lautstark. 27.01.2023

Medienversagen: Ein System in der Krise

Medienkompetenz

Winnetou, Wokeness und die BILD

Im August 2022 zog der Ravensburger Verlag sein geplantes Begleitbuch zum Film Der junge Häuptling Winnetou zurück. Der vermeintliche Grund: ein woker Shitstorm, also massive, aber unlautere Rassismusvorwürfe in den sozialen Medien.Datenanalysen zeigen jedoch, dass es einen solchen Shitstorm nie gab. Content-Marketing-Experte Mirko Lange hat den Fall analysiert und zeigt, was Medienversagen bedeutet.

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  • Ausgabe: lautstark. 01/2023 | Medien – Kritisch und kompetent konsumieren
  • Autor*in: Simone Theyßen-Speich
  • Funktion: Diplom-Journalistin
Min.

Nachdem der Ravensburger Verlag das Buch zurückgezogen hatte, tobte in den Medien eine Diskussion über Zensur, Cancel Culture und Woke-Wahnsinn – bis hin zur angeblichen Bedrohung der Demokratie. Angeblich habe es heftig laute, aber unlautere Kritik durch „woke Gruppen“ in den sozialen Medien gegeben, die den
Verlag in einem Shitstorm so sehr unter Druck gesetzt hätten, dass er letztlich gar nicht anders konnte – oder das zumindest glaubte –, als sich einer „radikalen Minderheit zu unterwerfen“.

Scheindebatte kreiert eine neue Wirklichkeit

Mirko Langes Datenanalysen zeichnen aber ein anderes Bild: „Diesen Shitstorm über das Buch oder den Film gab es nie, ebenso wenig wie Forderungen nach Verboten“, erklärt er. „Es sind vielmehr Erfindungen findiger Journalisten und Populisten, die entweder medieninkompetent sind oder aus politischem Interesse sowie wirtschaftlichem Kalkül hetzen.“

Der woke Shitstorm sei frei erfunden. Vielmehr habe der Ravensburger Verlag nach eigenen Aussagen Kritik ernst genommen, einen Fehler eingesehen und daraufhin eine unternehmerische Entscheidung getroffen.
Alles darüber hinaus sei verzerrt und inszeniert gewesen. „Medien wie die BILD-Zeitung haben mit der inszenierten Aufregung ganz nebenbei verhindert, dass wir uns inhaltlich mit der Frage auseinandersetzen, ob
rassistische Stereotype auch dann problembehaftet sind, wenn sie vermeintlich positiv und gut gemeint sind“, so Mirko Lange. „Eine perfekt inszenierte Scheindebatte hat dabei eine neue Wirklichkeit kreiert.“

Tatsächlich habe es mit Blick auf das angekündigte Buch sachliche Kritik gegeben, von renommierten Journalist*innen, von der Filmförderung, von Indigenen, von Kinobesucher*innen. „Darauf hat der Verlag in einer
beiläufigen Ankündigung, das Buch nicht auf den Markt zu bringen, reagiert. Auslöser für den eigentlichen Shitstorm war dann die Verdrehung der Tatsachen, hauptsächlich in der BILD. Sie glaubten Ravensburger nicht, behaupteten, der Verlag wäre eingeknickt, hätte sich selbst zensiert und radikalen Minderheiten unterworfen“, beschreibt Mirko Lange die Szenerie aus dem vergangenen Sommer.

Gefährliche Mischung: weniger Recherche, mehr Skandal

Der Experte für Content-Marketing erklärt in seinem ausführlichen Blog, wie sich das Lauffeuer der Fehlinformationen weiterentwickelt hat. „Verstärker waren einerseits weitere Journalisten, die das Narrativ des
,öffentlichen Drucks aus dem Internet‘ einfach von anderen abgeschrieben und nachweisbare Lügen und Verzerrungen der BILD einfach übernommen haben, sowie Kommentare von Prominenten und Politikern, welche das Narrativ von Sprechverboten, Zensur und Bücherverbrennung ohne weitere Prüfung übernommen oder gar weitergesponnen haben.“

Mirko Lange sieht das Problem nicht nur darin, dass einige Journalist*innen die Recherchestandards nicht
eingehalten haben. Seine Kritik richtet sich auch an das System der sozialen Medien, die Nachrichten nur dann belohnen, wenn sie Erregung triggern, Hass und Hetze oftmals inklusive. Der Fall Winnetou sei dabei eine durchaus ernst zu nehmende Bedrohung für unsere Demokratie. „Für eine angemessene Meinungsbildung des Volkes, von dem in der Demokratie ja alle Macht ausgeht, haben seriös recherchierte Informationen aus den Medien eine große Bedeutung“, betont Mirko Lange.

