Orientierungsrahmen: Eine Mammutaufgabe für Lehrkräfte

Erst die Digitalstrategie der Kultusministerkonferenz (KMK), dann der Medienkompetenzrahmen NRW und nun der Orientierungsrahmen für die Lehreraus- und Lehrerfortbildung: Publikationen zur Digitalisierung von Lernen und Lehren gibt es bereits einige. „Das hilft den Lehrkräften aber nicht“, sagt GEW-Experte Björn Rützenhoff.

Mit Smartphone und Spezialbrille virtuell auf den Mond fliegen, das Escape-Room-Konzept als Unterrichtseinheit nutzen oder Roboter als Vokabeltrainer einsetzen: Angebote und Ideen für die schöne neue Schulwelt gibt es bereits seit Jahren viele. Die Lehrer*innen, die damit arbeiten oder experimentieren, dürften allerdings weiter in der Minderheit sein. Nach wie vor nimmt die Digitalisierung in der Schule nicht recht Fahrt auf. Zumindest in der Praxis. Schriftlich festgehalten ist dagegen vieles.

2016 definierte die KMK in der Strategie Bildung in der digitalen Welt, welche digitalen Kompetenzen junge Menschen in Schule, Ausbildung und Studium erwerben müssten. Nordrhein-Westfalen setzte diese Bildungsstandards mit dem Medienkompetenzrahmen NRW um. Jüngst wurde der didaktische Teil Lehrkräfte in der digitalisierten Welt – Orientierungsrahmen für die Lehrerausbildung und Lehrerfortbildung in NRW ergänzt, der fünf Handlungsfelder nennt: Unterrichten, Erziehen, Lernen und Leisten fördern, Beraten, Schule entwickeln. Adressat*innen sind zunächst Ausbilder*innen an den Zentren für schulpraktische Lehrerausbildung (ZfsL) und Lehramtsanwärter*innen, letztlich aber auch alle anderen Lehrkräfte. 

In der GEW NRW wird die Publikation skeptisch gesehen. Das fängt beim Titel an: „Das Papier heißt Orientierungsrahmen, nicht Vorgaben oder Richtlinien“, sagt Björn Rützenhoff, Experte der GEW NRW für Digitalisierung. „Ich interpretiere das so, dass keiner daraus Forderungen ableiten können soll – etwa nach Ausstattung, Strukturen und Ressourcen.“ Diese Punkte klammert das Dokument aus. Der Lehrer für Chemie und Englisch an einem Berufskolleg in Marl kritisiert daher: „Der Orientierungsrahmen formuliert konkrete Anforderungen an die Lehrenden, lässt aber offen, wie und womit diese Ziele erreicht werden sollen.“

Eigenverantwortung der Lehrkräfte

Die Publikation ist bürokratisch verfasst. Ein Beispiel: „Die situationsgerechte Planung, Durchführung und Reflexion von Unterricht, der auf die Nutzung digitaler Medien zur Gestaltung von schülerorientierten und nachhaltigen Lernprozessen sowie auf die Unterstützung des fachlichen und überfachlichen Kompetenzerwerbs unter Berücksichtigung unterschiedlicher Lernvoraussetzungen und Lernausgangslagen ausgerichtet ist, gehören in einer digitalisierten Welt zum Grundrepertoire professioneller Kompetenzen aller Lehrkräfte.“

Wie sie selbst sowie ihre Schüler*innen digital fit werden, darum müssen sich Lehrer*innen in Eigenregie kümmern. Oder wie es im Orientierungsrahmen heißt: „Aufgrund der Dynamik der Entwicklungen im Zuge der Digitalisierung und des damit verbundenen erweiterten Bildungs- und Erziehungsauftrags von Schule gewinnt die kontinuierliche und selbstgesteuerte Professionalisierung zunehmend an Relevanz.“

Künftig wird von Lehrkräften erwartet, dass sie digitale Materialien „adressatengerecht und zielorientiert auswählen, modifizieren und eigenständig erstellen“, sodass eine veränderte Lernkultur „personalisiertes und selbstbestimmtes Lernen“ unterstützt. Wenige Stichworte, die eine Mammutaufgabe bedeuten: „Dafür brauche ich eine Menge Zeit“, betont Personalrat Björn Rützenhoff. „Und scheinbar wird davon ausgegangen, dass alles mit eigenen Geräten und Programmen gemacht wird.“ So würden auch Fragen des Datenschutzes und des Urheberrechtes auf die Lehrer*innen abgeschoben.     

