lautstark. 27.01.2023

Zivilgesellschaftliches Engagement in der Krise

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Bündnisse ohne Grenzen

Klimawandel, Ukrainekrieg, Inflation: Gerade in der aktuellen Krisenlage arbeiten Engagierte über Ländergrenzen hinweg zusammen. Zivilgesellschaftlichen Kooperationen wird nicht nur deshalb eine große Bedeutung bei der Lösung der zentralen Zukunftsfragen zugeschrieben. Doch die Vielzahl und Komplexität der Herausforderungen bringt Freiwillige vielerorts an ihre Grenzen.

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  • Ausgabe: lautstark. 01/2023 | Medien – Kritisch und kompetent konsumieren
  • Autor*in: Anne Petersohn
  • Funktion: freie Journalistin
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„Krisen lassen ganz andere Fragen und Bedarfe sichtbar werden“, erklärt Ansgar Klein, Gründungsgeschäftsführer des Bundesnetzwerks Bürgerschaftliches Engagement (BBE) mit Sitz in Berlin. Zivilgesellschaftliche Akteur*innen hätten dabei vielfältige Möglichkeiten, auf neue Situationen zu reagieren. „Egal, ob Banken- oder Flüchtlingskrise: Gerade in solchen Zeiten haben wir schon in der Vergangenheit erlebt, dass länder- und grenzüberschreitende Kooperationsformen entstanden sind – mit extrem positiven Befunden“, betont Ansgar Klein.

Die Austausch-Netzwerke reichten von der kommunalen bis auf die europäische Ebene. Zuletzt sei so etwa die Unterbringung von Geflüchteten aus der Ukraine organisiert worden – schneller und effektiver als staatliche Angebote. „Solche Beispiele zeigen, wie flexibel und leistungsfähig die europäische Zivilgesellschaft ist. Sie hat eine große Bedeutung bei der Lösung der aktuellen Probleme.“

Städtepartnerschaften sichern den Dialog in Zeiten des Krieges

Städtepartnerschaften sind ein klassisches Beispiel für länderübergreifende Kooperationen. Doch auch sie stehen in der aktuellen Situation mitunter vor besonderen Herausforderungen, wie ein Blick nach Köln beweist. Seit 1988 gibt es dort den Verein zur Förderung der Städtepartnerschaft Köln – Wolgograd, dem ehemaligen Stalingrad. Mit Beginn des Kriegs in der Ukraine habe sich das Vereinsleben in vielerlei Hinsicht verändert, berichtet die Vorsitzende Eva Aras. „Die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker hat die Städtepartnerschaft direkt auf Eis gelegt.

Das war ein Schock für uns.“ Im Nachhinein habe Henriette Reker betont, dass der Kontakt zur russischen Zivilgesellschaft ausdrücklich weiter erwünscht sei. „Leider können wir allerdings momentan keine Bürgerreisen mehr anbieten. Auch haben wir Schwierigkeiten, die von der Stadt bewilligten Gelder für unser Hilfsprojekt nach Russland zu befördern“, sagt Eva Aras. Über das Projekt erhalten ehemalige Zwangsarbeiterinnen und deren Kinder pflegerische, medizinische und soziale Unterstützung.

Momentan müsse der Verein immer einen Kurier finden, der das Geld nach Wolgograd bringe – die Sanktionen gegen Russland machten Banküberweisungen unmöglich. Angesichts der aktuellen Situation sehe der Verein seine Aufgabe mehr denn je darin, den Dialog zwischen deutscher und russischer Gesellschaft zu fördern. „Wir möchten zeigen, dass auch die russische Zivilgesellschaft unter den Folgen des Krieges leidet und auf Frieden hofft.“

Informationsveranstaltungen und Lesungen seien wichtige Beiträge, um die russische Kultur in Deutschland vorzustellen und weiter wertzuschätzen. „Dabei stellen wir ein großes Interesse der Menschen fest. Viele haben das Bedürfnis, über den Krieg zu sprechen, zu überlegen, wie es weitergehen kann – auch wenn unsere Möglichkeiten begrenzt sind.“ Zugleich seien die Vereinsmitglieder im Kontakt zu ihren russischen Freund*innen. „Wir schreiben uns gegenseitig, dass wir auf bessere Zeiten hoffen.“

Globale Kooperationen gegen die globale Klimakrise

Zivilgesellschaftliches Engagement über Ländergrenzen hinweg wirkt auch in anderen Bereichen – etwa in der Klimakrise. Niels-Arne Münch ist seit vielen Jahren in der Klimabewegung aktiv. Seine praktischen Erfahrungen als Aktivist verbindet der Göttinger Sozialwissenschaftler heute mit einer wissenschaftlichen Perspektive. Wie Ansgar Klein betont auch Niels-Arne Münch die Bedeutung überregionaler Kooperationen. „Angesichts globaler Krisen ist eine globale Zusammenarbeit unabdingbar“, sagt er. Schon das Pariser Klimaabkommen habe der Zivilgesellschaft eine zentrale Rolle bei der Lösung der drängenden Zukunftsfragen zugeschrieben.