Da seien „Informationen“ von politischen Populist*innen oder solche, die über die kranke Mechanik der sozialen Medien gestreut werden, gefährlich. Diese Mechanik, so Mirko Lange in seinem Blog-Beitrag Der erfundene Shitstorm – Chronologie eines Medienversagens, sei auch bei anderen Themen erkennbar: „Gendern, Layla, Cancel Culture – aktuell gibt es viele Themen, die nach genau dem gleichen Muster vergiftet werden.“

Der erfundene Shitstorm

Hintergrund der Causa Winnetou ist der neue Film Der junge Häuptling Winnetou, der im August 2022 in die Kinos kam. Der Kinderfilm hat, außer den Hauptfiguren, wenig Bezüge zu den Karl-May-Filmen und -Büchern. Ebenso wie an anderen Werken vergangener Jahrzehnte und Jahrhunderte wird auch an der aktuellen Verfilmung „gut gemeinter Rassismus“ kritisiert. Die Darstellung hat aber nichts mit der Wirklichkeit der Indigenen zu tun. Auch der Kolonialismus wird nicht thematisiert. Diese unkritische Aufnahme alter Stereotype wurde hinterfragt, um auch Kindern mehr Wissen über die Hintergründe zu vermitteln. Ein Verbot etwa der Karl-May-Bücher oder -Filme stand aber nie im Raum.

Einen woken Shitstorm, also einen großen Aufstand, um rassistische oder soziale Diskriminierung oder Ungerechtigkeit gegen Minderheiten zu verhindern, hat es in dem Fall nie gegeben. Vielmehr hat Mirko Lange in
seinen Datenanalysen belegt, dass die BILD einen anti-woken Shitstorm ausgelöst hat. Dabei wurde suggeriert, dass wegen des angeblich lauten Protests alle, also auch ältere Werke rund um die Figur des Winnetou komplett verboten werden sollten. Das Narrativ wurde hundertfach aufgegriffen und verbreitet, was wiederum
einen großen Sturm der Entrüstung auslöste.

Es geht um die Grundlagen unserer Demokratie

Hinter der Debatte stehen zwei Problemfelder, fasst Mirko Lange in seinem Beitrag Winnetou verboten? Wie die stark verzerrte Diskussion die politische Wahrnehmung prägt zusammen: „Einerseits muss klargestellt werden, ob und inwieweit wir als Gesellschaft generell Interessen von Minderheiten berücksichtigen. Man denke nur an die gesamte LGBTQIA+-Szene, die immer selbstbewusster auftritt. Andererseits geht es um die Frage, wie sehr sich diese Minderheiten Gehör verschaffen oder gar Druck ausüben dürfen.

Grundsätzlich ist es ein Ausfluss der Meinungsfreiheit, dass sich auch Minderheiten Gehör verschaffen. Das steht völlig außer Frage. Am Ende steht aber immer die Frage, wie viel Druck durch Kommunikation legitim ist. Die Grenze ist sicherlich dann erreicht, wenn in der öffentlichen Debatte verzerrt und desinformiert wird. Hier beginnt Manipulation.“ Phasenweise war der Begriff „Winnetou“ im vergangenen Spätsommer häufiger
gegoogelt worden als „Inflation“ oder „Strompreis“.

Im September hat Scompler-Gründer Mirko Lange auf dem Kommunikationskongress 2022 in Berlin die
Erkenntnisse aus den Analysen zum angeblichen Shitstorm zur Causa Winnetou vorgestellt. Das Thema ist
allerdings viel größer: „Es geht um systematische Desinformation und Verzerrung – aus politischem Interesse, als Geschäftsmodell und aufgrund von Überforderung. Und damit geht es im Grunde um die Grundlagen
unserer Demokratie“, resümiert Mirko Lange.