lautstark. 27.01.2023

In Schule über Krisen sprechen

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Wir müssen uns Zeit nehmen

Corona, Krieg in der Ukraine, Energiekrise, Inflation – auch Kinder und Jugendliche wissen Bescheid über die Krisenszenarien, in denen wir uns derzeit befinden. Oft bringen sie ihre krisenbedingten Ängste und Sorgen mit in die Schule. Wir haben mit Lehrer Lars-Steffen Meier darüber gesprochen, wie diese Themen in Schule und Unterricht ihren Platz finden können.

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  • Ausgabe: lautstark. 01/2023 | Medien – Kritisch und kompetent konsumieren
  • im Interview: Lars-Steffen Meier
  • Funktion: Lehrer unter anderem für Geschichte an der Wilhelm-von-Humboldt-Gesamtschule in Grevenbroich
  • Interview von: Vanessa Glaschke
  • Funktion: Redakteurin im NDS Verlag
Min.

Wie kann in Schule über die derzeitigen Krisen gesprochen werden?

Lars-Steffen Meier: Zunächst ist es wichtig, dass man den Schüler*innen Gesprächsangebote macht –
unabhängig vom Fach, vom Alter oder von der Schulform. Hierbei gilt es, auf die Bedürfnisse der jeweiligen Lerngruppe zu achten, diese aufzugreifen und vor allem auch ernst zu nehmen. Denn viele Schüler*innen
wissen nicht nur über die jeweils aktuelle Situation Bescheid, sondern sind auch selbst betroffen, zum Beispiel durch eigene Kriegs- und Fluchterfahrungen.

Meine persönlichen Erfahrungen haben gezeigt, dass es sinnvoll ist, von den Fragen und Äußerungen der Schüler*innen auszugehen und diese dann zum Gegenstand des Gesprächs zu machen. Hierbei geht es vorrangig darum, mit Halbwissen, eventueller Desinformation und Vorurteilen aufzuräumen. Methodisch gibt es hierfür sicher keinen Königsweg, vielmehr müssen sich beide Seiten wohlfühlen. Von einer spontanen aktuellen
Stunde bis hin zu größeren Projektphasen ist alles denkbar.

Aus meiner Perspektive des Geschichtslehrers sehe ich allerdings die Fächer der historisch-politischen Bildung wie Geschichte, Gesellschaftslehre oder Politik in einer besonderen Pflicht. Die Curricula dieser Fächer machen es oft möglich, über aktuelle Krisensituationen wie den Krieg in der Ukraine zu sprechen. In diesen Bereich spielt auch das weite Feld der Medienbildung hinein: Schüler* innen müssen in der Lage sein, sich zuverlässig und sicher mit Informationen und Medien jeglicher Art auseinanderzusetzen und diese zu hinterfragen und einzuordnen.

Deshalb plädiere ich dafür, dass wir in Schule und Unterricht eben nicht nur auf Krisen reagieren, sondern auch Präventionsarbeit leisten. Diese besteht aus meiner Sicht darin, dass eine umfassende Medienbildung an allen Schulformen obligatorisch sein muss. Außerdem muss die historisch-politische Bildung einen angemessenen Platz in der Stundentafel haben. Hier sehe ich noch großen Optimierungsbedarf.

Welche Unterstützung brauchen Schüler*innen über einen fachlichen Zugang hinaus, die die Schule ihnen anbieten kann?

Lars-Steffen Meier: Neben dem fachlichen Zugang muss ein angstfreier Raum geschaffen werden: Die Schüler*innen sollten sich sicher fühlen und erfahren, dass ihre Fragen, Ängste und Sorgen relevant sind und ernst genommen werden. Darüber hinaus brauchen Schüler*innen, die aufgrund ihrer Biografie besonders betroffen sind und emotional reagieren, professionelle Ansprechpartner*innen. Ich denke hierbei speziell an Sozialpädagog*innen und Schulpsycholog*innen, die eng mit Lehrkräften zusammenarbeiten. Denn insbesondere in der Bewältigung von Krisensituationen sind multiprofessionelle Teams eine enorme Stütze. Leider mangelt es an vielen Schulen an eben solchen Teams.

Aufgrund des Lehrkräftemangels sind viele Lehrer*innen stark belastet: Wie schaffen Lehrkräfte den Spagat, zu unterrichten, Vertretungsstunden zu übernehmen und mit Schüler*innen über die Krisen zu sprechen?

Lars-Steffen Meier: Das ist eine treffende Feststellung: Die vergangenen krisenbehafteten Jahre haben nicht nur gezeigt, dass die Schulen personell deutlich unterbesetzt sind, sondern auch, dass insbesondere das
Lehrpersonal am Limit arbeitet. Dennoch müssen wir uns Zeit nehmen, um über aktuelle Krisen, Ängste und Sorgen der Schüler*innen zu sprechen. „Zeit nehmen“ meine ich hier wörtlich: Ich bin der Überzeugung, dass curriculare Zwänge auch mal hintanstehen müssen.

Darüber hinaus ist der kollegiale Austausch immens wichtig. Auch wenn jede Lerngruppe und jede*r
Schüler*in individuell betrachtet werden muss, können Materialien und Erfahrungen innerhalb des Kollegiums geteilt werden. Glücklicherweise gibt es auch über das eigene Kollegium hinaus viele sehr gute Unterstützungsangebote. Neben Schulbuchverlagen sind die Bundes- und Landeszentrale für politische Bildung gute Anlaufstellen. Auch viele Lehrkräfte stellen ihr Material oder Materialsammlungen im Netz etwa auf TaskCards oder Blogs zur Verfügung.

Zudem möchte ich noch den Aspekt hinzufügen, dass auch wir Lehrkräfte von solchen Krisen betroffen sind. Auch wir sind vielleicht nicht immer in der Lage, aus dem Stehgreif zu reagieren, sei es aus persönlicher Betroffenheit, fachlicher oder allgemeiner Unsicherheit. Ich finde, es ist in Ordnung, wenn eine Lehrperson sich nicht in der Lage fühlt, mit einer Lerngruppe ein solches Krisenthema zu besprechen. Auch hier ist die Unterstützung in den Kollegien wichtig. Und auch wenn es von Gewerkschaften und den schulpsychologischen Diensten gute Unterstützungs- und Fortbildungsangebote gibt, wünsche ich mir auch an der eigenen Schule Angebote in Form von Coaching oder Supervision für uns Lehrkräfte.