lautstark. 27.01.2023

Warum wir auf Negativschlagzeilen anspringen

Medienkompetenz

Dauerstress durch negative Nachrichten in den Medien

Negative Nachrichten prasseln täglich und in einer nie dagewesenen Menge auf uns ein. Was unser Gehirn mit ihnen macht und welche Emotionen und Handlungen sie auslösen, erklärt Diplom-Psychologe Daniel Caputo. Danach unbedingt umblättern: Auf der nächsten Seite gibt es viele Tipps, wie wir achtsam mit Medien umgehen können.

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  • Ausgabe: lautstark. 01/2023 | Medien – Kritisch und kompetent konsumieren
  • Autor*in: Sherin Krüger
  • Funktion: freie Journalistin
Min.

Wie reagieren wir aus psychologischer Sicht auf die Nachrichtenmenge?

Die Masse der Nachrichten stellt für unsere Wahrnehmung und Psyche eine Überflutung dar – nochmals verstärkt durch die vielen Möglichkeiten des Medienkonsums und vor allem durch das Smartphone. Nachrichten in jeglicher Form sind nicht nur ständig abrufbar, sondern durch Newsticker und Push-Mitteilungen dauerpräsent. Wir können uns kaum von ihnen distanzieren und sind live bei Ereignissen wie der Corona-Pandemie, dem Krieg Russlands gegen die Ukraine oder den Demonstrationen in Iran dabei. Das sind nur drei Beispiele aus jüngster Vergangenheit, die eine Negativschlagzeile nach der anderen generiert haben und immer wieder bei uns aufploppten. Die Flut an Informationen lässt der Psyche kaum eine Chance, zur Ruhe zu kommen.

Was lösen Negativschlagzeilen im Körper aus?

Wenn wir negative Nachrichten konsumieren – geballt in einer TV-Nachrichtensendung oder scrollend auf unserem Smartphone-Bildschirm –, findet im Körper ein Prozess der Angst statt. Das heißt, durch den Anstieg von Cortisol und Adrenalin wird Energie mobilisiert und der Körper auf Flucht und Kampf vorbereitet. Diese Reaktion aber bleibt aus, während wir vor dem Fernseher sitzen oder auf unser Smartphone konzentriert sind. Die ganze Angstkaskade läuft also ins Leere. Das führt dazu, dass der Stress im Körper feststeckt und dieser ständig in Alarmbereitschaft ist.

Wie nehmen wir negative Nachrichten wahr und wie verarbeiten wir sie?

Eine negative Nachricht bindet unsere Aufmerksamkeit stärker als eine positive Meldung, weil unser Verstand evolutionspsychologisch und -biologisch darauf ausgerichtet ist, nach Gefahren Ausschau zu halten. Und es liegt in der Natur der Sache, dass wir negative Nachrichten mit Gefahren assoziieren. Wir geraten in Dauerstress und suchen in der Folge nach weiteren Negativschlagzeilen. Das wird insbesondere am Smartphone schnell zu einem Zwang. Dieses Verhalten wird Doomscrolling genannt: Wir lesen einen Artikel und suchen
sofort im nächsten nach weiteren Informationen, die unsere Wahrnehmung bestätigen. Bei einem Radio- oder TV-Beitrag wechseln wir den Kanal oder ziehen weitere Medien hinzu. Es entsteht eine kognitive Verzerrung, die in der Psychologie Bestätigungsfehler heißt.

Welche Tricks wenden Medien bei Negativschlagzeilen an?

Da es nur menschlich ist, eher auf negative Nachrichten zu reagieren als auf positive, setzen Medien vermehrt auf Negativschlagzeilen – für ihre Quoten, Reichweiten oder Abo-Zahlen. Studien haben ergeben, dass wir die Welt oft viel schlimmer sehen, als sie ist. Durch ständig präsente Nachrichten und weil wir live bei Ereignissen dabei sein können, wirkt die Welt ja auch tatsächlich schlechter als noch vor zehn bis fünfzehn Jahren. Dabei wird durch die Masse an negativen Nachrichten die Welt so dargestellt, wie sie nicht wirklich ist.