Und auch der aktuelle Bericht des Weltklimarats IPCC – kurz für Intergovernmental Panel on Climate Change – hebe darauf ab, zum Beispiel lokale Gemeinschaften in einem gemeinsamen Forum zusammenzubringen und sie in den Prozess der Klimapolitik einzubeziehen. „Klimapolitik muss aus der Mitte der Gesellschaft kommen und möglichst viele Menschen versammeln können. Dafür brauchen wir Bündnisse, die über politische Lager hinausgehen“, erklärt Niels-Arne Münch. Ziel sei es, konkrete politische Forderungen aufzustellen und politischen Druck zu entwickeln.

Was eigentlich möglich ist: Interationaler Austausch lässt neue Ideen entstehen

Einen Einblick in diese Prozesse hat Niels-Arne Münch unter anderem bei RePlanet bekommen, einer europäischen Nichtregierungsorganisation (NGO), die sich für menschliches Wohlergehen und den Erhalt der Natur starkmacht. „Ich fand es unglaublich spannend, mit Menschen aus anderen Ländern in Kontakt zu kommen und zu merken, dass dort ganz anders über bestimmte Themen diskutiert wird.“ Solche Einblicke eröffneten neue Ideen, „was eigentlich möglich ist“. Dabei seien die aktuellen Klimafragen eng mit dem allgemeinen Krisengeschehen verknüpft.

„Es geht darum, eine Klimapolitik zu finden, die auch im Kontext der anderen Krisen sinnvoll ist, die also Klima und Armut gemeinsam adressiert und bekämpft“, betont Niels-Arne Münch. Mit der wachsenden Zahl an Problemen manifestiere sich in der Gesellschaft die Angst vor dem Zivilisationskollaps. „Der Diskurs in Deutschland verlangt den Menschen eine sehr starke Veränderung des Lebensstils ab und nimmt vor allem das Thema Sparsamkeit in den Blick.“ Sinnvoller sei es, mit positiven Botschaften zu arbeiten. „Wir kommen viel weiter, wenn wir sagen: Es wird auch in Zukunft ein gutes Leben möglich sein, und zwar für noch mehr Menschen als bisher.“

Die Wissenschaft könne helfen, solche Narrative auszugestalten. „Auch wenn wir als Wissenschaftler*innen kaum eine Möglichkeit haben, politische Prozesse zu beschleunigen, so können wir doch die gesellschaftliche Transformation begleiten und etwa der Technikskepsis in Deutschland entgegenwirken.“ Kooperationen seien auch hier notwendig, insbesondere zwischen Natur- und Geisteswissenschaften.

Zivilgesellschaftliches Engagament ist kein Ersatz für staatliche Regelstrukturen

Doch die Bereitschaft zur Zusammenarbeit allein reiche nicht aus, betont BBE-Geschäftsführer Ansgar Klein. Vielmehr müsse der Staat die Rahmenbedingungen für Engagierte verbessern. „Wir sehen, dass die Zivilgesellschaft immer stärker gefordert ist. Diese extreme Leistungsdichte kann sie auf Dauer nicht bewältigen.“ Das gelte umso mehr mit Blick auf fehlende sozialstaatliche Regelstrukturen, wie sie beispielsweise die Tafeln in Deutschland immer wieder bemängelten.

„Das Fehlen dieser Strukturen darf so nicht bestehen bleiben.“ Neben den Freiwilligen seien auch Einrichtungen betroffen, die Engagement begleiten und unterstützen, wie etwa Freiwilligenagenturen, Bürgerbüros oder Selbsthilfekontaktstellen. Es gelte, eine strukturelle Förderung dieser Infrastrukturen zu ermöglichen und
dabei auch finanzschwache Kommunen und Regionen infrastrukturell für die Bedarfe der Zivilgesellschaft
auszustatten.