu zu erzählen – einfühlsam und doch sehr faktisch, sozial und heimatlich, von Berufen aus gedacht und vor allem immer wieder mit Kindern und Jugendlichen in Verbindung gebracht. So etwa einer Schulwanderung von Quelle bis zur Mündung eines Flusses, die Teil des Sachkundeunterrichts ist. Dort geht es um die örtliche Geografie, aber auch um das Schwinden des Lebensstoffes Wasser vor Ort in Deutschland. Denn in den Ortschaften rund um diese Schule kamen bereits Lastwagen, um Trinkwasser zu liefern im Hitzesommer 2019.

Das erinnert an ein Synonym für Nachhaltigkeit, das von einem Stammesoberen eines indigenen afrikanischen Volkes kommen soll: Nachhaltigkeit, so soll er gesagt haben, bedeute „immer genug für alle“. Kann man es besser formulieren? Und immer genug Wasser für alle war eben zu manchen Zeiten nicht mehr da. Umso wichtiger wird es, die ökologische Nachhaltigkeit als oberstes Ziel von Bildung und Kommunikation anzuerkennen: explizit, implizit und umfassend im Sinne eines unumstrittenen Grundwertes einer postmodernen Gesellschaft.