Können Negativschlagzeilen psychische Erkrankungen auslösen?

Wir sind dauernd angespannt und in Sorge. Das kann bei einer entsprechenden Disposition oder Vulnerabilität das Fundament für stärkere psychische Belastungen bilden, die auch in einer psychischen Störung enden können. Die meisten Patient*innen sind bereits vorbelastet mit einer Depression oder mit Angststörungen jeglicher Art. Durch dauerpräsente Negativschlagzeilen – im Besonderen während der Corona-Pandemie – und durch eine unachtsame Mediennutzung erleiden sie einen Rückfall. Die Berichterstattung kann immer ein
Trigger sein, der eine Vulnerabilität intensiviert, die schon vorher bestanden hat.

Was hat Flugangst mit negativen Nachrichten zu tun?

Flugangst ist eine weit verbreitete Angststörung. Viel verbreiteter als die Angst vor dem Autofahren. Und warum? Weil jedes Flugzeugunglück auf der Welt in den Nachrichten thematisiert wird. Autounfälle, die um ein Vielfaches häufiger passieren, werden nur bei vielen Opfern oder einem immensen Sachschaden in den Medien erwähnt. Obwohl unser Verstand weiß, dass das Flugzeug eines der sichersten Verkehrsmittel ist, fördert die Medienpräsenz von Flugzeugkatastrophen die Flugangst.

Was ist die erlernte Hilflosigkeit in Bezug auf negative Nachrichten?

Wenn Probleme auf uns zukommen und wir keinen Lösungsweg erkennen, werden wir in unserem Verhalten eher passiv als aktiv und lassen alles über uns ergehen. Dabei können verschiedene Einflüsse die Einstellung bedingen, nicht handlungsfähig zu sein. Personen mit depressiven Erkrankungen machen oft die Erfahrung, dass ihre Lösungsversuche ins Leere laufen und ihnen nicht zugehört wird. Sie denken letztendlich, dass sie ihre Wünsche nie erfüllen können, und ergeben sich der Situation. Das wird als erlernte Hilflosigkeit
bezeichnet.

Negative Nachrichten machen genau das: Sie zeigen uns Sachlagen auf ohne konstruktive Lösungsvorschläge, ohne Perspektive. So entsteht bei uns schnell der Eindruck, keine Möglichkeit zu haben, etwas zu tun. Wir denken: Da passiert gerade ganz viel Schlimmes in der Welt und ich als Einzelperson kann nichts daran ändern. Wir fühlen uns hilflos. Dadurch verlieren wir an Selbstwirksamkeit, was bis hin zur kompletten Resignation führen kann, also dazu, dass wir am Welt- oder Sozialgeschehen nicht mehr teilnehmen.

Was machen Negativschlagzeilen mit Kindern und Jugendlichen?

Heranwachsende befinden sich tendenziell in einer instabilen Phase ihres Lebens, in der sich ihre Sicht auf die Welt erst einmal entwickeln muss. Kinder und Jugendliche müssen ein Gefühl dafür bekommen, dass sie – zumindest in unserer privilegierten Gesellschaft – noch immer in einer relativ sicheren Welt leben.

Heute ist diese Phase jedoch von einer Masse an Negativschlagzeilen geprägt, und dadurch entwickelt sich die erlernte Hilflosigkeit bei Kindern und Jugendlichen noch stärker. Ihnen fehlt die Erfahrung, dass die Welt auch ein sicherer Ort sein kann, und das kann sich destabilisierend auf ihre Psyche auswirken.

Bei Depressionen sprechen wir von einer kognitiven Triade: Welche Sicht hat der Mensch auf sich selbst, auf die Welt und auf die Zukunft? Genau diese Sichtweisen befinden sich bei Kindern und Jugendlichen noch im Entwicklungsstadium und können durch die Medienlage negativ beeinflusst werden. So kann der Nährboden für psychische Störungen entstehen, die im weiteren Verlauf des Lebens auftreten können. Aber auch im Kindes- und Jugendalter nehmen Angststörungen und Depressionen immer mehr zu.