Große didaktische Veränderungen

Auch der Experte der GEW NRW für die Aus- und Fortbildung von Lehrkräften, Björn Dexheimer, findet den Orientierungsrahmen sehr unkonkret: „Es gibt keinerlei Umsetzungshinweise. Die Lehrkräfte werden damit allein gelassen, unter welchen Bedingungen sie die Vorgaben erreichen können.“ Betroffen seien besonders Referendar*innen: „Die haben – anders als erfahrene Lehrkräfte – keine Wahl. Sie müssen jetzt so arbeiten, können die im Seminar gelernten Inhalte aber nicht im geforderten Umfang in der Praxis anwenden.“  

Um wie im Orientierungsrahmen beschrieben zu unterrichten, bräuchten die Lehramtsanwärter*innen in den Seminaren deutlich mehr technische Geräte; aktuell teilen sich bis zu 200 Teilnehmende 16 Tablets. Auch die Kollegien in den Schulen und die Klassen müssten entsprechend ausgestattet sein. „Das ist also alles noch in weiter Ferne“, sagt der Personalrat. Er schätzt, dass Schulen in etwa zwei Jahren so weit sein könnten, dass die Transformation – wie es im Orientierungsrahmen heißt – beginnen könne. Die GEW NRW fordert dazu derweil mehr Mitbestimmung in Fragen der Ausstattung und Didaktik sowie eine sogenannte Whitelist, die unter anderem datenschutzkonforme Apps auflistet.

Positiv wertet der Fachleiter am Zentrum für schulpraktische Lehrerausbildung Mönchengladbach, dass erstmals konkret formuliert worden sei, dass sich Unterricht und Lernarrangements mit der Digitalisierung massiv veränderten. „Auf die Lehrkräfte kommen wesentliche didaktische Änderungen zu. Das war vielen so noch nicht klar.“ Bisher habe die Nutzung digitaler Medien wie Lern- oder Präsentationsvideos paradoxerweise oft dazu beigetragen, den Frontalunterricht zu stärken. Der Orientierungsrahmen mache nun deutlich, dass es nicht um die Digitalisierung des Analogen, sondern die Entwicklung einer völlig neuen Lernkultur gehe. Dazu müssten sich neben Unterricht, Inhalten und Fachdidaktik Aus- und Fortbildungsformate verändern. „Die Konsequenzen sind extrem weitreichend.“


Nadine Emmerich
freie Journalistin

Foto: iStock.com / bjdlzx

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Kommentare (1)

  • L. Humbert Für die Fächer Deutsch, Englisch, Mathe schafft unser Schulsystem durch die Etablierung als eigenständige Hauptfächer die notwendigen Voraussetzungen, damit auf dieser Basis Elemente dieser drei Fächer auch in anderen Fächern aktiv berücksichtigt werden können. Dies führt dazu, dass so Fachdidaktiken anderer Fächer Bezugspunkte der allgemeinen Bildung aktiv berücksichtigen können. Dies gilt ebenso für Informatik – damit also Elemente der Informatik in allen Fächern entlang der Bildungsbiographie (im Sinne der Bildungsgangdidaktik nach Meinert Meyer) wirksam werden, ist es unabdingbar, dass Informatik als Hauptfach etabliert wird. Nur der permanente Auf- und Ausbau der Informatikgrundkonzepte und der grundlegenden Informatikkompetenzen durch das Hauptfach Informatik ermöglicht die produktive Anwendung in anderen Fächern. Digitalisierung ist Informatisierung, d.h. Informatik muss nicht nur als Pflichtfach Informatik in der Schule als Hauptfach Informatik etabliert werden, sondern auch Eingang in die Lehrerbildung (1. Phase) finden, damit die notwendige wissenschaftliche Voraussetzung geschaffen wird, auf der die Lehrkräfte ihren Unterricht für ihre konkrete Lerngruppe auch gestalten können. Alle Fachdidaktiken sind aufgefordert, zu klären, welche Anforderungen der Informatik sie wie konkretisieren (können). Auch für die Fort- und Weiterbildung. Weitere Informationen bieten Interessierten auch folgende Beiträge https://link.springer.com/article/10.1007%2Fs00287-020-01247-6 und https://gi-radar.de/258-informatik-in-der-grundschule/
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